Efeu - Die Kulturrundschau

Hundert edelalte Schmerzensfalten

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24.06.2015. Das beste Format für Musik war die CD, erklärt der Musiker Prurient in The Quietus: Gerade weil sie als Objekt so absolut wertlos war. Die FR staunt über Beweglichkeit und Eloquenz der Martinu-Oper "Julietta". Der New Statesman streift sich ein paar geflügelte Schuhe über. Im Tagesspiegel erzählt Christo, warum man in der Kunst einen langen Atem braucht. Und der Schriftsteller Norbert Hummelt fährt für die NZZ nach Naumburg an der Saale.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.06.2015 finden Sie hier

Musik

Steven T. Hanley (The Quietus) unterhält sich mit dem Musiker Prurient, der dem nostalgischen Vinylhype schon zu Zeiten misstraute, als er noch in einem Plattenladen arbeitete. Sein Standpunkt lässt sich eigentlich auch gut gegen die Streamingkritik in Position bringen: "I actually see it as very materialistic ... When I had a store in the East Village many times someone would come in and ask "do you have this record?" I say "sure" and hand them the CD and they say "oh no, I only buy vinyl" and I say "well that"s your loss then, you"re missing out on this whole enormous spectrum of ideas." Personally I think CDs are the best format in the sense that they are so worthless as physical objects. You really just have to be confronted with the subject matter and the music itself. There"s no kind of material value."

Weitere Artikel: Patti Smith spielte ihr Debütalbum "Horses" von 1975 in der Frankfurter Alten Oper werktreu nach, erzählt ein nur halb gerührter Jan Küveler in der Welt. Für die SZ stattet Jonathan Fischer der HipHop-Akademie in Dakar einen Besuch ab. Daniel Kothenschulte (FR) und Hanns-Georg Rodek (Welt) schreiben zum Tod des Hollywood-Komponisten James Horner. Die Fans schätzen vor allem seinen Soundtrack zu James Camerons "Aliens":



Besprochen werden Jörg-Peter Mittmanns neue Kompositionen "Kontrapunkte" (Freitag), ein Auftritt von Patti Smith (FR) und ein Konzert des Boston Philharmonic Youth Orchestra (Tagesspiegel).
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Bühne


Juanita Lascarro (Julietta), Kurt Streit (Michel). Foto © Barbara Aumüller

Hans-Klaus Jungheinrich kann sich in der FR nach Florentine Kleppers Frankfurter Inszenierung von Bohuslav Martinůs Oper "Julietta" Eleonore Bünings Begeisterungsstürmen in der FAZ nur anschließen. Hier gibt es inbesondere musikalisch einen Schatz zu entdecken: "Kennzeichnend für die "Julietta"-Musik ist ja ihre Beweglichkeit und Eloquenz, der rasche Wechsel zwischen komisch-absurden, ja geradezu albernen Strecken (...) und gefühlvollen Melismen, zwischen klassizistischen Stereotypen und der nostalgischen Schmerzsüße eines warmherzigen Ausdrucksmusikers. Gerade vor dem Hintergrund halber Zitate (...) zeigt sich die Originalität der Martinu"schen Handschrift im unentwegten Flirren und Schweifen eines, der sich in der Musik seiner Zeit als "displaced person" fühlen muss."

Mit einem liebevollen Nachruf verabschiedet Gerhard Stadelmaier in der FAZ den österreichischen Schauspieler Helmut Lohner, der jetzt mit 82 Jahren in Wien gestorben ist: "Er wirkte auf der Bühne oft so, als könne er Becher süßester Galligkeit mit Häubchen von Schlagobers abschmecken, die er dann dem Publikum servierte, das ihm aus der Hand fraß beziehungsweise soff. Der Wiener Publikumsliebling par excellence absolvierte das mit dem müd alerten Eleganzschwung eines Kellners, der in sich die Erregungen eines Dämons mit der praktischen Vernunft eines Schlawiners versöhnte, das ewige Bubengesicht in hundert edelalte Schmerzensfalten zerlegt, umflort vom Abendlandschein mild-grotesker Ironie." Weitere Nachrufe von Alfred Schlienger (NZZ) und Daland Segler (FR).

Besprochen werden Gob Squads an der Komischen Oper Berlin aufgeführtes Roboter-Stück "My Square Lady" (Tagesspiegel), Meg Stuarts "Until Our Heart Stops" an den Münchner Kammerspielen (NZZ) und das in Frankfurt aufgeführte Stück "The Blind Poet" von Needcompany (FR).
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Literatur

Der Schriftsteller Norbert Hummelt erzählt in der NZZ von einer Reise an die Saale, wo er sich in Naumburg auf die Spuren Nietzsches begeben hat. Hier der Anfang: "Die Deutschen schimpfen immer gern auf die Bahn - besonders, wenn wieder die Lokführer streiken. Seltener wird an das ungestörte Landschaftserlebnis gedacht, das man sich durch Bahnfahren immer noch verschaffen kann. Sieht eine Gegend doch kaum je verheißungsvoller aus als auf der Durchreise. Als ich vor Jahren erstmals mit dem Zug durch das Tal der Saale fuhr, fühlte ich mich jedenfalls so, als sei ich geradewegs in einem Märchen gelandet."

Weitere Artikel: Einen dreistimmigen Vortrag aus Bibel, Koran und Tora hörte Ulrike Baureithel (Tagesspiegel) beim Poesiefestival in Berlin. Tilman Krause (Welt), Sabine Rohlf (FR) und Rose-Maria Gropp (FAZ) schreiben zum Tod der Schriftstellerin Gabriele Wohmann.

Besprochen werden unter anderem Anthony Doerrs "Alles Licht, das wir nicht sehen" (FR), zwei Bücher des französischen Filmemachers und Autors Eric Vuillards (NZZ) und Tex Rubinowitz" "Irma" (FAZ, mehr).
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Film

Besprochen werden Marc Brummunds "Freistatt" (ZeitOnline) und Kornél Mundruczós "Underdog", der laut Dietmar Dath (FAZ) dem Vergleich mit den großen Klassikern des Tierhorrorfilms ohne weiteres standhält, und die neue HBO-Serie "The Brink" (FAZ).

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Kunst

Vor 20 Jahren hat Christo den Reichstag in Berlin verhüllt. Deike Diening und Andreas Austilat erzählt der Künstler im Tagesspiegel-Gespräch, mit welcher Beharrlichkeit - 24 Jahre lang Ablehnung bei den offiziellen Stellen! - er an diesem Projekt gearbeitet hat. Außerdem erinnern sich die Tagesspiegel-Feuilletonisten an ihren Sommer vor dem verhüllten Reichtag. Jens Bisky (SZ) sieht in Christos Verhüllung (und dem damaligen Loveparade-Boom) rückblickend den Startschuss für die Verwandlung des Postwende-Berlins in die heutige Hauptstadt der Großereignisse und Sommermärchen.

Weiteres: In der Karlsruher Kunsthalle hat ein zwanzigjähriger Praktikant Zeichnungen von Giovanni Battista Piranesi entdeckt, meldet die NZZ. Annabella Kittel plaudert mit Ellen von Unwerth über deren Aschenputtel-Strecke für das ZeitMagazin.

Besprochen werden die Lee-Miller-Ausstellung in der Wiener Albertina (Welt), im Neuen Berliner Kunstverein ausgestellten Arbeiten des Bildhauers Jimmie Durham (taz), die Barbara-Hepworth-Retrospektive in der Tate Modern (FAZ) und die Frank-Auerbach-Schau im Kunstmuseum Bonn (FAZ).
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Design


Caroline Groves (b.1959) "Parakeet" shoes Leather, silk satin, solid silver talons and heel tips, and feathers England, 2014. Photography by Dan Lowe

Die halbe Welt macht sich gern lustig über die Liebesbeziehung von Frauen zu Schuhen. Schuhe sind eben viel mehr als ein Gebrauchsgegenstand, lehrt die Londoner Ausstellung "Shoes: Pleasure and Pain". Sie sind magische Verwandlungsmittel, erklärt Jane Shilling im New Statesman: "In "My Brilliant Friend", the first novel of Elena Ferrante"s fictional sequence about friendship and identity, the design and making of a pair of shoes offer Ferrante"s joint heroine Lila the tantalising possibility of an alternative future beyond the confines of her Neapolitan ghetto, before the shoes undergo a spiteful metamorphosis into the instrument of her subjection. A belief in the transformative power of footwear is an experience familiar to anyone who has ever felt the mysterious pang of recognition - an alchemical flash, like falling in love - that precedes the reckless purchase of a superfluous pair of shoes. Often it isn"t even necessary to wear the impossible objects: the act of possession is enough."

Frédéric Tcheng zeigt in seinem Dokumentarfilm "Dior und Ich" über die erste Kollektion Raf Simons" für Dior, was kein Magazin jemals wagen würde, meint Dennis Braatz in der SZ. Das offenbart ihm schon die Anfangsszene des Films: "Alles, was Dior tun muss, um zehn Seiten in Paris Match zu bekommen, ist anscheinend, ein Foto vom neuen Designer mit ein paar Models zu liefern. Kein erstes Treffen, keine fleißigen Schneiderinnen, kein Making-of des langen Produktionsprozesses. Zehn Seiten in Frankreichs großer Illustrierten entsprechen immerhin Werbekosten von 369 000 Euro." Und in der Welt ist Anne Waak gerührt: "Während der Probe, als sich draußen die Presse postiert und die Gäste auflaufen, fällt Raf Simons in sich zusammen, kollabiert angesichts der Erwartung, das übergroße Erbe mit dem Zeitgeist zu vermählen. Er flieht aufs Dach, wird endlich von seinen Gefühlen überwältigt - und weint Paniktränen."
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