Efeu - Die Kulturrundschau

Alles war eine warme Decke

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2015. Die Welt feiert Sion Sonos Hip-Hop-Filmmusical "Tokyo Tribe", auch auch wenn es diesmal keinen Tentakel-Sex gibt. In der Presse nimmt der Autor Aleksander Hemon die Selbstlügen der Amerikaner aufs Korn. Die taz amüsiert sich in Kopenhagen mit dem Noise des FE Denning Descension Orchestra. Die Berliner Zeitung wird vor den Bildern Dieter Kriegs blass über unseren Vergeudungswahn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.07.2015 finden Sie hier

Film



Wer sich der fantastischen Filmwelt Sion Sonos aussetzen will, muss einfach akzeptieren, dass es in Japan Dinge gibt, über die wir hier nicht mal nachdenken wollen, erklärt Jan Küveler in der Welt. Tentakel-Sex zum Beispiel. Sono, der fassbindermäßig vier bis fünf Filme im Jahr raushaut, hat jetzt mit "Tokyo Tribe" ein japanisches Hip-Hop-Musical gedreht, dessen Story auf einer zwölfteiligen Mangaserie von Santa Inoue beruht. Es "kommen keine Tentakel vor, jedenfalls nicht, dass ich mich erinnere. Vielleicht zucken noch ein paar auf dem Schneideblock einer alten Marktfrau am Straßenrand. Das ist schwer zu sagen, weil es dauernd regnet, in einer langen Nacht aus Neonfarben und Erdbeben. Und die meisten alten Marktfrauen, die näher ins Bild rücken, tragen Kopfhörer und Sonnenbrillen und legen Hip-Hop auf."

Das Hongkong-Kino orientiert sich zusehends am chinesischen Markt, berichtet Vivienne Chow im Tagesspiegel. Nachlese vom Filmfest München, bei dem unter anderem auch über Sam Fuller in Europa diskutiert wurde. Eine Aufnahme des Gesprächs hat das Festival jetzt online gestellt:



Außerdem: Sven von Reden unterhält sich für den Standard mit Asif Kapadia über ihre Amy-Winehouse-Doku. Besprochen wird der Film in der Welt.
Archiv: Film

Literatur

Der bosnisch-amerikanische Schriftsteller Aleksander Hemon unterhält sich mit Oliver Grimm von der Presse über seinen neuen, bisher nur auf Englisch erschienenen Roman "The Making of Zombie Wars". Er beschreibt "die Selbstlügen, in denen es sich die amerikanische Gesellschaft wattig-weich bequem gemacht hat" und die nach dem 11. September so brutal zerstört wurden: ""In Amerika kann man ein relativ privilegiertes Leben führen. Ich wollte das in meinem Roman auseinander nehmen und sehen, was dann passiert, welcher Wahnsinn ausbricht, wenn so ein privilegiertes Leben aufhört. Auf einer gewissen Ebene ist das wie vor dem 11. September 2001: diese Zuversicht, dass wir den Kalten Krieg gewonnen haben und jetzt die Welt beherrschen werden. Alles war eine warme Decke. Dann passierte 9/11. Und eine Menge Amerikaner verloren komplett ihren Verstand, auch im Weißen Haus.""

Weitere Artikel: Andrea Köhler resümiert in der NZZ den Streit in Amerika um Harper Lees "Go Set a Watchman", ein Vorläufer zum Weltbestseller "Wer die Nachtigall stört". Aram Lintzel fragt sich in der taz, ob man Spiegel-Literaturkritiker und SpOn-Kolumnist Georg Diez als eine Art linken Harald Martenstein auffassen könnte: "Man könnte seine Schreibweise aber auch als ein Symptom eines Journalismus lesen, in dem es mehr auf steile Meinungen ankommt als auf abwägende Urteile." Im Freitag erklärt Bayern-München-Trainer Pep Guardiola, warum er die Gedichte seines Freundes und Landsmannes Miquel Martí i Pol in Deutschland popularisieren möchte. Arno Widmann (FR), Christian Wildhagen (NZZ), Rudolf Walther (taz), Jan Wiele (FAZ) und Hannes Schwenger (Tagesspiegel) schreiben zum Tod des Schriftstellers Gerhard Zwerenz.

Besprochen werden Robert Macfarlanes Buch "Karte der Wildnis" (NZZ), Ulla Lenzes Roman "Die endlose Stadt" (NZZ), Ingram Hartingers Roman "Das verschmutzte Denken" (Standard), Katharina Geisers Roman "Vierfleck oder das Glück" (Standard), Victor Klemperers Revolutionstagebuch aus dem Jahr 1919 (FR), Joachim Lottmanns "Happy End" (Tagesspiegel), Peter Richters "89/90" (Tagesspiegel), Vea Kaisers "Makarionissi oder Die Insel der Seligen" (Tagesspiegel), Yasmina Khadras Kriminalroman "Worauf die Affen warten" (FR) und Alissa Walsers "Von den Tieren im Notieren" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Andreas Rossmann würdigt in der FAZ die große, dem Architekten Eduardo Souto de Moura gewidmete Schau in der Stiftung Insel Hombroich in Neuss: "Auftrumpfenden, auf Einprägsamkeit gerichteten und um Aufmerksamkeit heischenden Gesten verweigert sich [diese] geradezu stoische Architektur. Und fällt sie doch einmal spektakulär aus, dann weil die Topografie, der sie entspricht und die sie dialektisch ergänzt, es vorgibt."

Archiv: Architektur

Bühne

Eberhard Spreng war für den Tagesspiegel beim Festival in Avignon, wo Thomas Ostermeiers "Richard III"-Inszenierung (unsere Zusammenfassung) eingeladen war (in der arte-Mediathek gibt es eine Aufnahme, der allerdings in den ersten Minuten einige fehlerhafte Minuten voranstehen - einfach "vorspulen"). Frederik Hanssen berichtet im Tagesspiegel von den Festivals im österreichischen Burgenland. Nachrufe auf den Tenor Jon Vickers finden wir in der Presse und in der NZZ.

Besprochen werden Thomas Hermanns Musical "Bussi" am Münchner Gärtnerplatztheater mit Marianne Sägebrecht (Welt), Kostas Papakostopoulos" Adaption von Aischylos" "Schutzflehender" beim Welt-Theater-Festival von Art Carnuntum (Standard), Debussy- und Strauss-Premieren bei den Münchner Opernfestspielen (NZZ), die Darmstädte Inszenierung von Luigi Nonos "Prometeo" (SZ) und eine Stuttgarter Bühnenbearbeitung von Hesses "Unterm Rad" (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Sehr glücklich, sehr zufrieden schlendert Julian Weber für die taz durch Kopenhagens Straßen und Venues von einem Konzert des Copenhagen Jazz Festivals zum nächsten: Geborten wird alles von Lady Gaga auf großer Bühne bis zum unter freiem Himmel improvisiertem Noise des FE Denning Descension Orchestra: Diese mixen "einen absolut zeitgemäßen Cocktail aus Feedbackschlaufen, Computergebratzel und Drum-Gehacke. Die Gitarren sägen und die Bläser röhren. Diese Kritik von Jazz mit den Mitteln von Jazz knallt sofort. Hier steht nichts im Dienst von Melodien, andererseits gerät der Noise auch nicht zum Selbstzweck." Auf Youtube gibt es einen Livemitschnitt vom vergangenen Herbst:



Weitere Artikel: Der Philologe Professor Doktor Sven Hanuschek sieht sich für Vice einige deutsche Rap-Texte an und versichert schmunzelnd: alles ganz harmlos witzig. In der FR erinnert Christian Bos an das große Live-Aid-Konzert vor 30 Jahren, bei der Multimillionäre aus der Pop- und Rock-Branche die Armut Afrikas zur eigenen Imagepolitur nutzten: "Just in dem Moment, in dem das Musikgeschäft ein Gewissen entwickelte, wurde es zum ungleich lukrativeren Geschäft." Hier wird "Musik als Lebensform" zelebriert, frohlockt Jan Brachmann in der FAZ nach dem Besuch des Musikfestivals im dänischen Schloss Hindsgavl. Im Tagesspiegel plaudert Ralf Krämer mit Udo Lindenberg.

Besprochen werden das neue Album von Tame Impala (Pitchfork), der Dokumentarfilm "Amy" über Amy Winehouse (FAS), ein Konzert von Soko (Tagesspiegel), das neue Album von Rickie Lee Jones (FAZ) und ein Auftritt von John Hiatt (FR).
Archiv: Musik

Kunst


Dieter Krieg, Kaufen bis zum Tod

"Fleischbatzen, Würste, Fischköpfe und Eierberge": Dieter Kriegs in der Berliner Galerie Friese ausgestellten Bilder sind kulinarisch nicht gerade subtil, bemerkt Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. "Hier schreit einen vielmehr die nackte alltägliche Wahrheit an: Wir kaufen und wir fressen uns zu Tode! ... [Krieg] rückte er all das, was nicht mit Augenmaß und Vernunft, sondern mit einem unerhört barocken Vergeudungswahn auf die Theken und Tische der nimmersatten Republik kam, in den Blick. Übergroß so, dass man beim längeren Hinschauen das Unbehagen des Malers zu seinem ganz eigenen Befremden macht."

Weitere Artikel: Hans-Joachim Müller würdigt in der Welt den Praktikanten, der in der Karlsruher Kunsthalle zwei Alben mit unbekannten Piranesi-Zeichnungen entdeckt hat. Humor hat der Künstler, aber den "großen Bogen" vermisst NZZ-Rezensent Samuel Herzog dann doch in der großen Martial-Raysse-Retrospektive im Palazzo Grassi in Venedig. Im Standard erzählt Olga Kronsteiner am Beispiel von Klimts Porträt der Gertrud Loew-Felsövanyi, wie so ein Bild aus der Öffentlichkeit verschwindet, wenn es erstmal versteigert wurde. Ronald Berg besucht für die taz die Ausstellungen in der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Mons in Belgien.

Besprochen werden die Ausstellung "Photo-Poetics" in der Deutschen Bank KunstHalle in Berlin (taz), der letzte Teil der Ausstellungsreihe "Disputed Landscape" in der Camera Austria in Graz (Standard) und die Fotoausstellung "Brennende Ukraine 1939-1945" im Museum Berlin-Karlshorst (FAZ).
Archiv: Kunst