Efeu - Die Kulturrundschau

Zweite Liga des Kunstbetriebs

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2015. In der NZZ bittet Christian Saehrendt die gestrengen Feuilleton-Gouvernanten von der SZ und FAZ zum Documenta-Tanz. Peter Urban-Halle stellt uns eine große Dichterin vor: die slowenische Lyrikerin Anja Golob. Die taz sieht Amys Absturz zu. Die FAZ bewundert den Bariton Lucile Richardots.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.07.2015 finden Sie hier

Kunst

Die Documenta hat eine schöne sechzigjährige Vergangenheit. Aber hat sie auch eine Zukunft? Oder wird sie demnächst im globalen Biennale-Zirkus untergehen? Diese Frage muss man sich schon stellen dürfen, meint in der NZZ der Kunsthistoriker Christian Saehrendt angesichts der Entscheidung für den neuen Kurator Adam Szymczyk, der die Eröffnung der nächsten Documenta von Kassel nach Athen verlegen will. "Im Ergebnis führt das zu einer Zwangssegregation des Publikums und einer Zwangsprovinzialisierung des Documenta-Standortes Kassel. Es besteht also das Risiko eines selbstverschuldeten Abstiegs in die zweite Liga des Kunstbetriebs, was den Kasseler Verantwortlichen durchaus bewusst sein dürfte." Statt die Sache nun zu diskutieren, habe die "Stadtverwaltung eine feste Wagenburg errichtet und versucht Szymczyk dem Publikum als netten Nerd schmackhaft zu machen, mit Unterstützung von gestrengen Feuilleton-Gouvernanten wie Susanne Höll (Süddeutsche Zeitung) oder Niklas Maak (FAZ), die den "Aufruhr" von "verstörten" Kasseler Politikern und empörten Bürgern als "AfDhaft schrill" geißeln und mahnen: "Etwas weniger Lärm wäre gut."" Saehrendt findet dagegen, lebhafte Diskussion wäre gut

Weitere Artikel: Ronald Berg berichtet in der taz von einer Diskussion in Dessau über das Verhältnis von Kunst und Umweltaktivismus.

Besprochen werden die von Peter Weibel und Bärbel Vischer für die Vienna Biennale kuratierte Ausstellung "Mapping Bucharest - Art, Memory, and Revolution 1916-2016" im Museum angewandter Kunst (MAK) in Wien (Standard), die Galli-Ausstellung im Haus am Lützowplatz in Berlin (taz), die Schau "Who Cares?" im neuen Berliner Kunstraum Bernheimer Company (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Assoziationsraum Wunderkammer" im Historischen Waisenhaus in Halle an der Saale (SZ) und eine Ausstellung im italienischen Mantua über die Beziehung zwischen sozialistischen Realismus und der italienischen Nachkriegskunst (SZ).
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Bühne

In Santes wurde das 1653 für Ludwig XIV. komponierte, von Dirigent Sébastien Daucé ergänzte "Ballet Royal Du Nuit" konzertant aufgeführt, berichtet Jan Brachmann (FAZ), der sich ganz und gar in die Stimme von Lucile Richardot verliebt hat: "Phantastisch, einzigartig, ein Phänomen ... Sie reicht bis in die tiefe Tenorlage, ja, sogar in den mittleren Baritonbereich hinab, ohne die Höhe eines Frauen-Alts einzubüßen."

Hier Richardot mit einer Arie von Marcos Portugal.




Für die FAZ porträtiert Hannes Hintermeier den Regisseur Abdullah Kenan Karaca, der 2020 gemeinsam mit seinem Lehrmeister Christian Stückl die Oberammergauer Passionsspiele leiten wird.
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Film

Der Filmwissenschaftler David Bordwell berichtet auf seinem Blog vom filmhistorischen Festival "Il Cinema Ritrovato" in Bologna. Besprochen werden Thomas Vinterbergs Thomas-Hardy-Verfilmung "Am grünen Rand der Welt" (Welt, FAZ) und der Horrorthriller "Unknown User" (Presse).
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Literatur

Peter Urban-Halle stellt in der NZZ die slowenische Lyrikerin Anja Golob vor, deren Gedichtband "ab und zu neigungen" gerade auf Deutsch erschienen ist: "Ihre Neigungen - so lautet ja ein Wort im mehrdeutigen deutschen Titel - sind handfest und vielseitig. Sie soll Obstbäume beschneiden und mit Werkzeugen umgehen können und sich beim Wein auskennen. Sie ist Tanzdramaturgin und Theaterkritikerin. Vor allem aber ist sie eine große Dichterin. Sie scheut den Begriff noch ein bisschen, nach zwei Büchlein. Aber wer sie nun eine "junge Autorin mit Perspektive" nennt, tut das kein zweites Mal, dann schlägt sie um sich!"

Hier kann man sie beim Wiener Soundspaziergang 2012 erleben:



Atticus Finch - ein Rassist? Kaum größer könnte die Überraschung über Harper Lees 55 Jahre nach "Wer die Nachtigall stört" veröffentlichtem Roman "Gehe hin, stelle einen Wächter" ausfallen. Für den Tagesspiegel sammelt Sarah-Maria Deckert erste internationale Stimmen. In der Berliner Zeitung bespricht den Anne Burgmer das Buch: Im Vergleich zum Vorläufer fehle dem Buch überdies "die Kraft, der inhaltliche Spannungsbogen, die außergewöhnliche kindliche Erzählperspektive, das Identifikationspotenzial, das die Figuren bieten, auch wenn sich Lees großes Erzähltalent hier schon offenbart". In der Welt stellt sich Wieland Freund die Frage, "ob der Klassiker, der aus ihm wurde, 2015 noch als Schullektüre taugt".

Weitere Artikel: In der NZZ berichtet Andreas Kilcher ausführlich über die Entscheidung eines israelischen Gerichts, den Kafka-Nachlass nicht den Erben von Brods Sekretärin Ilse Ester Hoffe, sondern der Israelischen Nationalbibliothek zuzusprechen.

Besprochen werden Vea Kaisers zweiter Roman "Makarionissi" (NZZ), Hartmut Scheibles Essay "Sinnliche Vernunft. Giacomo Casanova in seiner Zeit" (die "aktuell denkbar beste Darstellung zu Casanova, dem Zerrissenen", meint im Standard Alexander Kluy) und Marianna Butenschöns Biografie der Sophie Dorothee von Württemberg, spätere Zarin Maria von Russland (NZZ).
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Musik

Sehr melancholisch bespricht Sven von Reden in der taz Asif Kapadias fast ausschließlich aus persönlichem Archivmaterial bestehende Dokumentation "Amy" über Amy Winehouse, auch wenn er ihn etwas fragwürdig findet: "Da die Zukunft nicht mehr ungewiss ist, wird die Bedeutung der Vergangenheit zur Gewissheit. Klugerweise verzichtet Kapadia auf einen eigenen Off-Kommentar, so behält "Amy" einen Rest von Offenheit, auch wenn der Schnitt immer wieder bestimmte Lesarten ihres Lebens forciert." In der SZ bespricht David Steinitz den Film. Mehr in unserer Kulturrundschau vom 13. Juli.

Auch Zeit-Rezensent Jonathan Fischer ist hin und weg von der Band Mbongwana Star, deren Debütalbum "From Kinshasa" den "Sound eines neuen Kongos" erstehen lässt: "Da erinnern rohe, kratzende Funkgitarren an die Energie des New York der frühen achtziger Jahre. Es ist, als ob der Aufbruchsgeist dieser Zeit, die einer noch ungeformten Popzukunft entgegenfieberte, plötzlich in einer afrikanischen Metropole der Gegenwart seinen Wiedergänger fände." Hier gibt es ein Stück daraus zu hören:



Weitere Artikel: Für Pitchfork porträtiert Corban Goble Kevin Parker von Tame Impala. Ned Raggeett (The Quietus) hat sich nochmals das vor 40 Jahren veröffentlichte Album "Let"s Take It To The Stage" von Funkadelic angehört. Außerdem hat die FAZ Philipp Krohns Reportage über den angeblichen Wertverlust gestreamter Musik online gestellt.

Besprochen werden das Album "Der Weiße Wal" des Bloggers David Denker (taz), das Album "Instrumentals 2015" von Flying Saucer Attack (The Quietus), die zweite CD aus Giovanni Antoninis Zyklus von Hadyn-Aufnahmen (Tagesspiegel), ein Konzert des Violinisten Jonian Ilias Kadesha (Tagesspiegel), Klaus Farins Bandbiografie über die umstrittene Band FreiWild (taz) und in der Spex-Reihe der anlassfreien Rezension die "Original Blödel-Hits" mit u.a. Fips Asmussen ("Wer blödelt, hat es hinter sich", juxt Diana Weis).
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