Efeu - Die Kulturrundschau

Vom Ambra der Abenddämmerung

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2015. In der Berliner Zeitung träumt Mircea Cartarescu von seiner Zukunftsstadt. Gleich drei Isolden verspricht in der Welt Heldentenor Stephen Gould morgen in Bayreuth. Die NZZ sucht politisches Theater in Südafrika und ein kennerhaft kuratiertes Plattenregal. Slate erinnert an den Tag vor 50 Jahren, als Bob Dylan elektrisch wurde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.07.2015 finden Sie hier

Musik

Streaming ist für Proleten, das gehobene Bürgertum pflegt dagegen die ihm so teure Haptik und hat damit Schallplatte und Kassette ein neues Revival beschert, berichtet Aram Lintzel in der NZZ. Damit lässt sich sogar ganz gut verdienen: "Rarität wird simuliert, und nicht nur deshalb ist das Vinyl-Album zum Fetisch neuer Sammelleidenschaften und geschmacksbürgerlicher Distinktion geworden. Ein kennerhaft kuratiertes Plattenregal ist in gewissen Milieus längst zum Statussymbol geworden. So ist immer wieder zu hören, dass bekannte DJ von Kunstsammlern gebeten werden, ihnen gegen Honorar eine schicke Plattensammlung zusammenzustellen. Die 180-Gramm-Reissues sollen dabei eine Wertigkeit vermitteln, die zu den nachhaltigen Lebensstilen des sogenannten neuen Bürgertums passt."

Morgen vor fünfzig Jahren wurde Bob Dylan beim Newport Festival elektrisch. Elijah Wald hat ein ganzes Buch dazu geschrieben: "Dylan Goes Electric! Newport, Seeger, Dylan, and the Night That Split the Sixties." Carl Wilson schreibt dazu in Slate: "Because history is told by the victors, rock lore holds up the Newport tale as the fierce nonconformist standing up to the timid crowd, but on a deeper level it was one nonconformity against another, a dispute about what it meant to rebel."



Julian Weber gleicht in der taz Michelangelo Matos" Beobachtungen in dessen Studie "The Underground Is Massive" (mehr dazu hier und hier) zur amerikanischen House-Musik mit neuen Veröffentlichungen von unter anderem Seven Davis Jr. und Hunee ab. Sein Fazit: "House [weist] musikalisch nach wie vor in die Zukunft. Beständig ist einzig sein Wandel." Auf Youtube liest und diskutiert Matos sein Buch:



Jetzt online ist Christine Lemke-Matwey Zeit-Porträt des Baritons Thomas Quasthoff, der trotz schwerer Contergan-Schädigung als Dirigent debütiert. Was "Fortschritt und Rückschritt zugleich" sei: "Weil es Quasthoffs Behinderung neu sichtbar werden lässt. Weil sich die Physis nicht wie beim Singen von sich selbst ab- und in Klang, in Musik auflöst, sondern in ihrer Eigenart manifestiert."

Weitere Artikel: Für die taz spricht Andreas Hartmann mit Jens Schwan, dem Organisator der kommenden Samstag in Berlin stattfindenden Technoparade "Zug der Liebe", die sich allerdings nicht als Loveparade-Revival verstanden wissen will. Carla Baum stellt in der taz den Rapper Disarstar vor. Besprochen wird das neue Album der Sleaford Mods (Spex).
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Literatur

Am 9. September beginnt das internationale Literaturfestival Berlin. Vorab haben zwölf internationale Autoren Texte zum Thema Zukunftsstadt verfasst. Den ersten, von dem rumänischen Autor Mircea Cartarescu, hat die Berliner Zeitung veröffentlicht. Hier der Anfang: "Auch ich bin Architekt, wie wir alle. Nacht für Nacht habe ich Häuser gebaut. Nicht benutzbare, sinnlose gewissermaßen, allein von mir bewohnte Häuser, aber diese sind intensiver und umfassender bewohnt worden, als es jemals sonst ein Raum wurde. Denn ich war stets selber jener Raum, jede Mauer und jeder Zaun und jedes Tor, auch jeder Mensch, der allein und in Gedanken an den vom Ambra der Abenddämmerung feucht angelaufenen Wänden entlanggeht."

In der NZZ porträtiert Achim Engelberg den deutsch-georgischen Schriftsteller Giwi Margwelaschwili. In Berlin geboren, wurde er bei Kriegsende als 18-Jähriger von den Sowjets erst in ein Lager, dann zu Verwandten in die Sowjetrepublik Georgien geschickt, wo er schrieb, aber nicht veröffentlichen durfte: "Als die Sowjetunion Geschichte wurde, kam die Stunde von Margwelaschwili. 1991 hielt er, 64-jährig, sein erstes literarisches Buch in der Hand. Wie konnte er so lange durchstehen? "Ich habe einen Drang, etwas Eigenes zu schaffen. Dem Fremdbestimmten etwas entgegenzusetzen. Und ich wusste, dass der Sowjetismus untergehen muss.""

Weitere Artikel: Christian Krachts ins Englische übersetzter Roman "Imperium" wird in den USA begeistert aufgenommen, meldet Peter Richter in der SZ: Flavorwire hält das Buch für ein "Melville"sches Meisterwerk" und Biographile spekuliert schon auf eine mögliche Verfilmung: Dieses Buch "liest sich zuweilen wie der beste Werner-Herzog-Film, den Werner Herzog noch zu drehen hat." In der New York Review of Books stellt Eric Christiansen drei neue englischsprachige Bücher über das Mittelalter vor, darunter Johannes Frieds "Das Mittelalter".

Besprochen werden Ulrich Peltzers "Das bessere Leben" (FR), Ta-Nehisi Coates" Essay über Rassismus "Between the World and Me" (Berliner Zeitung), Hans-Jürgen Goertz" Biografie über Thomas Müntzer (FAZ) und Marjaleena Lembckes "Der Bus mit den eckigen Rädern" (SZ).
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Kunst


William Mortensen, from the series "A Pictorial Compendium of Witchcraft", 1926 - 1927

Stephanie Young stellt im Blog Beautiful Decay kurz den Fotografen William Mortensen vor, dessen Fotos aus den Zwanzigern über Hexen ihrer Zeit weit voraus waren: "Mortensen"s practice of creating elaborately staged scenes and technical effects were ahead of their time. They set certain standards and became popular trends in fine art photography still valid today." Die Hexen-Serie ist derzeit in der Ausstellung "Opus Hypnagogia: Trippy Outsider Art" im Morbid Anatomy Museum in New York zu sehen.

Außerdem: Robert Mießner verabschiedet sich in der taz von der Staatsgalerie Prenzlauer Berg, die ihre bisherigen Räumlichkeiten kommendes Wochenende mit einer öffentlichen Demontage verlässt.

Besprochen werden die Schau "Vom Verbergen" im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt (FR), die Ausstellung über "Die 80er" im Frankfurter Städel (Standard) und die Ausstellung "Numen/For Use: Out of Balance" von "Architektur und Tirol" in Innsbruck (Standard).
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Film

Im Interview mit der Welt liebt Michael Douglas die Computertricks, die ihn in "Ant-Man" als 30 Jahre Jüngeren zeigen: "Na, ich könnte eine ganz neue Karriere beginnen. Nochmal die jungen Helden und Abenteurer von damals spielen, für die ich in Wirklichkeit viel zu alt bin. Eine Fortsetzung von "Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten", in der ich keinen Tag älter aussehe als damals - das wäre doch was, oder?

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh gratuliert in der SZ Helen Mirren zum 70. Geburtstag. Besprochen werden Jafar Panahis "Taxi Teheran" (FR, unsere Kritik hier), der Stripperfilm "Magic Mike XXL" (Tagesspiegel, SZ), "Becks letzter Sommer" mit Christian Ulmen (Tagesspiegel), Dietrich Brüggemanns "Heil" (Jungle World) und der neue Marvel-Film "Ant-Man" mit Paul Rudd (Welt, Tagesspiegel, FR).
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Bühne


Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Unter nieselndem Regen wurden gestern die Bregenzer Festspiele mit Marco Arturo Marellis Inszenierung von Puccinis "Turandot" eröffnet. Von einem "wohltemperierten Abend" im Schatten der Chinesischen Mauer im Bühnenbild spricht Frederik Hanssen im Tagesspiegel: "Gute Sommerunterhaltung, Oper für die Massen. ... Mit hohem Schauwert wird im Laufe des Abends das gesamte kollektive Assoziationsfeld zum Thema Fernost durchdekliniert: Feuerkünstler und Kampfsportler sind ebenso dabei wie Fahnen- und Lampionträger." Von der Wucht der Darbietung ist auch Hans-Klaus Jungheinrich (FR) beeindruckt, doch Marelli bleibe "freilich ziemlich eindimensional", wie der Kritiker anhand einer kleinen Exegese von Puccinis Oper darlegt. Lob von FAZ-Rezensentin Eleonore Büning für die Musiker: "Paolo Carignani lenkt die Wiener Symphoniker fast zierlich, ohne Pathos, aber stets mit schönem Brio und, wo nötig, auch mit Wucht durch die Partitur." In der NZZ überzeugt Christian Wildhagen das Konzept, Prinz Calafs Ringen um die märchenhafte Turandot mit Puccinis vergeblichem Kampf um das Schlussduett seiner Oper parallel zu setzen, mehr als seine Umsetzung. "Alles ist soso", urteilt Manuel Brug in der Welt. In der SZ bespricht Michael Stallknecht den Abend, online gibt es eine Bilderstrecke. Heute Abend überträgt 3sat live die zweite Aufführung der Inszenierung.

Heldentenor Stephen Gould, der ab morgen den Tristan in Bayreuth gibt, spricht im Interview mit der Welt über die Arbeit in Bayreuth, wie man sich auf eine Wagner-Rolle vorbereitet und Katharina Wagners Konzept für die Aufführung: "Katharina Wagner hat ein Konzept mit mehreren Isolden, als Symbole dieser Beziehung zu Marke sind Dreiecke wichtig, es gibt eine Todesfigur in Gestalt des Hirten, das fügt sich sehr gut mit meiner Idee einer multidimensionalen Liebe. Ich liebe dich, du liebst mich, wir können uns nicht lieben, können nicht einmal im Tod zusammenkommen. Die Nacht ist Tag, der Tag ist Nacht, das ist kosmisch, es gibt keine Zeit mehr, es gibt nur den vollendeten Kreis."


Athi-Patra Ruga, The Elder of Azania, Performance mit den Studenten des Rhodes University Drama Department. Foto: National Arts Festial, Grahamstown

Politisches Theater
, das sich mit dem Rassismus auseinandersetzt, findet NZZ-Reporter Markus M. Haefliger beim National Arts Festival im südafrikanischen Grahamstown eher selten. Und wenn, sind es alte Produktionen. Doch laut Ismail Mahomed, dem künstlerischen Leiter des Festivals, gibt es politisches Theater nach wie vor, es hat "sich bloß die Thematik verlagert, hin zu Fragen wie Unterdrückung in der Familie, dem (afrikanischen) Stigma der Kinderlosigkeit, Schizophrenie und anderen Behinderungen. Südafrikaner haben einen historisch geschärften Sinn für die Übergänge zwischen individuellen Lebenswelten und den sozialen Verhältnissen, im herrschenden intellektuellen Diskurs geht daher fast alles als "politisch" durch."

Christine Dössel unterhält sich für die SZ ausführlich mit Johan Simons, den scheidenden Intendanten der Münchner Kammerspiele, der mit Nachdruck seine Liebe zur europäischen Kultur unterstreicht und dies auch von anderen einfordert: "Ich verstehe nicht, warum Angela Merkel und andere in der Politik nicht die Chance nutzen, Europa stärker von der Kultur her zu behaupten. Das geschieht viel zu wenig. Das humanistische Ideal Europas ist es nicht, nur eine ökonomische Einheit zu sein."

Weitere Artikel: Sehr begeistert ist FAZ-Rezensent Jan Brachmann von der dem Hinduismus und der indischen Musik gewidmeten "Ouverture Spirituelle" der Salzburger Festspiele: "Wenn dieser große Abend nur Festspiel-"Ouverture" sein soll, dann fragt man sich, was da noch kommen mag." Für die Nachtkritik liest Wolfgang Behrens aktuelle Theatermagazine. In München erkundet Christiane Mudras Straßentheaterstück "Wir waren nie weg" Orte rechtsextremer Gewalt, berichtet Anette Walter in der taz.
Archiv: Bühne