Efeu - Die Kulturrundschau

Dieses schattenhafte Hin und Her!

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27.07.2015. "Tristan und Isolde" ist das Thema Nr. 1. Katharina Wagners Inszenierung wird mit hochgezogenen Augenbrauen aufgenommen: Zu staatstragend, finden die einen. Die anderen sehen interessante Ideen, die ausbaufähig sind. Unumstrittener Held in Bayreuth ist aber Christian Thielemann, dessen herzklopfende Dynamik die FAZ in die Knie zwang. Außerdem: Die taz liest Modeblogs für Dicke.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.07.2015 finden Sie hier

Bühne


Bild: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Ein hoch abstraktes Bühnenbild von Frank Philip Schlössmann. Tristan trinkt nicht den Liebestrank (er liebt Isolde eh schon) und Isolde stirbt nicht den Liebestod (sie wird von Marke in seine Höhle gezogen). Dies sind die drei wichtigsten Ingredienzien von Katharina Wagners "Tristan und Isolde"-Inszenierung, die am Samstag in Bayreuth Premiere hatte. Interessanter Ansatz, fanden die meisten, müsste man aber noch dran feilen:

Katharina Wagner "ist da ein spannendes Rätselarrangement gelungen", schreibt Manuel Brug in der Welt. "Abstrakt, dekonstruiert, diskursiv. Leider kann sie dieses Versprechen in den beiden folgenden Akten dieser schon von Wagner in minimalistischer Beckett-Vorwegnahme zur "Handlung in drei Aufzügen" neutralisierten Opernungeheuerlichkeit nicht halten. Obwohl sie sich größte Mühe gibt, einleuchtende Deutungen offenbart und sich sehr bewusst jedem Hoffnungsschimmer verweigert. Sie zeigt nur eine abgründige Nacht der Liebe." Für Wilhelm Sinkovicz (Presse) war die Inszenierung ein "Schritt in die richtige Richtung ... Immerhin hat man das Gefühl, es ginge drei Akte lang um Tristan und Isolde. Das ist ja heutzutag schon allerhand."

In der NZZ erinnert Christian Wildhagen daran, dass Katharina Wagners Inszenierung in einer jahrzehntealten Tradition steht, "das Werk in abstrakte Gedankenräume zu verpflanzen": Heiner Müller und Christoph Marthaler haben es so gehalten: "Obschon es gegenläufige Versuche gegeben hat - beispielsweise den einer vertiefenden autobiografischen Lesart, die auf Wagners Leben und seine unerfüllte Liebe zu Mathilde Wesendonck im Zürcher Asyl rekurriert -, sucht auch Katharina Wagner ihr Heil im Übertragenen, Zeitlos-Abstrakten, gewürzt allerdings mit ein paar provozierend realistischen Handlungsdetails."

Andere waren weitaus weniger freundlich: Niklaus Hablützel von der taz fand die ganze Aufführung unbefriedigend, weil Inszenierung und Musik nicht zusammenpassten. Wagners Inszenierung sei "staatstragend seriös", rümpft Reinhard Brembeck in der SZ die Nase: "Ihrer götterdämmerungsdunklen Festspieleröffnung haftet in jedem Moment das Kalkül an, die erregten Gemüter beruhigen zu wollen. Das Kalkül geht auf." Udo Badelt sieht das im Tagesspiegel genauso: "Wagner tut niemandem weh. Ein Lob ist das nicht." Katharina Wagner hat "ihre gepflegten Krallen eingezogen", bedauert Eleonore Büning in der FAZ, großes Lob geht dafür an den ersten Musikdirektor in der Geschichte Bayreuths, Christian Thielemann: Der sei in "Spitzenform" und peitsche sein Orchester ordentlich an: "Diese herzklopfende Dynamik! Dieses schattenhafte Hin und Her!" Auch Brembeck sieht Thielemann im übrigen "ein großes Stück weiter in Richtung Vollendung gekommen".

Nebenbei wurde in der Villa Wahnfried noch das Richard-Wagner-Museum nach vielen Jahren endlich eröffnet. Die Eröffnungsrede hielt Nike Wagner, dokumentiert wird sie von der FAZ und es findet sich darin neben vielen Anekdoten auch ein verlockendes Angebot: "Die letzten Wahnfriedkinder - Daphne, Wolf-Siegfried und Nike - erklären sich hiermit bereit, Teile des Museums zu werden, Dauerleihgaben sozusagen, es ist ja so wenig Originalmobiliar vorhanden. Ein bisschen Chemie in unsere Adern, und aufgestellt in Vitrinen, als Exponate - so konserviert wie kostbar. Und wie es in alten Märchen der Brauch ist, dürfen wir nachts lebendig werden, herumgeistern, lärmen und feiern." Klingt doch nach einer 1A-Sitcom im Stil der "Addams Family", die laut Vorspannsong bekanntlich auch in einem Museum spukt.

Mit dem Fernbus ("40 Minuten Verspätung") angereist ist außerdem Schriftstellerin Nora Bossong, die sich im Freitext-Blog von ZeitOnline darüber wundert, "dass die Festspiele nicht nur gesellschaftsfähig sind, sondern geradezu der Inbegriff des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland." In der FAS porträtiert Eleonore Büning unterdessen den "Ring"-Dirgenten Kirill Petrenko.

Soviel zum Grünen Hügel. Weitere Themen: Marc Zitzmann resümiert in der NZZ das Festival d"Avignon. Stefan Schomann berichtet im Tagesspiegel von den Theaterfestspielen in Reichenau. Besprochen werden eine "Herz der Finsternis"-Adaption auf dem Berliner Landwehrkanal durch das Theater der Migranten ("eine Fahrt voller Fragwürdigkeiten", meint Patrick Wildermann im Tagesspiegel) und Stefan Herheims bei den Bregenzer Festspielen aufgeführte Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" (SZ, mehr dazu hier).
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Literatur

Tobias Lehmkuhl schreibt in der Zeit über die Lyrikerin und diesjährige Kleistpreisträgerin Monika Rinck: "Vom hohen Ton zum höhnischen ist es [bei ihr] nicht weit. Ernst und Melancholie stehen gleich neben Witz und Albernheit."

Weitere Artikel: In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Kurt Drawert über Ezra Pounds Zweizeiler "In einer Station der Metro". Rudolf Stumberger (Jungle World) sucht in Lowell, Massachusetts, nach den Spuren von Jack Kerouac. Martin Lhotzky (FAZ) führt durchs Figurenpersonal des österreichischen Kriminalromans. Andreas Koziol (taz) und Sabine Doering (FAZ) schreiben zum Tod des Schriftstellers Ulrich Zieger. Neu auf The Quietus finden sich drei Gedichte der New Yorkerin Emma Wippermann. Und beim Bayerischen Rundfunk kann man den dritten Teil von Burghart Klaußners Lesung aus Victor Klemperers "Revolutionstagebuch 1919" nachhören (die ersten beiden Teile gibt es hier und hier).

Nachrufe auf den Schriftsteller Dieter Kühn schreiben Roman Bucheli (NZZ), Tilman Spreckelsen (FAZ) und Hannes Schwenger (Tagesspiegel).

Besprochen werden Frank Witzels "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" (Jungle World), William Shaws Krimi "Kings of London" (FAZ) und Heinrich Steinfests "Das grüne Rollo" (SZ).
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Film

Der Regisseur David Wnendt hat sich aus der Verfilmung von Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" zurückgezogen. Fatih Akin wird die Regie übernehmen, meldet Hanns-Georg Rodek. Warum Wnendt ausgestiegen ist, weiß er aber auch nicht: "Die wahrscheinlichste Erklärung für die spektakulärste Regieumbesetzung seit langem dürften die berühmten "kreativen Differenzen" zwischen dem Regisseur und seinem Produzenten sein."

Besprochen werden Jafar Panahis "Taxi Teheran" (Zeit, unsere Kritik hier) und Anders Morgenthalers "Um jeden Preis" (FR) und der koreanische, auf DVD veröffentlichte Animationsfilm "The King of Pigs" (SZ, critic.de, artechock).
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Kunst

Die FAZ hat Thomas Ellers Gespräch mit Ai Weiwei und Rose-Maria Gropps Besprechung der Marlene-Dumas-Ausstellung in Basel online nachgereicht. In der NZZ wird die Ausstellung von Haroon Mirza im Museum Tinguely Basel besprochen.
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Musik

In der Jungle World erzählt Uli Krug die Geschichte der Mods. Torsten Groß erinnert in der Spex daran, wie Bob Dylan vor 50 Jahren zur E-Gitarre griff.

Besprochen werden eine vom Tonkünstler-Orchester unter Andrés Orozco-Estrada eingespielte Box mit Brahms-Sinfonien (FR) und ein Konzert des Armida Quartetts (FR).
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Design

Die QueerFashion-Bloggerin Hengameh Yaghoobifarah bietet in der taz einen kleinen Überblick über die Szene der vornehmlich amerikanischen "Fatshion"-Blogs, die mit viel Selbstbewusstsein und Lebensfreude tradierte Schönheitsideale in Frage stellen: Die Wort-Neuschöpfung "Fatshion" löse "den Begriff der "Plus Size Fashion", also der Übergrößenmode, ab. Man fragt sich schließlich: Über welcher Größe? Und warum gibt es keine Untergrößen? ... Modeblogs [hatten] noch vor ihrer Überkommerzialisierung ein hohes Subversionspotenzial, weil sie sich von der elitären Modebranche abgrenzten. Diese dekonstruierende Komponente bleibt nur noch Fatshion-Blogs oder Blogs, die sich auf andere Art mit Körperpolitik auseinandersetzen."

Besprochen werden die Ausstellung "Fast Fashion" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg (FAZ) und eine New Yorker Ausstellung zum Siegeszug der Turnschuh-Kultur (Welt).
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