Efeu - Die Kulturrundschau

Gedichte verlassen die Lauerstellung und schlagen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2015. Böse durchgefallen: Stephan Kimmigs Salzburger Inszenierung des "Clavigo". Die NZZ stellt neue Lyrikbände vor. Der Tagesspiegel bewundert die Algorithmen in Viktoria Binschtoks Kunst. Der Freitag möchte festhalten: Freiwild sind keine Rechtsrockband. Aber eine rechte Rockband.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.07.2015 finden Sie hier

Bühne


Viel zu coole Verhunzungsenergie: Szene aus Stephan Kimmigs "Clavigo". Bild: Salzburger Festspiele / Arno Declair.

In Salzburg wurde mit Stephan Kimmigs Inszenierung von Goethes "Clavigo" die zweite von insgesamt nur drei Bühnenpremieren gegeben (in der Berliner Zeitung zeigt sich Markus Schwering über diese "Schrumpfkur" sehr bekümmert). Kimmig hat in diesem Stück um ein gebrochenes Heiratsversprechen kurzerhand die Geschlechter vertauscht: Clavigo ist jetzt eine Frau, die betrogene Marie ein Mann. Viel Freude hatten die Kritiker damit allerdings nicht. "Ist halt mal die Frau die Karrierebastlerin, bleibt diesmal halt ein Heulsuserich auf der Strecke", notiert ein unbeeindruckter Reinhard Kriechbaum in der nachtkritik. "Der Geschlechtertausch bringt keinen inhaltlichen und erstaunlich wenig emotionalen Mehrwert, auch wenn Susanne Wolff ihren Clavigo mit ausreichend Zwischentönen des Zauderns und des Selbstzweifels ausstattet."

Gerhard Stadelmaier (FAZ) läuft vor Wut zu wahrer Spitzenform auf, sprich: Ihm platzt der Kragen so mächtig, dass er nicht mal Kimmigs Namen drucken lässt. Mit solcherlei Experimenten brauche man ihm ein für allemal nicht mehr zu kommen, insbesondere nicht, wenn es um den "Clavigo" geht, an dem "sich die inhumane Unlust und Schnoddrigkeit, die Verhunzungsenergie, die dumm-assoziative Beflissenheit dessen, was einem gerade durch die Regie-Rübe rauscht, immer schon gerne ausgetobt. Den Gipfel dieser öden, unsäglich langeweilenden, unterirdisch verblödelten Tobsüchtigkeit und Rübenrauscherei hat man aber erst jetzt im Salzburger Landestheater erlebt."

"Die Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin zeigt Pappnasen-Theater mit gekünstelten Verfremdungen", ärgert sich Norbert Mayer in der Presse. Und Christine Dössel von der SZ sah zwar gelegentlich Theaterpoesie aufflackern, doch "gibt sich der Abend viel zu cool, um wahr(haftig) zu sein. Alles so gewollt hier. So performativ hingetrimmt."

Nur Welt-Kunstkritiker Marcus Woeller, als Urlaubsvertretung in Salzburg, fand die Inszenierung eigentlich ganz schlüssig, betrachtet man sie als Parodie auf den Kunstbetrieb: "Wo könnte ein Spiel um Karrieristen, Freiheitsdrang und Ich-Bezogenheit besser stattfinden als auf dem Feld der Kunst? Man weiß nicht, was für eine Art Künstlerin diese Clavigo nun ist. Performerin? Pop-Star? It Girl? Die charmant burschikose Susanne Wolff weiß sie bestens zu verkaufen. Als schickes Model, das wie Lady Gaga über die Bühne fegt."

Besprochen werden Wolfgang Rihms "Eroberung von Mexiko" in Salzburg (FR) sowie Choreografien von Choy Ka Fai und Ian Kaler beim Impulstanz-Festival in Wien (Standard).
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Literatur

Plötzlich lesen alle Lyrik, staunt Roman Bucheli in der NZZ. Und stellt gleich eine Reihe Neuerscheinungen vor. Da geht"s nicht unbedingt um Weltflucht, schließlich hat auch der poetische Einspruch Tradition, versichert er und zitiert aus Uwe Kolbes Gedicht "Herbstlied" in dem Band "Gegenreden": "Darin heißt es: "Gedichte lauern im Morgengrauen und heulen mit dem Wind / sie fetzen die Blätter von den Bäumen, sie tun ihren Job." Das "Herbstlied" endet mit den Worten: "Gedichte verlassen die Lauerstellung und schlagen." Heraus aus der Deckung der schönen Verse!, so lautet die Devise der Dichter und poetischen Enzyklopädisten in diesem Frühjahr und Sommer."

Besprochen werden unter anderen Ulrich Peltzers "Das bessere Leben" (ZeitOnline), William Shaws Krimi "Kings of London" (FR), Stephan Wackwitz" "Die Bilder meiner Mutter" (FR), Albert Sánchez Piñols historischer Roman "Der Untergang Barcelonas" (NZZ), Victor Klemperers "Revolutionstagebuch" von 1919 (NZZ) und Martin Amanshausers Roman "Der Fisch in der Streichholzschachtel" (Standard).
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Kunst

Für ihre derzeit im C/O Berlin ausgestellten Fotoessays lässt sich Viktoria Binschtok durch das Internet treiben, collagiert etwa Ebay-Warenfotos oder sucht per Google-Bildersuche nach ihren eigenen Fotografien ähnlichen Bildern, die sie dann aufeinander bezieht, erklärt Jens Hinrichsen im Tagesspiegel und findet das recht reizvoll: "Indem Binschtok die Bilder aus dem Netz als Vorlage für reinszenierte Fotos verwendet, verwischt die Künstlerin die Spuren der automatisierten Auswahl. Der Netzalgorithmus wird zur Produktivkraft bei der Werkherstellung. Trotzdem bestimmt die Künstlerin, wo es langgeht. Souveränes Surfen statt Untergang im Bildermeer."

In der NZZ berichtet Hoo Nam Seelmann von einer weiteren Variante des derzeitigen Lieblingsspiels der Amerikaner: Wer ist der größte Rassist im Land. Diesmal traf es das Museum of Fine Arts in Boston anlässlich einer Ausstellung von Monets "La Japonaise".


Aus der Ausstellung "Blanc ébène - White ebony", Foto: Patricia Willocq

Besprochen werden eine Brüsseler Ausstellung von Patricia Willocqs Fotoreportage über Menschen mit Albinismus in Afrika (Standard), die Zurbarán-Ausstellung im Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid (NZZ), die Ausstellung "Beauté Congo" in der Fondation Cartier (Welt), gleich drei Ausstellungen des brasilianische Bildhauers Ernesto Neto in Österreich (Standard), die Ausstellung "Photo Poetics" in der Kunsthalle der Deutschen Bank in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "GegenKunst" in der Pinakothek der Moderne in München (taz) und Peter Stephan Jungks Biografie über die Fotografin Edith Tudor-Hart (SZ).
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Film

Patrick Heidmann (Berliner Zeitung) spricht mit Noah Baumbach über dessen neuen Film "Gefühlt Mitte Zwanzig" (unsere Kritik hier).

Besprochen werden die neue Adam-Sandler-Komödie "Pixels", die Andreas Busche auf ZeitOnline gnadenlos aufspießt, die Youtuber-Komödie "Kartoffelsalat - nicht fragen!" (FAZ) und John Macleans Indie-Western "Slow West" (Welt, Presse, FAZ).
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Design


Backstage at the graduate show. Photo: Danit Peleg


Bei Fashionista stellt Dhani Mau eine Kollektion der israelischen Modestudentin Danit Peleg vor, die aus dem 3D-Drucker kommt und äußerst tragbar sein soll: "Peleg"s first challenge - and the main reason why there is so little 3-D printed clothing - was that the materials most commonly used in 3-D printers tend to be very stiff. She eventually discovered FilaFlex, a new filament that is softer and more malleable. She began by creating her pattern on Optitex, a fashion design software, then transferring it to Blender, a 3-D graphic design software. She was able to print sheets of lace-like "textiles," which she then glued together to create the final pieces. The end result looks much less crafty than it sounds - granted, it took her a full nine months."
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Stichwörter: 3D-Drucker, Fashion

Musik

Freiwild - eine gefährliche Rechtsrockband? Geläuterte Ex-Nazis? Oder einfach nur im wesentlichen harmlose patriotische Jungs? Für letzteres macht sich Jugendkulturexperte Klaus Farin in einem neuen Buch stark. Doch dessen entlastenden Gestus findet Klaus Walter im Freitag einigermaßen fatal: Die Band gibt sich "verbündet im homosozialen Raum Rockband, bedroht von den roten Fluten der Frau. ... Wie ihre Idole [von den Böhsen Onkelz] sind Freiwild Helden des White Trash, die Stimme der Modernisierungsverlierer, die auf die ökonomische Globalisierung mit kultureller Reprovinzialisierung reagieren. Freiwild sprechen denen aus der Seele, die sich mit der AfD und Thilo Sarrazin als Opfer sehen: entmündigt von der Diktatur der politisch Korrekten, umstellt von Spielverderbern, enerviert vom Genderwahn, überwacht von der linken Sprachpolizei." Kurz: "Freiwild sind keine Rechtsrockband. Aber eine rechte Rockband."

Außerdem: Helmut Mauró berichtet in der SZ von den Konzerten des Transsibirischen Art-Festivals in Nowosibirsk. In der Welt gratuliert Michael Pilz dem Komponisten Mikis Theodorakis zum Neunzigsten. Christiane Tewinkel (Tagesspiegel), Kai Luehrs-Kaiser (Welt), Helmut Mauró (SZ) und Jürgen Kesting (FAZ) gratulieren dem Tenor Peter Schreier zum Achtzigsten.

Besprochen werden Benjamin Biolays "Trenet" (taz), ein Drone-Konzert mit den Bands Nadja und Sun Worship (taz), ein Konzert von Björk in Barcelona (The Quietus) sowie eine Box mit Led Zeppelins neu gemasterten, letzten Alben "Presence", "In Through the Out Door" und "Coda" (The Quietus, Pitchfork).
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