Efeu - Die Kulturrundschau

Familienfest im Grünen

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11.08.2015. Ohne Zigarette lässt es sich schlecht in einen Technologie-Wissenszustand anno 1966 versetzen, lernt der Standard in einer Ausstellung über die Kollaboration von Ingenieuren und Künstlern. Die taz liegt barfuß auf einer uckermärkischen Wiese und plaudert mit Schriftstellern. Die Musikkritiker heben mit der Doom-Metal-Band Sunn O))) ab in erikative Sphären.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.08.2015 finden Sie hier

Kunst

Im Standard versucht sich Anne Katrin Feßler in einen "Technologie-Wissenszustand anno 1966" zu versetzen, um eine Salzburger Ausstellung "Experiments in Art and Technology" über die Kollaboration von Ingenieuren und Künstlern zu würdigen. Mit mäßigem Erfolg: Es waren einfach so ganz andere Zeiten und vieles kann nur noch in Skizzen präsentiert werden. "Quasi hautnah erleben lassen sich hingegen Jean Dupuys tanzende Farbpigmente, gesteuert von Herz- und Pulsfrequenzen, Lucy Youngs Motorwelle, die ein Stoffband wie eine Fontäne in die Luft spuckt, oder Andy Warhols mit Helium und Sauerstoff gefüllte Silberwolken aus Skotchpak-Material. Robert Whitmans "Solid Red Line" (1967) besteht etwa einzig aus einer sich über alle vier Wände ziehenden Laserlinie. Allerdings zauberte daraus einst der Zigarettenqualm der Besucher eine Ebene aus Licht. Würde man sich heute in einem Museum eine Zigarette anzünden, würde das durchaus auch Prozesse auslösen."

In der Ausstellung wird u.a. Jean Tinguelys "Homage to New York" 1960 gezeigt, bei der ein Maschinenungetüm abgefackelt wurde, bis ein amüsierter Feuerwehrmann eingriff. Auf Youtube findet man Fragmente der Performance:



Mit einigem Groll kehrt FAZ-Kritiker Andreas Platthaus aus Dresden zurück, wo er die über diverse Orte verteilte Ausstellung "Krieg und Frieden" besucht hat. Grund für seinen Ärger: Die Monumentalisierung und Ästhetisierung kriegerischer Gewalt. Die Präsentation "Conflict - Time - Photography" etwa wirkt auf ihn so, "als hätte man die Werke (...) irgendwie auf die Wände im Albertinum bekommen müssen, ohne Sinn und Verstand, ja selbst ohne ästhetischen Anspruch, der über die Präsentation der einzelnen Arbeiten hinausgegangen wäre. Nein, so kann, so darf man es nicht machen, bei diesem Thema schon gar nicht. Plötzlich sind all die Toten vom Krim-Krieg über den Sezessions-, den Deutsch-Französischen, Ersten und Zweiten Welt-, Korea-, Vietnam-, ersten und zweiten Irak-, Afghanistan-Krieg bis zum Bürgerkrieg im Kongo nun auch noch Kanonenfutter im Überwältigungsbombardement moderner Kunst und vor allem moderner Ausstellungsgestaltung."

Sabine Peschel unterhält sich für die Deutsche Welle mit dem UdK-Präsidenten Martin Rennert über die 3-jährige Gastprofessur Ai Weiweis. "Ganz sicher wird er konkret mit Studierenden arbeiten", versichert Rennert. "Das ist sein Hauptinteresse, meines ebenso. Es geht hier nicht um eine Feder, die wir uns an den Hut stecken wollten."

Besprochen werden außerdem die Arno-Rink-Werkschau in der Kunsthalle Rostock ("Jedes Bild ist wie ein vergeblicher Versuch, das Irrationale zu fassen", schwärmt Ingeborg Ruthe in der FR), die Ausstellung "On The Edge" im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität in Berlin (taz) und die Ausstellung "Karikatur - Presse - Freiheit: Honoré Daumier und die französische Bildsatire" in der Staatsgalerie Stuttgart (FAZ).
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Bühne

In Politico hinterfragt John McWhorter die Entscheidung der New Yorker Metropolitan Oper, weiße Sänger für den Othello künftig nicht mehr schwarz anzumalen. Denn schließlich müssten sich schwarze Schauspieler in "weißen" Rollen auch nicht weiß anmalen: "Many would, from this, conclude that we therefore must accept white actors playing black people without makeup. But as tempting as that analysis is in a geometric, complementary kind of sense, I don"t think it goes through. In a society in which the default person is white, having brown skin is the key marker of being black. Yes, we seek to see people for their character, but we are also primates with a visual capacity and an innate cognitive inclination towards taxonomy and xenophobia. Blackness in America is certainly more than tint - but the tint is what everyone, black, white and everything else, can readily see, and always does."

Georg Ringsgwandls bei den Volksschauspielen in Telfs in einer Inszenierung von Susi Weber aufgeführtes Stück "Der Hund, der Hund" ist so hübsch wie an sich unerheblich, meint Christine Dössel in der SZ. Vor allem der "bezaubernden" Schauspielerin Christine Ostermayer ist es zu verdanken, dass der Abend dennoch überzeugte: Diese sei "mit ihren 79 Jahren noch immer eine Schauspielerin von ebensolcher noblen Grazie wie ungerührten Trockenheit. Eine Meisterin der kleinen Gesten, auch eine präzise Spracharbeiterin. Große alte Wiener Schule."
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Design

Sehr bezaubert berichtet Annabelle Hirsch von ihrem Besuch der Jeanne Lanvin gewidmeten Ausstellung im Pariser Palais Galliera: Deren von den 10er bis 30er Jahren entstandene Mode-Entwürfe "wirken, als hätte man sie gerade von den Laufstegen dieser Welt heruntergeholt. Kein bisschen staubig, so gar nicht von gestern."
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Stichwörter: Lanvin, Jeanne, 1930er, 30er

Literatur

Der Betrieb auf WG-Urlaub: Das Literaturfestival "Wortgarten" bot ein sommerliches Idyll in der Uckermark, berichtet Thomas Hummitzsch in der taz: "Selten dürften sich Literaturszene und Publikum unbefangener so nahe gekommen sein. ... Künstler, Verleger und Besucher feierten abseits des Großstadtlärms ein Familienfest im Grünen, das geprägt war von sonniger Leichtigkeit und stiller Landromantik. Sie lagen barfuß auf der Wiese, verfolgten, mit einem Glas Apfelwein in der Hand, gemeinsam die Lesungen und kamen miteinander ins Gespräch. Am Ende blieb bei Besuchern und Veranstaltern der einhellige Wunsch, das Festival möge eine zweite Auflage finden."

Urs Faes sitzt in Umbrien am Strand und meditiert im Logbuch Suhrkamp über den Klimawandel, der zu immer größerem Leserschwund führe. "Und dann dies: Mitten auf der staubtrocken narbigen Wiese am See, wo die Mücken Siesta halten und eine Schaukel an einen Kinderspielplatz erinnert, steht eines Tages auf einem Pfahl ein kleines Häuschen, einem Karnickelstall nicht unähnlich, bunt bemalt, eine strahlende Sonne, Vögel im Flug, kleine Zeichnungen, kindlich verspielt. Besonders schön ist die eine: An der Angel eines Fischers hängt als Köder kein Wurm, sondern ein kleines Buch, und alle Fische des Sees schwimmen herbei, halten ein, andächtig still, wie sie einst dem Heiligen Franz von Assisi lauschten, lesen mit großen Fischaugen."

Weitere Artikel: Hans Christoph Buch besucht für die NZZ einen Literaturstammtisch in Madrid. In Zürich wurde eine verschollene Originalfassung von Arthur Koestlers Roman "Sonnenfinsternis" gefunden, meldet die Presse.

Besprochen werden Dana Grigorceas Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" (Standard), Krisztina Tóths Roman "Aquarium" (NZZ), Alfred Rosenbergs Tagebücher (Zeit), Hans Conrad Zanders "Zanderfilets" (FR), Sascha Rehs "Gegen die Zeit" (SZ) und Matthew Thomas" "Wir sind nicht wir" (FAZ).
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Architektur

In der NZZ berichtet Gabriele Detterer über die Sanierung der Werkbundsiedlung Wien.
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Stichwörter: Sanierungen

Musik

Mit dräuenden Gitarrenwänden, Mönchskutten und Nebelschwaden haben die Drone-Doomer von Sunn o))) Berlin beglückt. Denn "kann es Schöneres geben als endlos ausgedehnte Riffwalzen, wabernde Schleifgeräusche und die Stimme eines Wahnsinnigen, der hallverschleiert über Tod und Teufel meditiert", fragt Volker Lüke im Tagesspiegel und bescheinigt dem Abend, "ein reinigendes Erlebnis" geboten zu haben. Jens Balzer von der Berliner Zeitung schwebt da schon längst in anderen, erikativen Sphären: "Krtldrrrr. Brdlwrmmmmmmmm. Wrroarrrmmmmmm. Quietsch!" Auch Philipp Rhensius ist ganz außer, beziehungsweise ganz bei sich: In der FAZ berichtet er von "körperlichen Überwältigungszuständen", denen er sich willentlich ausgesetzt hat. Doch im erhabenen Rauschen und Dröhnen stecke auch ein zeitdiagnostischer Befund, schreibt er: "Da die Musik keine Höhen und Tiefen, keine Euphorie, aber auch keine Melancholie kennt, gewinnt sie eine seltsam erlösende Kraft, die eine totale Gegenwart, eine Verankerung im Hier und Jetzt erzeugt. Womöglich ist es solche körperliche Identitätsversicherung, was diese Musik für das moderne, von ständiger Erreichbarkeit und digitaler Entkörperlichung fragmentierte Subjekt so attraktiv macht." Bereits gestern brachte die taz Andreas Hartmanns Konzertbericht. Auf Bandcamp gibt es zahlreiche Alben der Band als Stream und Download.

"Gewollt, gewagt - misslungen": Ziemlich schauderhaft findet Harald Keller (FR) eine zweiteilige Arte-Dokumentation über Politik und Pop. In rund 100 gehetzten Minuten, die Keller zufolge offenbar mehr oder weniger alles streifen, was mit dem Thema irgendwie zu tun haben könnte, finden sich lediglich "Stichworte, Anmerkungen und verzichtbare Allgemeinplätze prominenter Gesprächspartner. Die Folge dieser Machart sind Vereinfachungen, die jüngeren Zuschauern falsche Eindrücke historischer Vorgänge vermitteln." Hier der erste, dort der zweite Teil in der Mediathek.

Weiteres: Für The Quietus bringt Robert Barry Portishead-Musiker Adrian Potley und den Synthesizer-Pionier Peter Zinovieff miteinander ins Gespräch. Till Briegleb (SZ) erlebt in den zahlreichen, beim Hamburger Sommerfestival auf Kampnagel gezeigten Produktionen "Pop-Phänomene der unterschiedlichsten Klangmontur". Die Presse annonciert einen neuen Streamingdienst für Klassik: Idagio.com. Die Sounds auf der Gold-Schallplatte, die 1977 als Gruß an Außerirdische mit der Sonde Voyager auf Reise ins All ging, kann man sich nun hier auf Soundcloud anhören, meldet Werner Kranwetvogel im Freitag.



Besprochen werden die Konzerte des Bundesjugendorchesters und des O/Modernt Kammarorkester beim Festival Young Euro Classic (Tagesspiegel).

Und bei Intro stoßen wir auf das neue Video von Joanna Newsom, die bei dieser Gelegenheit auch gleich ihr erstes neues Album seit fünf Jahren ankündigt. Regie führte Auteur Paul Thomas Anderson:

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