Efeu - Die Kulturrundschau

Im Dunst verbleichenden Himmels

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21.08.2015. Die NZZ entdeckt Giacometti in einem winzigen Ort in der Bretagne. Der Schriftsteller Giorgio Fontana erkundet die Peripherie Mailands. In Tokio wurde nach Protesten Zaha Hadids Entwurf für ein neues Olympiastadion geschrumpft, berichtet die SZ. Die Presse hört Gluck und denkt an Guantanamo. Die taz freut sich beim Berliner Atonal Festival auf den interessantesten Menschen der Welt: Tony Conrad.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.08.2015 finden Sie hier

Kunst


Alberto Giacometti, Le Nez. Foto: Thierry Chervel

Über eine wunderbare, "150 Exponate von musealer Güte" umfassende Giacometti-Ausstellung im bretonischen Städtchen Landerneau staunt NZZ-Rezensent Marc Zitzmann: "Wiewohl die Schau zuvörderst dem breiten Publikum einen Werküberblick bieten will, vermag sie auch Kenner anzusprechen und diese dank dem Reichtum des Fonds der Fondation Giacometti mit Neu- und Seltenheiten zu fesseln. So sind in einer - allzu knappen - Evokation von Giacomettis Beziehungen zu Pariser Intellektuellen erstmals sieben nach dem Tod von Paul Eluard 1952 entstandene Zeichnungen zu sehen und zeigt die Sektion "Les états de la sculpture" zwei oder gar drei Zustände ein und derselben Plastik: den originalen, oft bemalten Gips; die für den Abguss angefertigte Kopie; die Bronze. Die drei letzten Kapitel endlich glänzen mit Spätwerken: eine Auswahl radikal monochromer "peintures noires" sowie ikonische Skulpturen wie "La Cage", "Homme qui marche" und zwei restaurierte "Femmes de Venise"."

Weitere Artikel: Allen von Ai Weiweis angeblicher Milde im Umgang mit den chinesischen Machthabern enttäuschten Westlern rät Simone Schmollack in der taz zu mehr Demut: Schließlich versuche Ai, "den Menschen im Westen, die ausschließlich ein Leben in Freiheit kennen, ein Leben in der Diktatur zu erklären." Ai Weiwei ist kein Michael Kohlhaas, und wer will ihn hier dafür verurteilen, sekundiert in der FAZ Thomas Eller: Als chinesischer Künstler ist er ein viel komplizierteres Spiel mit Zensoren gewohnt, als wir es hier verstehen können. Das ZeitMagazin bringt eine Strecke mit Aaron Hueys Fotografien von Native Americans. Katja Kemnitz unterhält sich im Blog kwerfeldein mit der israelischen Fotografin Adi Dekel. Dezeen stellt Installationen auf der Ruhrtriennale vor, daruter ein riesiges Kunstdorf des niederländischen Studios Van Lieshout. Und im Blog It"s nice that stellt Emily Gosling Fotos von Jacob Ehrbahn vor, der Headbanger in Aktion fotografierte!

Besprochen werden die Schau "Verführung. Verlockende Schönheit - tödlicher Reiz" in der Salzburger Residenzgalerie (Standard) und die Ausstellung "Der Barbarenschatz - Geraubt und versunken im Rhein" im Knaufmuseum in Iphofen (SZ).
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Film

Die Digitalisierung der deutschen Filmgeschichte wurde in den vergangenen Wochen und Monaten intensiv diskutiert. Aktuell läuft auf DeutschlandradioKultur eine Sendereihe mit Gesprächen zur Sachlage: Die Interviews, unter anderem mit Bernd Neumann, Rainer Rother und Thomas Heise kann man hier nachhören.

Besprochen werden Peter Bogdanovichs "Broadway Therapy" (FR, mehr in unserem gestrigen Efeu), Özgür Yıldırıms Film "Boy 7" (Presse), die zweite Staffel von Nic Pizzolattos "True Detective" (FR), Antoine Fuquas "Southpaw" (Tagesspiegel, SZ), Özgür Yildirims "Boy 7" (Tagesspiegel), Anna Muylaerts "Der Sommer mit Mamã" (Tagesspiegel), Partho Sen-Guptas "Sunrise" (Tagesspiegel, FAZ) und David Simon neue Serie "Show Me A Hero" (FAZ).
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Design



Shirin Sojitrawalla besucht für die taz die Kostas Murkudis" Ausstellung "Tuchfühlung" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst. Dass Murkudis nicht einfach Mode macht, versteht sich vor den Pinnwänden von selbst: "Seine Frühjahr-/Sommerkollektion 2014 widmete er dem Künstler Franz Erhard Walther, der in den 60er Jahren vom Betrachter auf vielfältige Weise zu benutzende textile Arbeiten schuf. Man sollte, konnte und durfte sie betreten, aufheben, am Körper tragen. Diesen, in Walthers "1. Werksatz" formulierten Anspruch nimmt Murkudis beim Wort, indem er seine eigenen Unikate zu einer Bodeninstallation aus geometrischen Formen arrangiert." (Schade, dass der Museumslink zur Ausstellung nicht funktioniert!)
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Literatur

Jeden Sommer erkundet der Schriftsteller Giorgio Fontana ein Stück der Peripherie Mailands, erzählt er in der NZZ. In diesem Sommer ist es das Vorstadtviertel Affori, das auch einige Bausünden aufzuweisen hat: "Wie könnte man sich im letzten Abschnitt der Via Vincenzo da Seregno auf der Überführung in Richtung Nachbarsviertel Bruzzano jener eigenartig verletzten, gleichsam fotografisch anmutenden Schönheit verschließen: Der Horizont grenzt die Wohnhäuser ab von einem breiten Streifen kompakten, im Dunst verbleichenden Himmels. Und genauso wenig lässt sich die wortlos herausgeschriene Schande des komplett ausgeweideten, verlassenen Gebäudes am Viale Enrico Fermi übersehen. An solchen Orten pulsiert Mailands neues Herz, hier bereitete die Stadt ihre Zukunft vor, auf den Schichten einer Vergangenheit, die, wenn auch weniger glorios als diejenige des Castello Sforzesco, trotzdem Aufmerksamkeit verdient."

Weitere Artikel: In der Zeit sprechen Anne Hähnig und Stefan Schirmer mit Harald Martenstein und Tom Peuckert, die in ihrem Roman "Schwarzes Gold aus Warnemünde" die DDR als reiches Land mit Ölvorkommen wiederauferstehen haben lassen. Im Logbuch Suhrkamp berichtet Andreas Meier weiter von seinem "Jahr ohne Udo Jürgens". Wolfgang Koch schreibt im taz-Blog über Afrika im Gedicht. Dörte Hansens aktueller Bestseller "Altes Land" bedient die Sehnsucht deutscher Großstädter nach dem Land, meint Morten Freidel in der FAZ. Roswitha Budeus-Budde (SZ) spricht mit dem Kinderbuchillustrator Ali Mitgutsch. Außerdem hat die FAZ Andreas Platthaus Lobeshymne auf Sydney Paduas Comic "The Thrilling Adventures of Lovelace and Babbage" online gestellt.

Besprochen werden Ulrich Peltzers "Das bessere Leben" (Jungle World), Katharina Hackers "Skip" (FR), Friedrich Anis "Der namenlose Tag" (FR), Jürgen Theobaldys "Rückvergütung" (Tagesspiegel), Nick Sousanis" in Comicform verfasste Dissertation "Unflattening" (Tagesspiegel) und Rolf Lapperts "Über den Winter" (SZ).
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Architektur

In der SZ bringt Christoph Neidhart Hintergründe zum nach Protesten abgeblasenen Bau von Zaha Hadids Entwurf des neuen Olympiastadions in Tokio. Dieses "hätte mit 300 Meter langen, geschwungenen Längsstreben das Yoyogi-Viertel erdrückt", lautete der Vorwurf der Gegner. "Der Bau müsse sich harmonisch in das Viertel einfügen, das von Parks, Sportanlagen und dem Meiji-Schrein, der Pilgerstätte für den ersten modernen Kaiser, geprägt wird. Damit erreichten sie eine Verkleinerung des Projekts." (Mehr dazu im Guardian)

Und: Jens Bisky bespricht in der SZ Klaus Heinrichs "Dahlemer Vorlesungen: Karl Friedrich Schinkel/ Albert Speer - Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS".
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Bühne


Iphigénie en Tauride, 2015: Rolando Villazón (Pylade), Coro della Radiotelevisione Svizzera, Lugano. Foto: © Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus

Ziemlich beeindruckt kommt Walter Weidringer aus einer Salzburger Aufführung von Glucks "Iphigénie en Tauride". Das liegt auch an der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier, schreibt er in der Presse: "Beim Sturm verlässt sich das Regieduo vor allem auf die klaustrophobische Atmosphäre jenes trostlosen Flüchtlingsbunkers (Bühne: Christian Fenouillat), in dem Iphigénie und die Priesterinnen ihr Dasein bei den fremdenfeindlichen Taurern fristen müssen, die wieder Michael Kraus als im Kern von Angst zerfressener Thoas im Nadelstreif anführt. Der zugespielte Donner verdeutlicht, dass Naturgewalten unheimlicher wirken, wenn man sie nur hört - und das Krachen erinnert durchaus an Bombenangriffe, welche die in diesem Lager Eingepferchten traumatisiert haben mögen. Ein Teil des Publikums will dergleichen weder sehen noch wahrhaben, der Rest stellt betroffen fest: Assoziationen zu alten Bildern aus Guantánamo und neuen aus Traiskirchen werden szenisch nicht forciert, liegen aber auf der Hand."

Weiteres: Astrid Kaminski unterhält sich in der taz mit dem Choreografen Gilles Jobin, der heute beim Berliner "Tanz im August" zu Gast sein wird. Welt-Kirchenexperte Lucas Wiegelmann verzweifelt als Vertreter des Tanzredakteurs in einer Choreografie von Marie Chouinard: "Was bedeutet den Tänzern, was sie da tun? Ob sie früher davon geträumt haben, einmal mit der berühmtem Marie Chouinard zu arbeiten? Was sehen sie, was sehen die Fans, was die Kenner, wo ich nur schwitzende, keuchende, dürre Leiber sehe?"

Besprochen werden die österreichische Erstaufführung von Peter Eötvös" Musiktheater "Der goldene Drache" in Bregenz (Standard) und Amir Reza Koohestanis Stück "Hearing" in Zürich (nachtkritik).
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Musik

Daniel Haaksman beschreibt in der NZZ die Musikszene Afrikas, die sich nach Weltmusik und amerikanischen Rap- und R"n"B-Klischees in den letzten Jahren rapide verändert hat: "In einer Handvoll südafrikanischer Clips lässt sich beobachten, wie Musiker und Musikvideo-Regisseure spielerisch und selbstbewusst mit ihrer Geschichte umgehen. Musiker wie Mafikizolo, DJ Ganyani oder Noizinja kultivieren die Rückbesinnung auf lokale Traditionen, die allerdings ironisch gebrochen werden. Am internationalen Erfolg von Musikern wie Noizinja, der auf dem englischen Elektronika-Label Warp kürzlich eine Single veröffentlicht hat, zeigt sich, dass solche lokale und tribalistische Stilelemente auch ein globales Publikum ansprechen."

Hier was zum Tanzen: Yuri da Cunha aus Angola



Wenn Tony Conrad morgen Abend bei Berlin Atonal erstmals seit über 20 Jahren gemeinsam mit den Krautrockern von Faust eine Bühne betreten wird, steht Diedrich Diederichsen in der ersten Reihe. Denn Conrad, schreibt der Popkritiker in der taz, "ist wahrscheinlich der interessanteste Mensch der Welt. Er war bei allem, was wir aus den letzten 55 Jahren heute relevant finden, dabei; aber immer circa fünf Jahre vor allen anderen. ... Er arbeitet weiter an der Erneuerung der Welt."

The Quietus bringt ein paar wenige, allerdings auch recht unspektakuläre Fotos von Laibachs gestrigem Auftritt in Nordkorea, sowie einige Zeilen vom Geschehen: "Throughout the show the audience was expected to sit quietly, clap politely between tracks and not dance as the Slovenian group played a 45-minute set to 100 non-North Koreans and 1,400 invited locals. ... Kim Jong-un was not present at the show." Die SZ bringt ein kleines Video. In der FR gibt Norbert Mappes-Niediek all jenen Nachhilfeunterricht, die gar nicht wissen, wer Laibach eigentlich ist und was sie mit ihrer Kunst bezwecken.

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel porträtiert Nadine Lange den bosnischen Sevdah-Sänger Božo Vrećo, der in seiner Heimat ein Star ist, obwohl er mit seinen Kleidern und High Heels gegen das konservative muslimische Männerbild verstößt. Apropos schneller Rollenwechsel: In der taz erzählt Lou Zucker, dass die queere Szene Berlins den Tango für sich entdeckt. Brandon Stosuy (Pitchfork) spricht mit der dänischen Postrock-Musikerin Amalie Bruun, die mit ihrem zunächst anonymon betriebenen Projekt Myrkur neue Impulse im Black Metal setzt. T. Cole Rachel (Pitchfork) trifft sich mit Bradford Cox von Deerhunter. Auf The Quietus stellt Tom Furse von The Horrors seine liebsten Exotica-Alben vor. Außerdem bei der Spex aufgeschnappt: Morissey hat sein erstes großes Fernsehinterview seit Jahren gegeben - und zwar keinem geringeren als Larry King. Hier gibt es davon einen Stream.

Besprochen werden die neue EP von FKA Twigs (Pitchfork), Noura Mint Seymalis Auftritt in der Berghain-Kantine (taz, Berliner Zeitung), ein Konzert der Indierockband Augustines (Standard), Mac DeMarcos "Another One" (taz), die 5. Sinfonie von Gustav Mahler mit Andriss Nelsons am Pult in Lucerne (NZZ) und das Konzert des Nationaal Jeugd Orkest Symphony Orchestras bei Young Euro Classic in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Musik