Efeu - Die Kulturrundschau

Der Abstraktionsgrad auf der einzelnen Kachel

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08.09.2015. Der syrische Dichter Adonis ist kein Freund von Assad, aber den religiösen Fanatismus lehnt er eben auch ab, erklärt die FR. Die Welt versucht alte Bücher zu verkaufen. Die NZZ bewundert Majolikaböden in Palermo. Die SZ staunt über die brutale Eleganz, mit der die Biennale in Istanbul über die Leichen im Mittelmeer hinweggeht. Für die taz ist das okay: Bloß keine plakative Politkunst. Die Musikkritiker feiern das flüssig Zuviele in der Musik von Miley Cyrus und den Schizo-Pop von FKA Twigs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.09.2015 finden Sie hier

Literatur

Adonis ist kein Fan von Assad, stellt Martin Gehlen in der FR im Streit um die Verleihung des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises an den syrischen Dichter fest. Er hat immer nur befürchtet, der weltliche Diktator könnte durch eine religiöse Diktatur ersetzt werden: "Schon früh entwickelte sich Adonis zu einem bissigen Gegner jeglicher institutionalisierter Religion. Dem islamischen Klerus warf er vor, einfach nur die Ismen der Vergangenheit wiederzukäuen und das Neue zu fürchten. "Wir leben in einer Kultur, die keinen Raum lässt für Fragen. Sie kennt von vorneherein alle Antworten. Selbst für Gott gibt es nichts mehr hinzuzufügen", spottete er. Die Dominanz dogmatischer Religion und die fehlende Trennung von Politik und Religion sind für ihn die Kernursachen für "die unglückliche Lage der muslimischen Welt"." (Bild: Adonis, 2015. Foto: Harald Krichel / unter CC-BY-SA 4.0-Lizenz bei Wikipedia)

Wer kürzlich versucht hat, in einem Antiquariat Bücher zu verkaufen, wird es bestätigen: Bücher sind praktisch wertlos, trauert Tilman Krause in der Welt. Und das bezieht sich nicht nur auf den Preis: "Die Wertminderung verändert auch unser emotionales Verhältnis zu den mehr oder minder schönen alten Dingen, an denen einmal unser Herz gehangen hat. Wir trennen uns gern von dem, was wir jetzt ganz nüchtern als von Milben und anderem Ungeziefer verunreinigten Papierkram empfinden."

In der FR unterhält sich Sasha Verna mit Martin Amis über dessen Auschwitz-Roman "Interessengebiet", der im Vorfeld von seinem angestammten deutschen Verleger abgelehnt und jetzt von Kein & Aber veröffentlicht wurde. Unter anderem spricht der Autor dabei auch über seine Perspektive auf das "Dritte Reich": "Was mich immer wieder erstaunt, sind die schiere Vulgarität des Nationalsozialismus und die Absurdität des ganzen Unternehmens. Viele Aspekte des Dritten Reiches waren schlicht lächerlich, Slapstick-, Sahnetorte-ins-Gesicht-komisch, clownesk. Der größte Witz war natürlich Hitler selber, dieser österreichische Penner und Analphabet, dem nie ein wahres Wort über die Lippen kam und dem es gelang, sein Scheitern dem gebildetsten Volk der Erde als Stärke zu verkaufen. All dem ist nur mit Satire beizukommen."

Weitere Artikel: Sabine Vogel unterhält sich in der Berliner Zeitung mit dem Schriftsteller Jan Koneffke über dessen neuen Roman "Das Sonntagskind". Wieland Freund (Welt), Lothar Müller (SZ) und Tilmann Spreckelsen (FAZ) schreiben zum Tod von Kinderbuchautor Max Kruse. Außerdem hat die FAZ Feridun Zaimoglus Replik auf Milosz Matuscheks Polemik in der Willkommenskultur-Debatte online nachgereicht.

Besprochen werden Stephen Kings "Finderlohn" (FR), Paula Hawkins" "Girl on the train" (Tagesspiegel), Sascha Rehs "Gegen die Zeit" (Tagesspiegel), Jochen Schmidts "Der Wächter von Pankow" (Berliner Zeitung), Jonathan Franzens Roman "Unschuld" (NZZ)
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Design





Ein begeisterter Axel Christoph Gampp bewundert in Palermo eine Privatsammlung von Majolika-Böden. So modern erscheinen ihm die Muster, dass sich vielleicht endlich auch Kunsthistoriker für diese Spielart interessieren könnten, schreibt er in der NZZ. Von heutigen Innendesignern ganz zu schweigen: "Die Möglichkeiten der Abstraktion, auch die Möglichkeiten zur Abstrahierung, lassen sich im Medium der Matonelle in unzähligen Facetten fassen. Bald wird vom Floralen abstrahiert, bald wird Marmor in flüchtiger Weise imitiert. Der Abstraktionsgrad auf der einzelnen Kachel spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Umstand, dass mehrere von ihnen zu einem größeren Ornament komponiert werden können. In der Regel sind es seit dem 19. Jahrhundert deren vier, die sich meistens zu einer runden oder rhomboiden Form zusammenfügen. Potenziell ist ihr Rapport unendlich..." (Fotos: Stanze al Genio, Facebook)
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Kunst



Die von Carolyn Christov-Bakargiev kuratierte Biennale in Istanbul spaltet die Kritik. Angesichts des von Adrián Villar Rojas aus Naturmaterialien auf Wasser gebauten Bestiariums lebensgroßer Elefanten, Mammuts und Giraffen (Bild oben, hier ein Ausstellungsrundgang bei Youtube, hier dazu ein Interview mit dem Künstler) schaudert es Catrin Lorch in der SZ: Die "brutale Eleganz der Installation" dekoriere "dieselbe Küste, an der täglich die Leichen von Flüchtlingen angeschwemmt werden", meint sie und es dämmert ihr: "Wieder einmal gelingt es der Biennale in Istanbul, sich an einem der spannendsten Orte der Welt politisch zu gerieren - und das Thema präzise zu verfehlen." Denn wo sich die Biennale politisch äußert, tue sie dies in Form sentimentaler Klischees: "Es ist unverständlich, dass man das Potenzial so einer - vom Staat unabhängigen -Ausstellung in einem gefühligen Gewoge aus Tränen und Salzwasser versenkt."

Deutlich näher fühlt sich Lorch ihrem Gesprächspartner Vasif Kortun, dem Direktor der zeitgleich zur Biennale eröffneten Ausstellungsreihe "Salt", die sich unter dem Titel "How Did We Get Here" mit dem politischen Tauwetter der 80er Jahre befasst, das der heutigen, repressiveren Stimmung im Land gewichen ist. Entsprechend wenig positiv klingt sein Gegenwartsbefund: "Niemand weiß, was in den nächsten zwei Monaten geschehen wird. ... [Meine Frau] ist Aktivistin und arbeitet an der Universität, aber jetzt werden Journalisten hier gefeuert. Alle Intellektuellen überlegen zu gehen oder tun es. Wir denken auch darüber nach, die Türkei zu verlassen - oder das öffentliche Leben."

In der taz lässt Ingo Arend dagegen nichts auf Christov-Bakargiev kommen: "Es zeichnet die Istanbul-Biennale (...) aus, dass sie sich in einem Moment äußerster politischer Bedrängnis nicht zu plakativer Politkunst und billigen Gesten hinreißen lässt." Er lobt Christov-Bakargievs "kuratorische Nachhaltigkeit gegen das neoliberale Kuratoren-Prinzip des "Ex und hopp"", nur der Empfang hat ihn leicht verstört: "Wenn Kritik angebracht ist an der Istanbul-Biennale, dann eher, wie sie sich sozial verortet. Denn wenn die Biennale hätte symbolisch Solidarität mit Flüchtenden und Bedrängten demonstrieren wollen, hätte sie ihren VIP-Empfang sicher nicht im noblen Anadolu Club auf Büyükada zelebriert - traditionell Treffpunkt der Istanbuler Upperclass der 60er Jahre."

Besprochen wird eine Ausstellung zum Schaffen des Illustrators Christoph Niemann im MAK in Wien (FAZ).
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Bühne

Astrid Kaminski berichtet in der taz von einer Berliner Diskussionsveranstaltung der Tanzszene über Förderung und Marktkonformität. Besprochen werden Yael Ronens am Maxim Gorki in Berlin aufgeführtes Stück "The Situation" (FR, mehr hier), eine Aufführung von Tennessee Williams" "The Glass Menagerie" am English Theatre in Frankfurt (FR) und Alvis Hermanis" Inszenierung von Gogols "Revisor" am Burgtheater in Wien (FAZ).
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Film


Szene aus Sergei Loznitas Doku über den Putschversuch gegen Gorbatschow 1991, "The Event"

Das Filmfestival in Venedig ist im vollen Schwung - nur der Wettbewerb will nicht recht zünden, schreibt Cristina Nord in der taz, die sich mehr für die außer Konkurrenz gezeigten Dokumentarfilmen interessiert, etwa für Sergei Loznitas "The Event" über den Putschversuch gegen Gorbatschow im August 1991. Angesichts der sich vor dem Rathaus oder der Eremitage versammelten Menschenmassen schreibt Nord: "Es ist eine Situation, die sich, wenn überhaupt, erst aus der Rückschau heraus begreifen und interpretieren lässt. Im Augenblick ihres Geschehens ist sie unübersichtlich und wirr. Wer warum und in welchem Interesse agiert, lässt sich nicht durchschauen - was den Tatendrang der Menge nicht bremst. Spontan bilden sich Kollektive, und Barrikaden werden errichtet. Genau um diese Wirrnis geht es Loznitsa, nicht um Heroismus."

Ähnlich wie Nord interessierten sich Susan Vahabzadeh (SZ) und Verena Lueken (FAZ) mehr für die Dokumentarfilme in Venedig. Sie loben beide Amos Gitais Dokumentarfilm "Rabin, the Last Day" über den Mord an Yitzchak Rabin: Dieser Film "ist eine Hommage an den Mann, der wusste, dass sich Frieden mit Macht nicht erreichen lässt." Im Tagesspiegel bespricht ihn Christiane Peitz. Außerdem schaut Marco Koch schaut im Filmforum Bremen wieder, was sich in der deutschsprachigen Filmblogosphäre tut.
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Musik

Miley Cyrus" neues auf Soundcloud veröffentliches Album treibt die Popkritik weiterhin um. Diedrich Diederichsen verortet das Album in seiner von der FAS online nachgereichten Besprechung in einem vielschichtigen Referenzsystem des Flüssigen, Schmierigen, Überflüssigen, Verschwenderischen, generell flüssig Zuvielen: "In der Pop-Musik ging es immer schon eher um solche feuchten Spuren, Versickerndes, Triefendes. Klar, früher hätte man darauf bestanden, dass diese Spuren unabsichtlich, quasi als Nebensache entstehen und von den Stars sekretiert werden, während sie an der prätentiösen Hauptsache namens Kunst oder Musik arbeiten. Aber man kann dieses Wissen um die affektive Zentralität des nebenbei Entstandenen nicht zurück in die Latenz stopfen. Es liegt ja offen zutage: schön, wenn jemand offensiv damit umgeht." Auch wenn Cyrus für seinen Geschmack "etwas zu viel singt und damit auch etwas zu aufdringlich eine kohärente Person aufbaut". In der taz schiebt Christian Werthschulte voller Verachtung das Album der "millionenschweren Popstar-Tochter" zur Seite.

Für Jens Balzer ist die eigentlich wahrhaft große Popplatte der Saison "M3LL155X", der neuen EP von FKA Twigs. Als "Schizo-Pop" beschreibt Balzer das in der Berliner Zeitung: "In der souveränen Inszenierung der Risse durch das eigene Selbst, in der unendlichen Verspiegelung von Nicht-Ich und Ich ist FKA twigs (...) zur souveränsten Popsängerin der Gegenwart geworden; eine Künstlerin, die weiß, dass jede Art von Autonomie erst aus der selbstbewussten Spiegelung, Verzerrung und Störung "fremder" Bilder und Zuweisungen erwachsen kann. ... Ihre Kunst ist ein Spiegelkabinett unendlich vieler Nicht-Ichs und fakes, in dem die Momente des Ichs und der Echtheit umso schöner und schmerzhafter aufblitzen." Auf den viertelstündigen Kurzfilm, der die Veröffentlichung begleitet, verwiesen wir bereits.

Weitere Artikel: Daniel Dylan Wray (The Quietus) resümiert die Berliner Pop-Kultur. Nana Heymann (Tagesspiegel) trifft den Berliner Rapper Romano.

Besprochen werden ein Konzert von Lutz Häfner und dem European Quintet (FR), die Uraufführung der "Sinfonie für Luzern" des Amerikaners Tod Machover beim Lucerne Festival (NZZ), die Aufführung der mit Musik von Georg Friedrich Haas angereicherten Rumpfversion von Mozarts Requiem bei der Ruhrtriennale (FAZ) und neue Metal-Veröffentlichungen (The Quietus).
Archiv: Musik