Efeu - Die Kulturrundschau

Wie für sich singt dieser Wozzeck

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15.09.2015. Einen fantastischen "Wozzeck" hörten die Musikkritiker in Zürich - Andreas Homokis Inszenierung, das Orchester unter Fabio Luisi und Christian Gerhaher in der Titelrolle, einfach alles war grandios. Atmosphärisch eher Apokalypse funny findet die SZ die Abrisskunst Thomas Hirschhorns in Bremen. Die FAZ gerät mit Salvatore Sciarrinos "Wenn wir erwachen" in das Grenzgebiet zwischen hörbaren und unhörbaren Tönen. Der Standard kapituliert vor "Fack Ju Göhte 2": eine Filmkomödie für die Generation Smartphone.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.09.2015 finden Sie hier

Bühne



Grandios ist dieser "Wozzeck", den Andreas Homoki in Zürich auf die Bühne gestellt hat. Grandios das Orchester unter Fabio Luisi - "Vom allerersten Takt an herrscht eine auch auf dieser Ebene ganz ungewöhnliche Transparenz vor, wird Bergs quasi-sinfonischer Bauplan freigelegt. Immer wieder sind auch orchestrale Momente genüsslich ausgeleuchtet, die ehedem gerade eben als ausführbar galten." Grandios ist das Bühnenbild: "Gelb alles. Wie hölzern, ein wenig schraffiert. Eigentlich immer nur ein Bilderrahmen, auf- und niederfahrend, sich zusammenziehend." Grandios ist die Inszenierung, die mit ihrer Maskerade an den Grand Guignol erinnert: "Es verfängt. Die Tragödie bewegt sich allzeit hautnah an ihrer Parodie entlang, das tödliche Drama touchiert die Satire, die steile expressionistische Gebärde ihre ins Lächerliche driftende Übersteigerung. Vieles gerät hochvirtuos: der Biergarten etwa, der in Sekundenschnelle der Kissenlandschaft der summend schlummernden Soldaten weicht", schreibt Heinz W. Koch in der Badischen Zeitung.

Christian Wildhagen ist in der NZZ nicht ganz so überzeugt von Homokis Konzept: "In der gekonnt plakativen Überzeichnung liegt freilich eine Gefahr: Die Figuren werden durch die Stilisierung in eine geschlossene, für sich bestehende Bühnenwelt entrückt - und gehen uns schon bald nichts mehr an." In der SZ meint dagegen Egbert Tholl: Der Regisseur "treibt die Stilisierung gerade so weit wie nötig, um alle Anflüge von Naturalismus zu vermeiden. Denn damit käme man weder bei Büchners Textfragment noch in Bergs Oper weit. Vielmehr zielt Homoki mit seinen fabelhaften Sängerdarstellern auf das, was Adorno die "Oper des realen Humanismus" nannte: Ein Einzelschicksal wird zum Menetekel einer Welt der Zwänge, der Abhängigkeit und Unfreiheit."

Im TagesAnzeiger singt Susanne Kübler eine Hymne auf den Bariton Christian Gerhaher, der als Wozzeck scheinbar mühelos alles auf eine Linie bringt - "die nach allen Richtungen ausschlagenden Klangcharaktere, die gezackten Intervallfolgen, die liedhaften Motive, die Entwicklung seiner Figur. Gerhaher gestaltet die Partie lyrischer als andere, die gesprochenen oder halb gesprochenen Passagen nimmt er zurück. Auch im Gesang wird nichts expressiv überhöht. Wie für sich singt dieser Wozzeck".

Weitere Artikel: Für die NZZ unterhalten sich Alfred Schlienger und Barbara Villiger Heilig mit Andreas Beck, dem neuen Intendanten am Theater Basel, über seine Pläne.

Besprochen werden außerdem Heinrich Marschners Oper "Hans Heiling" (die Presse-Kritiker Walter Weidringer erkennen ließ, wo Wagner seine Ideen her hatte, Standard) am Theater an der Wien, Leander Haußmanns Brecht-Inszenierung "Der gute Mensch von Sezuan" am Berliner Ensemble ("Ein Abend ohne jeden politischen Biss", ärgert sich Dirk Pilz in der FR), Emanuel Gats Tanzabend "The Goldlandbergs" in Frankfurt (FR), Tilmann Köhlers Dresdner Inszenierung von Shakespeares "Maß für Maß" (Nachtkritik, FAZ), Susanne Lietzows Inszenierung von "Leonce und Lena" auf Schlittschuhen am Linzer Theater Phönix (Standard), und Jonas Hassen Khemiris neues, am Hamburger Thalia aufgeführtes Stück "~~[ungefähr gleich]" (Nachtkritik, FAZ).
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Kunst


Thomas Hirschhorn, Nachwirkung, 2015, Installationsansicht Kunsthalle Bremen. Courtesy: Thomas Hirschhorn / Kunsthalle Bremen - Der Kunstverein in Bremen, Foto: Tobias Hübel

Ziemlich genervt guckt Till Briegleb für die SZ auf die derzeit in Bremen ausgestellte, aus Pappe gebauten Ruinen- und Abrisskunst von Thomas Hirschhorn, den er spöttisch als "Baggerführer Willibald unter den Kunstvagabunden" bezeichnet. Vor allem das Pathos, mit dem Hirschhorn seine "Katastrophen-Bricolage" in Szene setzt, macht den Kritiker schier fassungslos: "Leider ist die konkrete Erfahrung in seinen Räumen doch immer wieder die von einer Theaterkulisse - und von Ironie. Sprechen seine Inspirationsvorlagen von Detonationsschäden und Verfall zwischen Gaza und Detroit und sein Texte über die "geladene und komplexe Aussage einer Ruine", die niemals "unschuldig" sei, so sind die grauen Pappwelten mit ihren absichtlich schief gehängten Bildern atmosphärisch eher Apokalypse funny."

Weitere Artikel: In der NZZ liest Cees Nooteboom das Bild des ertrunkenen syrischen Kindes wie das Christophorus-Gemälde von Hieronymus Bosch. Paul McCarthy erklärt im Interview mit dem Standard, was es mit seiner Installation "Rebel Dabble Babble" auf sich hat, die demnächst an der Berliner Volksbühne zu bewundern ist. In der SZ drückt Joseph Hanimann dem Louvre und dem Rijksmuseum alle Daumen für ihren geplanten Coup, gemeinsam ein Doppelporträt von Rembrandt zu erwerben, das künftig abwechselnd in beiden Häusern gezeigt werde.

Besprochen werden eine Ausstellung von Christian Marclay im Kunsthaus Aarau (NZZ), Gustav Metzgers Zeitungsinstallation "Mass Media - Today and Yesterday" im NBK in Berlin (Berliner Zeitung), Allan Kaprows von der Neuen Nationalgalerie an mehreren Orten in Berlin inszenierte Aktion "Fluids" (Tagesspiegel), die Ausstellung "Arcadia Unbound" im Funkhaus Nalepastraße in Berlin (taz), eine Ausstellung von Ellen Auerbachs und Barbara Klemms Fotografien im Museum de Fondatie im niederländischen Zwolle (FAZ) sowie zwei Ausstellungen im Rahmen des Future Light Projekts in Wien (Standard): die Installation "Loving, Repeating" in der Kunsthalle Wien und die Ausstellung "Escaping Transparency" im Mak.
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Architektur

In Moskau wurde aus dem Haus des Architekten Konstantin Melnikow "endlich" ein Museum gemacht, berichtet Kerstin Holm in der FAZ.


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Design

In der NZZ schreibt Joachim Güntner zum Tod des Schweizer Typografen Adrian Frutiger.
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Film

Regisseur Wolfgang Becker spricht im Interview mit der Welt über seinen neuen Film "Ich und Kaminski" nach Daniel Kehlmanns Roman und die Probleme, die ein Regisseur seines Namens mit Geldgebern hat: "Es ist viel Zeit vergangen, und es sitzen nun ganz andere Leute in den Fördergremien. Für die ist "Good Bye, Lenin!" lange her. Ich habe auch solch einen Allerweltsnamen, den merkt man sich nicht so gut. Tom Tykwer ist ein viel günstigerer Name. Oder Greta Garbo. Oder Wim Wenders. All diese Alliterationsnamen. Ich hingegen heiße oft Werner Becker oder Wolfgang Berger."

Besprochen werden die Hackerserie "Mr. Robot" (Freitag) und "Fack Ju Göhte 2" ("eine Komödie für die Generation Smartphone: Gute wie schlechte Ideen wirbeln wild durcheinander, eine Erzählung gibt es nur noch am Rande, viele Szenen poppen einfach auf und verdünnisieren sich wieder. Vermutlich ist "Fack Ju Göhte 2" damit realistischer als der Großteil des gegenwärtigen deutschen Kinos", meint Bert Rebhandl im Standard).
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Literatur

Im Logbuch Suhrkamp berichtet Heinz Helle aus seiner Jugend, in der er rassistisch ausgegrenzt sein wollte, und hört nebenbei das neue Album von K.I.Z. Für die FAZ hat Lerke von Saalfeld das Lyrikfestival in Czernowitz besucht. Christian Schröder (Tagesspiegel) schreibt zum 125. Geburtstag von Agatha Christie.

Besprochen werden Olivier Adams Roman "An den Rändern der Welt" (NZZ), Adolf Muschgs Roman "Die japanische Tasche" (NZZ), Shumona Sinhas Flüchtlingsroman "Erschlagt die Armen!" (Berliner Zeitung), James Hanleys "Ozean" (Tagesspiegel), Sergio Ramírez" Krimi "Der Himmel weint um mich" (taz), Monique Schwitters "Eins im Andern" (FAZ) und Ilja Trojanows "Macht und Widerstand" (SZ).
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Musik

Bei der Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Komposition "Wenn wir erwachen" beim Beethovensfest in Bonn hörte Josef Oehrlein (FAZ), wie der Komponist alle klanglichen Register zog, um "recht anschaulich das akustische Spektrum [zu beschreiben], dem ein Erwachender ausgesetzt und an dessen Genese er womöglich selbst beteiligt ist. Man kann diese Komposition, ein Auftragswerk des Beethovenfestes, auch als neuerlichen Versuch Sciarrinos deuten, das Grenzgebiet zwischen hörbaren Tönen und der Sphäre des Unhörbaren auszukundschaften. Die akustischen Unzulänglichkeiten der Bonner Beethovenhalle machen es allerdings schwer, dem bis in den letzten Winkel zu folgen."

Weitere Artikel: Wenig alternativ findet Ralf Krämer in der SZ das Lollapalooza-Festival, das am vergangenen Wochenende erstmals auch in Deutschland stattfand. Vom zweiten Abend des Festival berichten Nadine Lange (Tagesspiegel) und Markus Schneider (Berliner Zeitung). Ned Raggett (The Quietus) erinnert an das vor 30 Jahren erschienene Album "Seventh Dream Of Teenage Heaven" von Love and Rockets. Patrick Bahners (FAZ) berichtet vom Klassikfestival am Ammersee, wo er mitunter "über die Erfahrung des unvorbereiteten strukturellen Hörens [staunt], die [der Pianist] Denis Kozhukhin durch plastischen Anschlag und rhythmische Transparenz möglich machte." In der FAZ gratuliert Jürgen Kesting der Sopranistin Jessye Norman zum 70. Geburtstag. Und arte zeigt eine fast zweistündige Doku über die Karriere von James Brown.

Besprochen werden Edward Elgars "Dream of Gerontius" mit den Wiener Philharmonikern unter Simon Rattle als Abschlusskonzert in Lucerne (NZZ), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Matthias Pintscher mit dem Geiger Renaud Capucon (Tagesspiegel), ein Konzert von Bryan Ferry im Zürcher Kongresshaus (NZZ), das neue Album von Low (Pitchfork), das Comeback-Album der Libertines (ZeitOnline, Standard) und die letzte Box aus der Discografie von Unwound (The Quietus), .
Archiv: Musik