Efeu - Die Kulturrundschau

Erotische Normabweichung

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23.09.2015. Der New Yorker stellt The Broad vor, das neue Museum für zeitgenössische Kunst in LA. Akzeptiert die Fluidität eures Körpers, ruft Peaches uns aus der taz zu. Die Welt entdeckt durch Thomas Mann die Vorliebe Theodor Storms für junge Mädchen. In der FR warnt der syrische Autor Yassin Al Haj Saleh vor dem europäischen Zentralismus, der Adonis als Aufklärer vereinnahmen will. Die Zeit kritisiert den Kunstizismus Danh Vos.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.09.2015 finden Sie hier

Architektur


The Broad museum, on Grand Avenue in downtown Los Angeles. Foto: Benny Chan, courtesy of The Broad and Diller Scofidio + Renfro

Im disparaten Los Angeles hat ein neues Museum für zeitgenössische Kunst eröffnet. Gebaut hat es der Milliardär, Philantrop und Kunstsammler Eli Broad, berichtet Peter Schjeldahl im New Yorker. "Few individuals whose surnames aren"t Medici have had such dramatic effect on the art culture of an important city. The new museum crowns a particular passion of Broad"s: to create a cultural center for Los Angeles". Freier Eintritt und Kunst, "die einen Besuch wert ist", sollen dabei helfen.

Tazler Ingo Arend spürt beim Besuch der Ausstellung "The Dialogic City: Berlin wird Berlin" in der Berlinischen Galerie, "dass Berlin auch ganz anders aussehen könnte." In großer Zahl zu sehen gibt es dort nämlich auch unrealisiert gebliebene Entwürfe seit 1991. Leider bleibt die Ausstellung bemerkenswert anschauungsfrei: "Wir sollen uns das künftige Berlin gefälligst selbst denken. Dennoch fehlt der Schau der sinnliche Stimulus dafür. "

Weitere Artikel: In der NZZ begutachtet Gabriele Hoffmann neue städtebauliche Entwicklungen in Stuttgart, die sich mehrheitlich unter dem Begriff "Investorenarchitektur" fassen lässt. Und Kerstin Holm besucht für die FAZ die restaurierte Aalto-Bibliothek im russischen Wyborg.
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Musik

Für die taz spricht Jens Uthoff mit der Berliner Musikerin Peaches, die auch auf ihrem neuen Album "Rub" wieder den Körper und sein öffentliches Bild umkreist. Auch wenn die Bilder in ihren neuen Videos zuweilen krass oder anarchisch verspielt sind, geht es ihr allerdings "nicht darum, transgressiv zu sein", sagt sie. "Es ist sehr wichtig, den eigenen Körper zu verstehen und sich in der eigenen Haut wohl zu fühlen, nicht nur in sexuellem Sinne; egal, wie maskulin und feminin man ist, die Fluidität zu akzeptieren - sodass man sich nicht wie in einem Käfig fühlt." In ihrem ersten Video steigt sie zu diesem Zweck mit der großartigen Kim Gordon in den Wrestling-Ring:



Weitere Artikel: Jens Balzer war für die Berliner Zeitung beim sibirischen Ableger des Berliner CTM Festivals. Julia Spinola resümiert in der NZZ das Musikfest Berlin. In Bremen hat der Kontrabassist Raed Jazbeh das Syrian Expat Philharmonic Orchestra gegründet, meldet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Die De-Bug staunt Bauklötze: Zumindest in den USA nehmen die Einnahmen der Musikindustrie aus dem lange als bloße Liebhaber-Nische abgetanen Vinylmarkt beträchtlich zu und mausern sich zusehends zum relevanten Faktor in der Gesamtbilanz. Außerdem erinnern sich die Redakteure der Berliner Zeitung an die schönsten Berliner Clubs.

Besprochen werden das neue Album "Honeymoon" von Lana Del Rey (ZeitOnline), das neue Album von Kurt Vile, das es bei der Spex als Stream gibt (Pitchfork), das neue Album von Julia Holter (Tagesspiegel), neue Alben von Grischa Lichtenberger und Senking (taz), der Bildband "Nachtleben Berlin - 1974 bis Heute" (Berliner Zeitung) und einige Schönberg-Konzerte beim Musikfest Berlin (FAZ).
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Bühne

Auf Schweizer Bühnen interessiert man sich wieder vermehrt für Männerfiguren, erklärt Katja Baigger in der NZZ. In der Berliner Zeitung bringt Kerstin Krupp ein Update zum Berliner Tänzerstreik am Staatsballett.

Besprochen werden Verdis "Otello" an der Met mit einem weißen Otello (Welt), die Mainzer Einakter "Der Zwerg" von Alexander Zemlinsky und "Gianni Schicchi" von Giacomo Puccini (FR) und Katie Mitchells "Reisende auf einem Bein" in Hamburg (SZ, mehr dazu hier).

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Kunst

Danh Võ liegt voll im Trend, meint in der Zeit Hanno Rauterberg. Dies nicht bloß, weil der dänische Künster derzeit eine Einzel- oder Großraum-Ausstellung nach der anderen bespielt, sondern auch, weil für ihn dasselbe gelte wie für viele andere Gegenwartskünstler: Die Werke seien nicht "kunstvoll", sondern frönen der "Kunstigkeit" oder gleich dem "Kunstizismus", wie der neologismenfreudige Kritiker anmerkt. Für ihn ist Võ "der Übersammler, der Überkurator. Ein Überkünstler leider nicht. ... Obwohl er nichts unversucht lässt, seiner Kunst etwas Zwingendes und Tiefgründiges zu verleihen, wirkt sie doch meist absichtsvoll verrätselt. Und das ist noch immer das wichtigste Merkmal einer kunstigen Kunst. Kunstig ist sie, weil sie sich ihre Bedeutung nur zusammenleiht." (Bild: Danh Võ, We The People, Armpit, 2011-13, derzeit im Museum Ludwig zu sehen, Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln/ Britta Schlier, © Danh Võ)

Weiteres: Nikola Kuhn vom Tagesspiegel führt durch das Programm der Lyoner Biennale, deren Künstler "ein pessimistisches Bild vom modernen Leben" zeichnen.

Besprochen werden eine Ausstellung von japanischen Fotografien aus der Meiji-Zeit im Museum für Fotografie in Berlin (taz), Wolfgang Tilmans Schau PCR in der Galerie David Zwirner in New York (Guardian) und eine Ausstellung über die Künstlerin Élisabeth Louise Vigée Le Brun im Grand Palais in Paris (FAZ).
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Literatur

Bürgern auf Abwegen - genauer: den Abwegen von Thomas Mann und Theodor Storm - widmet sich eine Ausstellung im Lübecker Buddenbrookhaus. Und da kann man einiges lernen, stellt Tilman Krause in der Welt fest: "Tatsächlich ist Thomas Mann der erste Leser Storms, der dessen Vorliebe für junge Mädchen entdeckt, die auch in Storms Liebesleben eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Die eigene erotische Normabweichung ist es also, die Thomas Mann instand setzt, die Devianz beim anderen zu sehen und nicht nur das: Thomas Mann, der im Alter davon sprechen sollte, dass die Empfänglichkeit für die Reize junger Männer den ästhetischen Glutkern seines Werkes bilde, setzt nun auch die pädophile Disposition Theodor Storms in Beziehung zu dessen Oeuvre."

Auch der syrische Autor und kommunistische Dissident Yassin Al Haj Saleh hält die Auszeichnung seines Landsmanns Adonis mit dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis für höchst problematisch: Die säkularistischen Bekenntnisse des Autors seien allenfalls halbgar - statt sich für Frieden und Freiheit einzusetzen, suche er das Bündnis mit den Machthabern, schreibt er in der FR: "Es ist eine Beleidigung des Begriffs Aufklärung, dass Adonis" Obskurantismus, der alles als Mentalitäten interpretiert, "als Aufklärung der arabischen Gesellschaften" betrachtet wird. Ich fürchte, dass dieser Begriff eng mit einem europäischen Zentralismus verbunden ist, der sowohl sich selbst gefällt als auch jenen, die sein Bild widerspiegeln."

Weitere Artikel: In der Welt schreibt Michi Strausfeld zum Tod der "Superagentin der spanischsprachigen Welt" Carmen Balcells. In der NZZ zeichnet Alain Claude Sulzer zum 150. Geburtstag von Max und Moritz ein unbarmherziges Porträt ihres Autors: "Er war ein unzufriedener, einsamer, nachtragender Junggeselle mit Alkoholproblemen, dem auch der Erfolg nicht die erhoffte Ausgeglichenheit beschert hatte." Susanne Nieder besucht für den Tagesspiegel die Schriftstellerin Anke Stelling, die gerade mit "Bodentiefe Fenster" einen Roman über Prenzlauer-Berg-Mütter veröffentlicht hat. Die FAZ bringt einen Auszug aus Peter Kurzecks nachgelassenem Romanfragment "Bis er kommt", das nächste Woche im Stroemfeld Verlag erscheint.

Besprochen werden u.a. Lakshmi Pamuntiaks Roman "Alle Farben Rot" (NZZ), Günter Grass" "Vonne Endlichkait" (NZZ), Briefe des Romanisten Ernst Robert Curtius (NZZ), Kazuo Ishiguros "Der begrabene Riese" (SZ, mehr) und Frederick Forsyths Autobiografie "Outsider" (FAZ).
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Film


Dennis Stock (Robert Pattinson) fotografiert James Dean (Dane DeHaan)

Dennis Stocks Fotografie von James Dean auf dem Times Square zählt zu den Foto-Ikonen des 20. Jahrhunderts. Mit "Life" hat Anton Corbijn, selbst eigentlich Fotograf, einen Film über die Begegnung zwischen Stock und dem Schauspielidol gedreht. Nach misslungenen Filmbiografien über Alfred Hitchcock und Grace Kelly fürchtet David Steinitz in der SZ bereits das Schlimmste, gibt aber rasch Entwarnung: Dieser Film ist nicht bloß ein Biopic, "sondern eben auch eine kleine feine Geschichte über die Kraft der Fotografie." Ein ziemlich gerührter Andreas Kilb preist den Film in der FAZ für sein feines "Gespür (...) für die verfließende Zeit eines Lebens." In der Berliner Zeitung bespricht Gerhard Midding den Film. Auf der Website von Magnum kann man übrigens in Stocks weiteren Dean-Fotografien stöbern.

Auf nach Wien, wo das Österreichische Filmmuseum eine von Perlentaucher-Filmkritiker Lukas Foerster co-kuratierte Filmreihe über das Kino der L.A. Rebellion zeigt, das Neue Schwarze Kino an den Rändern Hollywoods seit den späten 60ern. Zu den Hintergründen schreibt Fabian Tietke in der taz: "Eine der freien Koordinaten ist Charles Burnetts Film "Killer of Sheep", der vor einigen Jahren in restaurierter Form wiederauflebte. Bei der Wiederentdeckung wurde Burnetts Arbeit über das entfremdete Leben eines Schlachthofarbeiters in Los Angeles zu Recht als ein Meilenstein des US-Kinos der 1970er Jahre gefeiert. Als Charles Burnett, der Äthiopier Haile Gerima und Jamaa Fanaka Ende der 1960er Jahre ihr Filmstudium an der UCLA aufnahmen, entstand ein Produktionszusammenhang, der schnell große öffentliche Wahrnehmung fand." Eine der schönsten Szenen aus "Killer of Sheep" gibt es auf Youtube:



Besprochen wird Daniel Harrichs heute Abend im Ersten gezeigter Fernseh-Thriller "Meister des Todes" über illegale Waffengeschäfte in Deutschland (Freitag, FAZ).

Außerdem ein Mediatheken-Tipp: Arte hat Dominik Grafs tollen Porträtfilm "Lawinen der Erinnerung" über den deutschen Fernsehautor und -regisseur Oliver Storz wieder online gestellt.
Archiv: Film