05.10.2015. Ferdinand von Schirachs Stück "Terror" liegt den Kritikern in Frankfurt und Berlin schwer im Magen. Wer will schon Menschenleben aufrechnen? Dissidenz ist keine Schande, hält die SZ dem Museum Folkwang entgegen, das kunsthistorisch übergangene Autodidakten in die Moderne eingliedern will. Die NZZ stellt das Archiv des Prager Fotoateliers Langhans vor. Und wenn die "Hirn-Hengste" des Literarischen Quartetts Weidermann und Biller die Frauen nächstes mal aussprechen ließen, wäre auch die Stuttgarter Zeitung zufrieden.
Bühne, 05.10.2015
"Terror" in Berlin: Timo Weisschnur als Angeklagter Lars Koch. Foto Arno DeclairMit Aufführungen an vierzehn Bühnen und eine angekündigten Verfilmung ist "Terror", das Bühnendebüt von Rechtsanwalt und
Schriftsteller Ferdinand von Schirach, schon jetzt das erfolgreichste Stück der Saison. Mit den Inszenierungen von
Hasko Weber (
am Deutschen Theater in Berlin) und
Oliver Reese (am
Schauspiel Frankfurt) feierte das Stück Doppel-Premiere. Die Handlung ist eine Gerichtsverhandlung über einen Soldaten, der ein Flugzeug mit 164 Menschen abgeschossen hat, um einen terroristischen Anschlag mit 70.000 Toten zu verhindern, am Ende stimmen die Zuschauer als Geschworene ab - sowohl in Frankfurt als auch in Berlin sprachen sie den Soldaten am Premierenabend frei.
Dass sich die Bühnen auf dieses Stück regelrecht stürzen, wundert Peter Laudenbach von der
SZ keineswegs, wird hier doch nochmals Schillers Idee vom Theater als moralische Lehranstalt greifbar. Allein, das Theater bleibt an diesem Abend in
Berlin auf der Strecke: "Die große Kunst des Prosa-Autors von Schirach, die Lakonie und zynismusfreie, sozusagen warmherzige Unsentimentalität seiner Erzählungen, weicht hier einem
Rechthabersound: Die Bühnenfiguren neigen zum ausgiebigen Dozieren im Frontalunterrichtsstil und freilaufender Juristen-Rhetorik. Die Berliner Uraufführung (...) verstärkt die
Schwächen des Stücks fatal."
In der
nachtkritik schmeckte Dirk Pilz an dem Abend rein gar nichts: Das Stück "ein ungemein aufgeräumtes, beflissenes Rechenschieberdrama,
Abteilung Häkelkunst ... Die Regie wirkt, als ließe sich die Vorlage allenfalls achselzuckend abwickeln. Die Schauspieler achselzucken hinterher. Was bleibt ihnen auch anderes übrig. "Terror", das Stück, verbiedert sein Thema zum Frontalunterricht". In der
FAZ geißelt Irene Bazinger den "
Gedankenaustausch auf Schaumgebäckniveau". Buhs und verhaltene Reaktionen auch in den Berliner Blättern: "Das ist
kein Theaterstück, es ist noch nicht einmal ein Prozess", ärgert sich Christian Bommarius (
Berliner Zeitung). Christine Wahl
relativiert im
Tagesspiegel ein wenig: "Seine
Genre-
Ziele erfüllt "Terror" tadellos".
"Terror" in Frankfurt: Nico Holonics, Max Mayer, Martin Rentzsch, Viktor Tremmel, Bettina Hoppe, Constanze Becker. Foto Birgit HupfeldShirin Sojitrawalla war in
Frankfurt, wo das Stück mit einer Aufführung von
Kleists "Zerbrochenem Krug" kontextualisiert wird. Gute Idee,
findet sie in der
nachtkritik, und ein großes Vergnügen, "die Schauspieler in so unterschiedlich konturierten Rollen an zwei aufeinander folgenden Abenden in all ihrer Wandelbarkeit zu erleben. So ließe sich das Doppelprojekt als
Plädoyer fürs Ensembletheater lesen. Dass aber sowohl Richter Adam als auch der Soldat Lars Koch, die beide nachweislich Recht und Gesetz gebrochen haben,
davonkommen, einmal weil es Kleist so wollte, einmal weil es die Zuschauer so entschieden, gibt dann doch zu denken." In der
FAZ urteilt Hubert Spiegel: "Kein großes Theatererlebnis, aber eines, das sich
mit klugem Anspruch auf der Höhe unserer Zeit bewegt, einer Zeit, die sich angewöhnt hat, ihre
Aporien auch jenseits des Theaters nicht weiter tragisch zu nehmen."
Weitere Artikel: Für die
Berliner Zeitung hat sich Ulrich Seidler in aller Ausführlichkeit mit
Johanna Schall, der neuen Nachlassverwalterin des Erbe
Bertolt Brechts, unterhalten, die dabei auch ihre vor kurzem verstorbene Mutter Barbara Brecht-Schall vor deren Nachrufern in Schutz nimmt. Kerstin Krupp
spricht in der
Berliner Zeitung mit der Regisseurin
Andrea Moses über deren (im
Tagesspiegel von Frederik Hanssen wenig begeistert
besprochenen) "Meistersinger"-Inszenierung an der Berliner Staatsoper. In der
NZZ schreibt Marion Löhndorf zum Tod des irischen Dramatikers
Brian Friel.
Besprochen werden
Rainald Grebes in der Schaubühne gezeigte "Westberlin"-Revue (
taz,
Tagesspiegel,
Berliner Zeitung),
Barrie Koskys Inszenierung von
Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" an der Komischen Oper in Berlin (
Tagesspiegel),
Choreografien zum Abschluss des Zürcher Tanzfestivals "Yeah Yeah Yeah" (
NZZ), Arnaud Desplechins Inszenierung von
Strindbergs "Der Vater" an der Comédie-Française (
NZZ), die Uraufführung von
Peter Michalziks "Mannheim Arrival" in Mannheim (
FAZ) und
Calixto Bieitos "Tannhäuser"-Inszenierung in Gent, der es für Michael Struck-Schloens Geschmack (
SZ) an "dramatischem Drive" mangelt.
Kunst, 05.10.2015

Mit der Schau "Der Schatten der Avantgarde" unternimmt das
Museum Folkwang den Versuch,
kunsthistorisch übergangene Autodidakten dem Vergessen zu entreißen und deren Arbeit in die moderne Kunst einzusortieren, erklärt uns Till Briegleb in der
SZ. Insbesondere die Arbeiten der radikalen, von den intellektuellen und ästhetischen Debatten ihrer Zeit weit entfernten Außenseiter
Bill Traylor und
Martin Ramirez findet er dabei im höchsten Maß beeindruckend - auch weil sie "die Absicht dieser schönen Ausstellung sehr anschaulich ad absurdum [führen]. Warum soll man diese ganzen
widerspenstigen Positionen des Eigensinns überhaupt in den Kanon der Moderne eingliedern, wo sie doch so offensichtlich in Opposition zu deren Dogmen standen? Wäre ihnen nicht viel größere Wertschätzung entgegengebracht, wenn man ihre
Dissidenz zu den Behauptungen von intellektueller Überlegenheit, technischer Machbarkeit, funktionellem Design und optimierter Gesundheit betont, mit denen die Moderne es allen recht machen wollte - um allzu oft das Gegenteil zu bewirken?" (
Bild: Séraphine Louis, Les grappes de raisin, um 1928. Collection particulière. Courtesy Galerie Dina Vierny, Paris)
Weitere Artikel: In der
NZZ stellt Anton Holzer das 1880 gegründete
Fotoatelier Langhans in Prag vor, dessen Archivreste nach 1989 aufgespürt werden konnten. Daneben
beschäftigt sich Gabriel Pflückiger generell mit
Künstler-Archiven. In der
Welt freut sich Martina Meister, dass das Rijksmuseum und der Louvre
Rembrandts Porträts des Amsterdamer Kaufmannspaars Maerten Soolmans und Oopjen Coppit
gemeinsam erworben haben und die beiden auch künftig nur gemeinsam ausstellen wollen. Die
Zeit hat
Cees Nootebooms schwärmerischen Text über den derzeit
in Düsseldorf ausgestellten Renaissancemaler
Francisco de Zurbarán (
hier unser Resümee)
online nachgereicht.
Besprochen werden die Schau "
Roots - Contemporary Indonesian Art" im
Frankfurter Kunstverein (
taz), die Ausstellung "Der
dritte Blick" im Berliner
Willy-Brandt-Haus (
Tagesspiegel), die
Ai Weiwei-Ausstellung in der Royal Academy in London (
NZZ), und die Ausstellung der
Turner-Prize-Kandidaten
in Glasgow (
FAZ).
Film, 05.10.2015
In der
NZZ resümiert Urs Bühler das Zurich Film Festival. Dem Kino kommen die
Alltagshelden abhanden, während zunehmend
Fieslinge in den Heldenstand erhoben, fällt in der
SZ Susan Vahabzadeh auf.
Besprochen werden
Ridley Scotts "Der Marsianer" ("inhaltsleerer Genre-Bombast",
ärgert sich Gabriele Summen in der
Jungle World),
Denis Villeneuves "Sicario" (
FR, unsere Kritik
hier),
Lars Kraumes "Der Staat gegen Fritz Bauer" (
Jungle World) und
Matthew Heinemans per Video on Demand veröffentlichter Dokumentarfilm "Cartel Land" über den Drogenkrieg in Mexiko (
SZ).
Literatur, 05.10.2015
Die erste Ausgabe des wiederbelebten "
Literarischen Quartetts"
(
hier online) ist gelaufen, die Reaktionen reichen von okay bis grässlich. Immerhin: Das Konzept funktioniert noch,
notiert freut sich Tim Schleider in der
Stuttgarter Zeitung. Nur etwas kurz ist die Sendung, findet er. "Grundsätzlich müssten zudem die Herren Weidermann und Biller noch mal klären, ob sie Frauen generell für fähig halten, angemessen und interessant über Bücher zu reden; wenn ja, dann sollten sie diesen vielleicht nicht mehr
ständig dazwischen quatschen."
Außerdem dazu: In der
FR fällt Sabine Vogel nur mehr Marcel Reich-Ranickis Einschätzung des Originals ein: "Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar
sehr oberflächlich." Ulrich Gutmair
berichtet in der
taz von guter Laune bei der Aufzeichnung, die in der Ausstrahlung allerdings geradezu lähmend gewirkt habe. Sein Fazit: "
Literaturkritik im Fernsehen gibt es nicht. Fernsehen ist Performance, Mimik, Gestik, Stimmen. Ein paar Punchlines, ein guter Witz. Das alles verdichtet sich beim Zusehen zu einer Emotion. Ist zwar Quatsch, was da eben gesagt wurde, aber die Haltung stimmt, die Frau ist mir sympathisch."
FAZler Michael Hanfeld
staunt unterdessen über die
ansehnliche Quote. Einen guten Überblick über die Reaktionen
bringt der
Buchreport.
Weitere Artikel: Gerrit Bartels
trifft sich für den
Tagesspiegel mit
Publikumsliebling Karl Ove Knausgård. In der
NZZ schreibt Martin Zingg zum Siebzigsten des Dichters
Klaus Merz. Felix Stephan
beschleicht in der
Zeit bei der Lektüre von
Lukas Hartmanns neuem Buch ein schlimmer Verdacht: Schreibt der Schweizer Bestsellerautor etwa "immer denselben" Roman?
Besprochen werden u.a.
Umberto Ecos "Nullnummer" (
Freitag),
Mikis Wesensbitters Wenderoman "Wir hatten ja nüscht" (
ZeitOnline),
Hartmut Langs "Der Blick aus dem Fenster" (
Tagesspiegel),
Zeruya Shalevs "Schmerz" (
Tagesspiegel) und
Rolf Lapperts Roman "Über den Winter" (
NZZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie der
FAZ schreibt Ruth Krüger über
Walt Whitmans Gedicht "Stadt der Orgien":
"Stadt der Orgien, Promenaden und Freuden,
Stadt, die ich, in deiner Mitte lebend, besang und einmal berühmt machen werde.
..."
Musik, 05.10.2015
In der
NZZ untersucht Alexander Odefey den künstlerischen Ertrag der
Berlin-Reisen Bachs. In Darmstadt befasste sich eine Konferenz mit dem Thema
Jazz und Gender,
berichtet Franziska Buhre in der
taz. Jochen Arntz
erinnert sich in der
FR daran, wie das Popbusiness die
Wiedervereinigung vor 25 Jahren musikalisch verkitschte. Josef Engels
feiert in der
Welt den Jazzer
Michael Wollny. Reinhard Kager resümiert in der
FAZ das
Klangspuren-Festival
in Tirol.
Besprochen werden das von
Marek Janowski dirigierte Einheitskonzert des
Rundfunk-
Sinfonieorchesters Berlin (
Tagesspiegel)
und ein Konzert aus der Abschiedstour des
Artemis-
Quartetts ("An diesem Abend wachsen etliche Menschen über sich hinaus", staunt Eleonore Büning in der
FAZ).