12.10.2015. In der NZZ erklärt die indonesische Schriftstellerin Ayu Utami, wie sie nur aus der Literatur die Geschichte ihres Landes begreifen konnte. Außerdem erklärt uns die NZZ mit Chamisso die indonesische Gedichtform Pantun. Die FAS stellt das Literaturland Indonesien als Hort der Vielfalt vor. Oskar Roehler packt in der FAS die Wut. Shakespeares kurvenreichen "Kaufmann von Venedig" fand der Tagesspiegel in der Münchner Inszenierung von Nicolas Stemann eher flach.
Film, 12.10.2015
Szene aus Lee Ji-sangs "The Battle of Gwangju"Beim Filmfestival im südkoreanischen
Busan registriert Sören Kittel (
Welt) eine umfassende,
Han genannte Traurigkeit in vielen Filmen: "Ein Mädchen stirbt an Krebs und filmt die letzten Monate mit ihrer Heimkamera ("Recording"); ein Mann sieht einen Mord von seinem Dach aus und kann sich danach nicht verzeihen, tatenlos zugesehen zu haben ("Alone"); 34 Jahre nach dem
realen Massaker in Gwangju kommen die Einwohner der Stadt noch immer nicht zur Ruhe ("The Battle of Gwangju"). Besonders letzterer Film ist voller "Han", weil die Ursache der Traurigkeit - die Hunderte Toten - nicht wegzudiskutieren sind oder rückgängig gemacht werden können. Es gibt viele Monumente in der ganzen Stadt Gwangju mit traurigen, übermenschengroßen Statuen, aber die Aufarbeitung ist nicht abgeschlossen, das
Leid noch spürbar." Für die
taz berichtet Fabian Kretschmer vom Festival und beobachtet dabei gespannt, "wie Südkorea den
gesellschaftlichen Teppich im Kino lüftet."
Gerade auch vor dem Hintergrund des aktuellen Westberlin-Nostalgie-Booms
empfiehlt Detlef Kuhlbrodt in der
taz den Berlinern, sich nochmal
Lothar Lamberts "Die Liebeswüste" von 1986 anzusehen, den das
Berliner Brotfabrikkino derzeit wiederaufführt: "Der Film zeigt
ein anderes,
versunkenes West-
Berlin, nicht das, was so optimistisch, als Fortschrittsgeschichte irgendwie auch
in "B-Movie" gezeigt wurde. Ein Westberlin, in dem das Scheitern nicht zur Chance umgedeutet wird, außenseiterische Protagonisten, die auf ihrer Suche nach Liebe/Sex scheitern.
Hilfloses Pathos des Dennoch."
Außerdem: Katrin Schregenberger
stellt in der
NZZ das Disney-Research-Lab in Zürich vor, das gerade in einer
Ausstellung zeigt, wie man
virtuelle Gesichter erzeugt. Und im nachträglich online gestellten
Zeit-Essay
mäandert Georg Seeßlen um die Frage, warum
Tiere im Film so populär sind: "Wahrscheinlich ist das Tier
als Metapher offener und widersprüchlicher, es sieht immer so zurück, wie es angesehen wird, nur etwas wilder, etwas unvernünftiger. Zugleich einfach deutbar und doch darin höchst widerspenstig wie in Alfred Hitchcocks "Die Vögel"."
Besprochen werden die Ausstellung "Abgedreht" über den Filmarchitekten
Chaim Heinz Fenchel im
Centrum Judaicum in Berlin (
taz), "Picknick mit Bären" mit
Robert Redford und
Nick Nolte (
Berliner Zeitung),
Kurt Langbeins Dokumentarfilm "Landraub" (
ZeitOnline),
die zuerst in den USA ausgestrahlte RTL-Serie "Deutschland 83" (
FAZ),
Pedro Costas "Horse Money" (
SZ) und
P.
T.
Andersons beim VoD-Anbieter
Mubi Premiere feiernde Musikdoku "Junun" (
SZ).
Literatur, 12.10.2015
Buchmessenwoche! Gastland ist Indonesien. Sabrina (14), ist Straßenkünstleriin im KRL Economy Jabotabek commuter train", schreibt Danumurthi Mahendra zu einer Straßenszene aus Jakarta, die er unter CC-Lizenz bei Flickr online stellte.
Im Schwerpunkt Indonesien der
NZZ erzählt die Schriftstellerin
Ayu Utami, selbst als Kind von der Propaganda der Regierung
gegen die Kommunisten in den Sechzigern geprägt, wie sehr die blutigen Ereignisse die Literatur ihres Landes beschäftigen: "Ich erlebte die
Literatur zur Zeit des Militärregimes als
wichtige alternative Geschichtsquelle. Es gab noch kein Internet. Die Information unterlag strenger Kontrolle. Von Kind auf indoktriniert, wie ich war, wurden meine Augen erst durch
Umar Kayams Erzählungen für die dunkle Seite von Indonesiens Geschichte geöffnet, obwohl diese Texte in den Neunzigern, als ich sie las, schon bald zwanzig Jahre zurückdatierten. Diese Erfahrung machte mir auch bewusst, wie wichtig Literatur sein kann. Sie bewahrt Erinnerungen. Und Erinnerungen sind mehr als nur Daten und Information; sie sind mit Gefühlen und Bedeutung gesättigt."
In der
FAS beschreibt Florian Balke Indonesien als
Literaturland so: "Dass Indonesien ein
Hort der Vielfalt ist, sagt es sich vor, seit es im jahrzehntelangen Kampf gegen die Niederländer einen einigenden Nationalismus entwickeln musste, der zu den vielen kulturellen und religiösen Unterschieden des Landes seitdem in einem
spannungsvollen Verhältnis steht."
Berthold Damshäuser
stellt uns in der
NZZ, mit einer Reihen von Lektüreempfehlungen die
moderne indonesische Lyrik vor, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu formen und mit der Unabhängigkeit und der Deklaration des Malaiischen zur "Bahasa Indonesia" zu festigen begann. Die Traditionen blieben dennoch präsent: "Zu nennen ist insbesondere das
Pantun, eine Gedichtform, die Adelbert von Chamisso im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat. In seiner klassisch-malaiischen Variante handelt es sich hierbei um eine
Quartine, deren Zeilenpaare durch parallele Lautfolgen und Satzstrukturen miteinander verbunden sind. Die Parallelität von sachlicher Naturdarstellung und Gefühlsausdruck wurde zum Prinzip der Pantun-Tradition. Folgendes Beispiel einer deutschen Übersetzung macht dies deutlich: "Bald Regen fällt, / bald Sonne scheint; / Es lächelt einst, / wer jetzo weint.""
Die
Sonntagsfaz hat auf zwanzig Seiten Schriftsteller gebeten, sich zum
Thema Wut zu äußern. Online lesen kann man den
Text von
Oskar Roehler, der seine irrsinnigen Wutanfälle als junger Mann beschreibt, die - im zweiten Teil seines Textes - einem banalen Sarkasmus gewichen sind. Also lieber ein Zitat über die Wut: "Einmal rannte ich über die Stadtautobahn, vor Wut darüber, dass ich meinen künstlerischen Ausdruck nicht fand. Einmal, ich war schon stockbesoffen, hätte es aber noch aufs Klo geschafft, blieb ich aus reiner Verweigerungshaltung auf meinem Barhocker sitzen und
schiss und urinierte gleichzeitig in die Hose. Man musste mich wegtragen. Freiwillig ging ich nie."
Weitere Artikel: Auch die
französische Literatur erkundet derzeit Geschichte mittels Literatur, was zu - oft durchaus großartigen - "
Romanen ohne Fiktionen" führt, wie Jürgen Ritte in der
NZZ von der Pariser Rentrée
berichtet. Jarina Kajafa (
taz), Gregor Dotzauer (
Tagesspiegel), Melanie Reinsch (
Berliner Zeitung), Nikolai Klimeniouk (
FAZ) und Jens Bisky (
SZ) berichten von der Berliner Pressekonferenz der
Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. In Berlin las
Jonathan Franzen aus seinem neuen
Roman "Unschuld",
berichtet Harald Jähner in der
Berliner Zeitung (
hier kann man die Lesung nachhören).
Besprochen werden
Patrick Hohmanns Roman "Werenbachs Uhr" (
NZZ), das Buch "S" von
J.
J.
Abrams und
Doug Dorst (
NZZ),
Jenny Erpenbecks "Gehen, ging, gegangen" (
Berliner Zeitung),
Apollos und
Hervé Tanquerelles Comic "Die Diebe von Karthago" (
Tagesspiegel),
Ingrid Sabischs und
Heiner Lünstedts Comic über Sophie Scholl (
Tagesspiegel),
Ursula März" "Für eine Nacht oder fürs ganze Leben" (
Tagesspiegel),
Hans Joachim Schädlichs "Catt" (
ZeitOnline),
Rafik Schamis "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" (
FAZ),
Katharina Hackers "Skip" (
SZ) und neue Hörbucher, darunter
Michel Houellebecqs "Unterwerfung" (
FAZ).
Und in der online nachgereichten Frankfurter Anthologie der
FAZ schreibt Gisela Trahms über
Thomas Klings Gedicht "Das brennende Archiv":
"menschen gedenken eines menschen.
herz - brennendes archiv!
..."
Architektur, 12.10.2015
Niklas Maak staunt in der
FAZ nicht schlecht, dass die NASA Wettbewerbe für einfallsreiche, mit einem 3D-Printer erstellte Behausungen zur
Besiedelung des Mars ausgerufen hat.
Hier die Gewinner im Überblick.
Musik, 12.10.2015
Mit Blick auf seinen bevorstehenden Abschied bei den
Berliner Philharmonikern hebt
Simon Rattle nun doch noch zum kompletten
Beethoven-Zyklus an, schreibt Martin Wilkening in der
FAZ, der sich daher auch ganz allgemeine Gedanken macht: "Die Philharmonie ist heute kein Kunsttempel mehr. Sie ist zu einem
Labor für musikalische Experimente geworden, auch zu einer Schnittstelle zwischen Kunst und Technik. Das geschlossene Beethoven-Bild hat sich aufgelöst, sowohl was das rein Musikalische angeht wie auch in Bezug auf die Verknüpfung mit
Lebenswirklichkeit und Geschichte."
Besprochen werden ein Konzert mit
Mozarts "Krönungsmesse" und
François-Joseph Gossecs "Grande Messe des Morts" in Wien (
NZZ), ein Jubiläumsset zum 50-jährigen Bestehen von
Grateful Dead (
taz)
und
Michael Wollnys "Nachtfahrten" (
FR).
Kunst, 12.10.2015

Im Schwerpunkt Indonesien der
NZZ porträtiert Werner Kraus die Künstlerin
Arahmaiani, die für ihre Performances sowohl aus der arabischen also auch aus der javanischen Kultur schöpft: "Sie ist das typische Beispiel einer "
glokalen"
Künstlerin, die ihre Inspiration aus den Erfahrungen ihrer eigenen Gesellschaft schöpft, diese aber so transformiert, dass sie sich auch transnational verstehen lassen. Schon früh wurden allerdings ihre Ausstellungen in Indonesien von islamischen Fundamentalisten gestürmt und Teile ihres Werks "konfisziert". Auch aus Kuala Lumpur musste sie einmal Hals über Kopf nach Singapur in Sicherheit gebracht werden: Die
Scharia-Polizei war ihr auf den Fersen, weil sie in einer Performance einen Teller, auf den sie das Wort "Allah" geschrieben hatte, zu Boden fallen ließ." (
Bild: Arahmaianis Perfomance "Handle without care" in Brisbane, Australien, 1996-97. © Arahmaiani)
Seine Schau "Hello, I Love You" in der
Frankfurter Schirn versteht
Daniel Richter als radikalen Bruch mit seinem bisherigen Werk. Katharina J. Cichosch (
taz)
hat sich das genauer angesehen: "Die Menschensilhouetten sind nahezu verschwunden, wie konkrete Motive überhaupt. Sie bleiben als Versatzstücke, in Form
erotisch aufgeladener Gliedmaßen und Körperschemen oder als Fratzen, die geisterhaft über die Leinwand schweben. ... Von überall her scheinen die Bilder zu rufen: Ich bin Malerei! Take it or leave it!" Die
FAZ hat Rose-Maria Gropps Besprechung der Schau
online gestellt.
Das Baumaterial aus
Banksys Vergnügungspark-Kunstprojekt Dismaland kommt einem
Flüchtlingslager zugute, meldet Joseph Hanimann in der
SZ.
Bühne, 12.10.2015
"Der Kaufmann von Venedig" in München. Foto: David BaltzerDarauf hat Theaterdeutschland in dieser Saison gewartet: Nach den "Shabby Apartments" hat Neu-Intendant
Matthias Lilienthal nun auch ganz offiziell den Betrieb an den Münchner Kammerspielen eröffnet. Zu sehen gab es an dem Wochenende einen
"Kaufmann von Venedig" in der Inszenierung von
Nicolas Stemann,
Rahib Mroués Auseinandersetzung mit einer palästinensischen Perspektive auf den terroristischen Anschlag von München 1972 in
"Ode to Joy" und mit "Peaches Christ Superstar" einen Inszenierungsimport aus dem Berliner HAU. Ein namentlich ungenannter
Tagesspiegel-Kritiker
sieht in dieser Zusammenstellung ein Versprechen auf "eine auf fünf Jahre angelegte
Biennale" in der Bayerischen Landeshauptstadt und überhaupt "festivalähnliche Strukturen" heraufdämmern. Stemans "Kaufmann" fand er (oder sie) jedoch "
ein bisschen brav und ungefähr. ... Stemann macht symptomatisches Theater: klug und witzig im Ansatz, in der Ausführung aber - so ein Shakespeare ist lang und kurvenreich - im
flachen Bereich."
Patrick Bahners reibt sich in der
FAZ an der Darbietung des historisch heiklen Stücks, die man sich offenbar als reichlich abstrakte, aber von allerlei Medieneinsatz gut gestützte Lesung mit verteilten (und untereinander getauschten) Rollen vorstellen muss: Für Bahners ist das jedoch unterm Strich "
Nazi-
Klamauk in der Meta-
Meta-
Version der Tarantino-Parodie, "Charlie Hebdo" als Winkelement." Auch Tim Slagman
findet in der
nachtkritik die Inszenierung politisch eher platt: "Shylocks berühmten Verfolgten-Monolog - "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?" - spricht fast jede und jeder auf der Bühne: Hassan Akkouch für die
Muslime, Kuljić für die Roma, Bormann für die
Homosexuellen, Julia Riedler für die
Frauen. So offenbart sich die banale Wahrheit, und das Pathos wird weggeschmunzelt."
K. Erik Frazen
verspricht sich in der
FR vom Münchner Auftakt einiges: "Okay, wir haben verstanden: Matthias Lilienthal möchte die Theaterformen und -farben in München
neu mischen. Das wird noch für so manche Aufregung sorgen.
Gut so." Eine ziemlich enttäuschte Christine Dössel zieht in der
SZ Bilanz: "
Viel Theaterdiskurs,
wenig Theaterlust. Da ist noch Luft nach oben."
Abseits von München: In der
FR erklärt Philipp Ruch vom
Zentrum für politische Schönheit im Gespräch mit Arno Widmann, was politische Schönheit eigentlich ausmacht und was das mit Theater zu tun hat: "
Die Trennung von Ethik und Ästhetik führt in eine denkerische Katastrophe. Ethisches Handeln, der Anblick von Menschen mit Rückgrat, ist immer schon
unglaublich schön."
Besprochen werden
Bellinis "Norma" mit Cecilia Bartoli am Opernhaus Zürich (
NZZ),
Ferdinand von Schirachs "Terror" am Deutschen Theater Berlin (
Zeit),
ein Flüchtlings-Theaterabend in Mannheim mit
Arthur Millers "Blick von der Brücke" (
FR)
, Armin Holz" drei "Familienfeste" in Linz (
nachtkritik,
Welt)
und eine Inszenierung von
Hebbels "Nibelungen" am Staatsschauspiel Dresden (in der
nachtkritik ärgert sich Matthias Schmid über "dieses professionelle, postmoderne Auftürmen von Zitaten und Anspielungen", "langweilig und entsetzlich bieder", meint Simon Strauss in der
FAZ).