Efeu - Die Kulturrundschau

Konfrontation Fleisch gegen Fleisch

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16.10.2015. Anlässlich einer Shunga-Ausstellung in Tokio denkt die NZZ über Erotik und Prüderie in Japan nach. Viel Blut und viel Liebe sehen die Filmkritiker in Guillermo del Toros Gothic-Melodram "Crimson Peak". Auf den Sound kommt es an, erklärt in der Spex Buchpreisträger Frank Witzel über seinen Roman. In München atmen die Theaterkritiker bei Simon Stones Bühnenadaption von Viscontis "Rocco und seine Brüder" auf: Endlich Nahkampf statt Ferndiagnose.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.10.2015 finden Sie hier

Kunst


Katsushika Hokusai, "Traum der Fischersfrau", um 1820

Patrick Zoll besucht für die NZZ eine Shunga-Ausstellung im Eisei-Bunko-Museum in Tokio, die vor zwei Jahren in London konzipiert war. Im 17. und 18. Jahrhundert waren die erotischen Shungas noch sehr beliebt, dann wurden sie den Japanern peinlich, erklärt Zoll: "1868 endete die Edo-Periode, Japan musste sich der Außenwelt öffnen. Das Land modernisierte sich nach westlichem Vorbild. Vieles, was zuvor normal war, wurde nun als rückständig, weil nichtwestlich, angesehen: öffentliche Nacktheit, gemischtes Baden in den heißen Quellen oder wilde Kabuki-Theater. Westliche Ausländer, die mit ihrem viktorianisch prüden Weltbild nach Japan kamen, müssen von den plakativ erotischen Darstellungen in Shunga ziemlich irritiert gewesen sein. ... Die letzten Shunga wurden ganz zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zur Zeit des russisch-japanischen Kriegs produziert. Dann legten sich Scham und Prüderie wie eine schwere Decke über diesen einzigartigen Aspekt der japanischen Kunstgeschichte."

Weitere Artikel: In der NZZ stellt Philipp Meier eine Dauerleihgabe von Mogulmalerei an das Museum Rietberg vor. Und Samuel Herzog notiert nach seinem Besuch der Kunstbiennale in Istanbul ein "seltsames Gefühl der Unsicherheit, das diese Biennale in uns provoziert: Könnte es ein, dass wir hier ständig die falschen Fragen stellen?"

Besprochen werden die Ausstellung "Lübeck 1500 - Kunstmetropole im Ostseeraum" im St.-Annen-Museum in Lübeck (NZZ), die Ausstellung "Anatolia - Home of Eternity" im Bozar Brüssel (taz) und eine Ausstellung im Van Gogh Museum in Amsterdam, die erstmals Vincent van Gogh und Edvard Munch aufeinander bezieht (FAZ).
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Bühne

Nach einem postdramatischen Einstieg in die neue Intendanz Matthias Lilienthals gab es an den Münchner Kammerspielen mit Simon Stones Bühnenadaption von Viscontis "Rocco und seine Brüder" nun die erste Aufführung im Repräsentationsstil. "Schon spürt man", schreibt Sabine Leucht von der Nachtkritik, "wie sehr einem bereits jetzt dieses Weinen und Lachen, diese Konfrontation Fleisch gegen Fleisch, Marotte gegen Marotte abgegangen ist. Endlich sieht man wieder Figuren sich aneinander reiben und ein Stück einen dramatischen Drive entwickeln, wie es ihn es als Gegenstand der mehr oder weniger spitzfindigen Ferndiagnose nicht entwickeln kann."

Den Zuschauer hat es hier ganz schön um, meint SZ-Theaterkritikerin Christine Dössel, "so schnell, wie in diesem Boxertheater die Szenenversatzschläge und fäkalsprachlichen Konter auf ihn einprasseln. Man fühlt sich wie ein Punchingball. Ein paar wenige nutzen die Gelegenheit, um zu flüchten; das Wort "Schülertheater" zischelt durch die Runde." Dass dem Abend etwas "Amateurhaftes" anhaftet, fällt auch Patrick Bahners von der FAZ auf, der sich ohnehin Gedanken über Sinn und Unsinn solcher Kino-Bühnen-Medienwechsel macht. Im vorliegenden Fall gehe es darum, "ein rohes Leben in aller Potenz und Unbeholfenheit freizulegen". Am Ende siegt die Bühne aber doch über das Kino: Da umrundet ein Schauspieler "außen das Parkett und lacht immer weiter. Einen solchen Surround-Effekt kann man im Kino nicht erleben."

Barbara Villiger Heilig unterhält sich in der NZZ mit Barbara Frey über Jon Fosses Stück "Meer", das Frey gerade am Zürcher Schauspielhaus inszeniert.

Besprochen wird Lortzings "Der Wildschütz" in Dresden (Welt) Außerdem hat die FAZ Hubert Spiegels Besprechung der in Zürich und Berlin aufgeführten neuen Stücke von Sibylle Berg online gestellt.
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Literatur

Im (allerdings vor der Buchpreisvergabe geführten) Spex-Gespräch mit Dennis Pohl gibt Frank Witzel eine Leseanleitung für seinen gerade mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Erfindung...": "Man soll das Buch nicht zuklappen mit dem Gefühl, einer Geschichte gefolgt zu sein. Es soll unmittelbarer sein, lineare Erzählung aussparen, und wie eine Platte Song für Song, Kapitel für Kapitel den Hörer in die jeweilige Welt hinein ziehen. Ich glaube, Menschen mit einem Verständnis für Popmusik können das Buch besser verstehen als andere. Der Sound des Buchs war mir immens wichtig."

Weitere Artikel: Bei Suhrkamps traditionellem Buchmessen-Empfang las Peter Sloterdijk aus seinem für Frühjahr angekündigten erotischen Roman "Das Schelling-Projekt", berichtet Sandra Kegel im Buchmessen-Blog der FAZ. Von Jens Bisky erfahren wir in der SZ, dass es darin "um ein gescheitertes Forschungsprojekt zur weiblichen Erotik (...) unter besonderer Berücksichtigung der Naturphilosophie des deutschen Idealismus" gehen soll. Die Digitalisierung der Literatur misst der Gestaltung der dinglichen Bücher einen neuen Stellenwert zu, beobachtet Harald Jähner von der Berliner Zeitung auf der Frankfurer Buchmesse. Peter Praschl berichtet in der Welt von einem Pressegespräch mit Jonathan Franzen, der auf Schloss Mainau über Vögel sprach. Die indonesische Literatur werde vor allem von Schriftstellerinnen geprägt, die sich in ein - wenig angsehenes - säkulares, als "Duftliteratur" verschrienes und ein brav islamisches Segment aufteilen lassen, erklärt Yvonne Michalik auf ZeitOnline. Der Freitag bringt eine Übersetzung von Schriftstellerin Ursula K. Le Guins ursprünglich im Guardian erschienener Besprechung von Salman Rushdies neuem Roman "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte".

Besprochen werden unter anderem Andreas Niedermanns Kurzgeschichtenband "Country" (Freitag) Hugo Pratts Comic "Corto Maltese" (NZZ) und Shumona Sinhas "Erschlagt die Armen!" (Freitag).
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Musik

Punkrock, Drogen, ungeschützter Verkehr und alles fußläufig im Manhattan der 70er und 80er Jahre: Nicht unfasziniert liest Klaus Walter von der SZ Richard Hells Autobiografie "Blank Generation", ein "Sittengemälde einer untergegangenen Zivilisation. Und ein tolles Drogen-Aufklärungsbuch".

Weitere Artikel: Tazlerin Elise Graton porträtiert die ebenfalls im New Yorker Punkunderground aufgewachsene Lizzy Mercier Descloux, deren Alben derzeit neu aufgelegt werden. Besprochen werden Puccini-Arien mit Jonas Kaufmann (FR) sowie neue Alben von Neon Indian (Pitchfork), der Black-Metal-Popband Deafheaven (ZeitOnline), von Deerhunter (Spex), von den Battles (taz) und der Zürcher Band "me.man.machine" (NZZ).
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Film


Körperliche und seelische Verwundbarkeit als Augenschmaus in Guillermo del Toros "Crimson Peak". Bild: Universal Pictures.

Mit dem Gothic-Melodram "Crimson Peak" kehrt der mexikanische Phantastik-Auteur Guillermo del Toro nach den Blockbustern "Hellboy 2" und "Pacific Rim" erstmals wieder in den Arthouse-Sektor zurück. Ein willkommene Rückkehr, meint Michael Kienzl von critic.de, zumal es dem Regisseur trotz allem Ausstattungsüberschuss sehr ernst ist mit seinem Stoff: "Wenn Blut fließt, ist das zwar eine kurze Belastungsprobe für den Magen der Zuschauer, letztlich aber keine Distanzierung von der Liebesgeschichte, sondern eine Betonung ihrer Dringlichkeit. ... Bei del Toro [ist] jeder Blutstropfen ein Beweis für die körperliche und seelische Verwundbarkeit seiner Figuren." Christopher Diehaus von Artechock stellt einen "köst­li­chen Augen­schmaus" in Aussicht. Doch leider sei der Film "bei weitem nicht so facet­ten­reich wie seine optische Gestal­tung".

Weiteres: In der Welt sieht Hanns-Georg Rodek Netflix bereits die Filmlandschaft revolutionieren. Besprochen werden außerdem das Flüchtlingsdrama "Mediterranea" (Tagesspiegel, Perlentaucher), Myroslaw Slaboshpytskiys "The Tribe" (Tagesspiegel, Perlentaucher), Ken Kwapis" Film "Picknick mit Bären" mit Robert Redford und Nick Nolte (Welt) und der Gangsterfilm "Black Mass" mit Johnny Depp (FAZ).
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Architektur


Links die alte Kirche, 1976 von Charles-Gustave Stoskop erbaut, rechts die neue Kathedrale mit Glockturm

Martina Meister reist in den Pariser Außenbezirk von Créteil, wo eine kleine unscheinbare Kirche mitten zwischen Wohnblöcken aus den sechziger und siebziger Jahren zu einer modernen Kathedrale umgebaut wurde. Der Wunsch nach Vergrößerung mag auch mit den neuen Moscheen zu tun haben, schreibt Meister in der Welt: "Für Alain Bretagnolle, einen der Architekten, markiert die Kathedrale eine Wende: "Bis Ende der 80er wollte die Kirche diskret sein und nah an den Menschen bleiben, am liebsten neben den Wohntürmen. Jetzt geht es wirklich darum, sich zu zeigen, Farbe zu bekennen.""

Für die taz liest Klaus Englert neue Bücher über den Architekten Rudolf Wolters. Arnold Bartetzky liest für die FAZ Daniel Fuhrhops Streitschrift "Verbietet das Bauen".
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