Efeu - Die Kulturrundschau

Feuerwerk an Selbstbestimmung

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22.10.2015. In der Welt staunt Necla Kelek über die Islamkritik Navid Kermanis. Der Freitag warnt: Die Zwangsbeglückung des Zwangsfinanziers deutscher Theater wird nicht mehr lange gutgehen. Mehr Wohnungen gibt's nur, wenn die Standards gesenkt werden, erklärt der Architekt Philipp Meuser in der Zeit. Die Welt feiert den neuen Asterix-Band: eine Gallileaks-Geschichte! In einer Genfer Ausstellung bewundert die NZZ den Einfluss der japanischen Kunst auf die europäische.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.10.2015 finden Sie hier

Literatur

Islamkritik in dieser Form "habe ich ... bisher nur von wenigen kritischen Geistern wie Salman Rushdie oder Ayaan Hirsi Ali gehört, die als Dissidenten geschmäht werden", staunt eine begeisterte Necla Kelek in der Welt nach der Paulskirchenrede Navid Kermanis. Auch Kermanis Aufforderung zur Diskussion nimmt sie gerne an: "Kermani geht davon aus, dass der Koran zu schön, zu wirklich, zu kunstvoll sei, um nicht göttlich zu sein. Mohammed ist für ihn keine historische Figur, die kritisch hinterfragt werden sollte. Aber der Prophet, der in Medina Kriegsherr und Staatsführer war, lehrte nicht nur Liebe, sondern erwartete Unterwerfung und Hingabe. Darin zeigte sich der allgemeine Charakter dieser Religion allzu deutlich. Über deren gewalttätiges Selbstverständnis müssen wir sprechen und auch den Koran kritisch hinterfragen und ihn nicht nur auf literarische und ästhetische Qualität prüfen."

NZZ-Redakteur Roman Bucheli findet die Bedenken über das fromme Gemeinschaftserlebnis total daneben: "Geradezu albern nahm sich ... das Geständnis von Thierry Chervel im Online-Portal Perlentaucher aus, der sich zu erklären bemüßigt fühlte, warum er zu Navid Kermanis Gebet nicht aufgestanden sei: Er habe sich nicht 'in ein Bild ökumenischer Frömmigkeit einbauen lassen' wollen." Chervel antwortet in den Kommentaren zu Buchelis Artikel.

Schwerstes Geschütz fährt Michael Jäger vom Freitag gegen Johan Schloemann auf, der in der SZ Navid Kermanis Gebet in der Paulskirche kritisiert hatte: "Wie kommt es nur, dass man heute glaubt, Irreligiosität verwirkliche sich am besten, wenn die religiöse Kenntnis vernichtet sei? Und das in einer Welt voller Christen und Muslime? Toleranz kommt so nicht zustande. Eher kommt etwas heraus, was dem IS-Terror nicht unähnlich ist. Das ist Kermanis Botschaft. Der IS vernichtet ja alles, was von seiner Doktrin im Geringsten abweicht." (Mit anderen Worten: Unglaube ist Terror. Es wäre interessant zu fragen, warum gerade die Linke Kermanis konservative Botschaft so gern hört.)

"Der Papyrus des Caesar" ist "der unterhaltsamste Asterix-Band seit langem", bescheinigt in der Welt Sascha Lehnartz dem zweiten von Jean-Yves Ferri und Didier Conrad zu verantwortenden Band: "Es ist eine Gallileaks-Geschichte. Sie beginnt in Rom, wo Julius Caesar seinen Medienberater empfängt. ... Seguéla alias Rufus Syndicus ermuntert Caesar, aus seinem bestsellerverdächtigen Buchprojekt 'Kommentare zum Gallischen Krieg' das selbstkritische Kapitel 'Rueckschlaege im Kampf gegen die unbeugsamen Gallier' heraus zu kürzen. Caesar lässt sich zur Imagepolitur verführen, doch ein idealistischer Schreiber namens Bigdahta lässt das Manuskript dem 'gallischen Aktivisten' Polemix zukommen, weil er verhindern will, 'dass ein wichtiges Kapitel' der gallischen Geschichte 'unterschlagen wird.'" Im Tagesspiegel und in der FAZ gibt es Interviews mit den beiden Autoren.

Weiteres: Eigentlich lesen wir heute viel mehr als früher, meint Thomas Ribi mit Blick auf das Internet in der NZZ. Was dabei untergeht: "Dass Lesen nicht nur Informationsaufnahme bedeutet, sondern ein Akt der Imagination sein kann." Besprochen werden unter anderem Helene Hanffs "Die Herzogin der Bloomsbury Street" (taz) und Jean Rhys' "Die weite Saragossasee" (FAZ).
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Bühne

Nach dem Saisonauftakt an deutschen Theatern zieht Martin Eich im Freitag erste Bilanz. Das Theater und die Kritik übt sich seiner Ansicht nach zunehmend darin, das Publikum auszuschließen, lautet sein galliger Befund: Zwangsbeglückung des Zwangsfinanziers statt auf Realistisches und Nachvollziehbarkeit setzendes Theater. Lang könne das nicht gut gehen, meint Eich: "Die Realität, das ist die Kernbotschaft an die Verächter des fiktionalen und nichtfiktionalen Realismus, besiegt irgendwann jede Illusion, jedes Konstrukt. Auf der Strecke bleiben kurzfristig die Glaubwürdigkeit des Feuilletons und langfristig die Zukunft der Bühnen, weil diese Medienzwitter - die nicht mehr Sprachrohr des Zuschauers sind und nicht mehr sein wollen - sie eines notwendigen Korrektivs berauben."

Besprochen werden die Inszenierungen von Ferdinand von Schirachs Stück "Terror", das Martin Eich vom Freitag in seiner diskursiven Anmutung "seltsam gestrig" vorkommt.
Archiv: Bühne

Architektur

In Deutschland fehlen Millionen bezahlbarer Wohnungen - und dass nicht erst seit den Flüchtlingen, die jetzt noch hinzukommen. Damit schnell neue Wohnungen gebaut werden können, plädiert der Architekt Philipp Meuser im Interview mit der Zeit für eine Senkung der Standards bei Neubauten: "Unser Büro hat kürzlich einen Gewerbebau in Wohnraum umgewandelt, Sie können sich nicht vorstellen, was wir da für ein Theater gehabt haben, angefangen von der Trittschalldämmung über die Anzahl der Spielgeräte im Innenhof bis zur Umsetzung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Mehrkosten an jeder Ecke! Anstatt dass man einfach eine Küche und ein vernünftiges Badezimmer einbaut und fertig."

In der SZ sieht Laura Weissmüller das ähnlich pragmatisch: "Wie viele Menschen sind unglücklich, weil sie in einem Altbau aufgewachsen sind und nicht in einem topisolierten und gedämmten Neubau? Eben. Was sich im Bestand bewährt hat, sollte auch für die Zukunft genügen", meint sie, fordert aber dafür mehr Mut, für neue Lebensformen zu bauen: "Der Vorschlag etwa, unterschiedliche Wohnungsgrößen so ineinander zu verzahnen, dass ein Haus verschiedenen Lebensformen ein Zuhause bietet, ja sogar flexibel auf seine Bewohner reagieren kann, wird von den meisten Wohnungsbaugesellschaften stoisch ignoriert. Als gäbe es keine Singles, keine Alleinerziehenden, keine Patchworkfamilien und auch keine Senioren, die in Alten-WGs leben wollen." Ihr Gegenbeispiel: Die Spreefeld-Genossenschaft in Berlin.

Weiteres: In der NZZ stellt Roman Hollenstein kurz einen "vorbildlichen Führer zur neusten Genfer Architektur mit 66 Vorzeigebauten und informativen Essays vor". Und er besucht die Cité des Arts des Tokioter Architekten Kengo Kuma in Besançon.
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Film

Mit großer Skepsis erwartet Matthias Dell im Freitag die für morgen angekündigte Kuratoriumssitzung der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) in Berlin, auf der laut einer indiskreten Pressemitteilung der Schule (mehr dazu hier), Ben Gibson als neuer Leiter der Akademie berufen werden soll. Bei den Studierenden ist Gibson freilich alles andere als beliebt: Sie wittern Verschulung. Dells Kritik an der Politik: "Statt ein Jahr mit drittklassiger Personalpolitik zu vertrödeln, hätte die schöne Zeit für ein Feuerwerk an Selbstbestimmung und Strukturreflexion draufgehen können. Am Ende hätte man womöglich gewusst, wie ein Studium aussehen soll, das Regisseure hervorbringt, die Besseres zu tun haben, als dem Fernsehen die Formate zu füllen und Redaktionsängste zu streicheln."

Weitere Artikel: Im SZ-Interview spricht Davis Guggenheim mit Alexander Menden über seinen (in der taz und im Freitag besprochenen) Film "Malala" über die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai. In der Berliner Zeitung schreibt Arno Widmann über den zweiten Teil von "Zurück in die Zukunft" von 1989, in dem Marty McFly am gestrigen 21. Oktober im Jahr 2015 landet. Katja Schwemmers von der Berliner Zeitung unterhält sich mit dem Sohn von Marlon Brando. Auf ZeitOnline denkt Dirk Peitz über den neuen Star-Wars-Trailer nach.

Besprochen werden Nils Malmros' in Berlin gezeigtes Drama "Sorg og glæde" (Perlentaucher), Michal Rogalskis "Unser letzter Sommer" (taz), "A Perfect Day" mit Benicio del Toro und Tim Robbins (Tagesspiegel), "The Last Witch Hunter" mit Vin Diesel ("ein Fantasyfetzer voll Feuer, Matsch, Blut und Computergulasch", meint Dietmar Dath in der FAZ), Lionel Baiers Tragikomödie "La Vanite" (NZZ), die Flüchtlingsdramen "Dheepan" und "Mediterranea" (NZZ) und Robert Zemeckis' Spielfilm "The Walk" über den illegalen Hochseilakt von Philippe Petit auf einem Seil zwischen den Türmen des World Trade Center im Jahr 1974 (taz, Welt, NZZ, SZ).
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Kunst

Was sahen europäische Reisende, als sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals Japan besuchten? Dieser Frage widmet sich derzeit die Schau "Le bouddhisme de Madame Butterfly - Le japonisme bouddhique" im Musée d'ethnographie de Genève, schreibt Samuel Herzog in der NZZ. "Die Reiseberichte und mehr noch die Mitbringsel dieser frühen Japan-Touristen hatten einen enormen Einfluss auf die europäische Kunst und ließen auch das westliche Denken nicht unberührt. Namentlich der Buddhismus japanischen Zuschnitts beschäftigte die Gemüter - eine Religion ohne Gott, das war für den Okzident tatsächlich eine ungeheure Vorstellung." (Bild: "Le Buddha Amida assis". Japon 18e siècle. Bois. Don Edmond Rochette, 1938. MEG Inv. ETHAS 015608)

Weiteres: In der FAZ führt Andreas Platthaus durchs Programm von "Lichtsicht", der fünften Projektions-Biennale in Bad Rothenfeld.

Besprochen werden Francesco Clericis Dokumentarfilm "Scultura - Kunst. Hand. Werk." (taz, Perlentaucher), eine Ausstellung über Delaroche und Delacroix im Museum der bildenden Künste in Leipzig (taz), die Godefridus-Schalcken-Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum in Köln (FR), die Schau "Berlin - Metropolis" in der Neuen Galerie in New York (Welt) und die Ausstellung "Twilight over Berlin" im Israel Museum in Jerusalem (FR).
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Musik

In der SZ zieht Simon Tönies nach den ersten Donaueschinger Musiktagen unter dem neuen Leiter Björn Gottstein Bilanz: Dem Festival könne künftig eine enorme "Verjüngung" ins Haus stehen, notiert er mit einigem Interesse. "Gottstein nennt im Gespräch tatsächlich Namen von Komponisten, die in Zukunft keine Aufträge mehr bekommen sollen zugunsten nachrückender Generationen. Auch Komponistinnen sollen endlich öfter zu hören sein. Das alles ist überfällig. Und ohne die anstehende Orchesterfusion rechtfertigen zu wollen: Sie könnte für einen Neubeginn der Musiktage sogar hilfreich sein."

Weiteres: Im Freitag porträtiert Felix Lee die chinesische Band Nova Heart, die für ihn das "moderne Peking" repräsentiert: "Melancholie, Schwermut und Sinnkrise der Neureichen nach Jahren des doppelstelligen Wirtschaftswachstums."

Besprochen werden ein Konzert des Pianisten Fazıl Say mit dem Zürcher Kammerorchester (NZZ) und neue Impromusik (Skug).
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