Efeu - Die Kulturrundschau

Räume ohne Chance

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17.11.2015. Die Welt bewundert die Haltung der Elefantenspitzmaus in den Zeichnungen Wilhelm Kuhnerts. In der NZZ erklärt Zeruya Shalev, warum der Schmerz noch 60 Jahre nach einer Verletzung zurückkommen kann. Die FAZ betrachtet die Schlafburgen in der Banlieue und wundert sich über gar nichts mehr. Die SZ öffnet Kurt Cobains Wundertüte of Heck.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2015 finden Sie hier

Kunst


Wilhelm Kuhnert: Elefantenspitzmaus. Privatbesitz. Foto: Staatliche Museen zu Berlin / Nationalgalerie / Andres Kilger

Die riesigen Ölgemälde Wilhelm Kuhnerts mit Szenen aus der ostafrikanischen Tierwelt wollte man in der Alten Nationalgalerie in Berlin nicht zeigen: zu groß, zu mächtig und auf zu viele Privatbesitzer verteilt sind sie, erzählt Eckhard Fuhr in der Welt. Lieber konzentrierte man sich auf die Tierzeichnungen Kuhnerts, und das erwies sich als großer Gewinn, versichter der Welt-Kritiker, "denn die Zeichnung, die Jagd mit dem Bleistift, die staunenswerte Fähigkeit, ein Tier in wenigen Strichen nicht nur in seinem Phänotyp, sondern in seiner gesamten Haltung, mit seinen Körperspannungen, seinen Sinnesleistungen, seinem Verhältnis zur Umwelt festzuhalten, das ist der glühende Kern der Kuhnertschen Kunst. Ihm kommt man in den Hautschrunden eines Elefantenkopfes nahe, noch näher aber beim Ohren- und Rüsselspiel der Elefantenspitzmaus. Das macht ihm so schnell keiner nach."

Weiteres: Bei Artdaily stellt Marina Koreneva die Katzen der Hermitage vor, die das St. Petersburger Museum von Mäusen freihalten. Ingo Arend berichtet in der taz von der CI-Kunstmesse in Istanbul. Besprochen werden die Ausstellung "Maya Deren - The Haitian Rushes" im Johann Jacobs Museum in Zürich (Zeit), eine Retrospektive zum Werk des Kärtner Künstlers Valentin Oman im Klagenfurter Museum Moderner Kunst (Standard), ein Buch über Tape Art (Tagesspiegel) und die Retrospektive Agnes Martin in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf (SZ).
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Film

Der Kinostart des Terror-Actionthrillers "Made in France" wurde nach den Pariser Anschlägen neuerlich verschoben, meldet Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel. Das unter Berlins Filmfreunden polarisierende, halbkommunal geführte Kino Babylon-Mitte hat einen Insolvenzantrag gestellt, meldet Stefan Strauß in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Ilinca Calugareanus Dokumentarfilm "Chuck Norris und der Kommunismus" (taz) und Ullabritt Horns Dokumentarfilm "A Man Can Make a Difference" über den Juristen Benjamin Ferencz, der sich in den Nürnberger Prozessen engagiert hatte (taz).
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Literatur

Als sie für für ihren Roman "Schmerz" recherchierte, erzählt die Autorin Zeruya Shalev im Interview mit der NZZ, lernte sie, dass "der Schmerz Teil eines Schutzsystems des Körpers ist. Das ist sehr metaphorisch. Und auch die Tatsache, dass es nach einem Trauma manchmal lange braucht, bis man den Schmerz auch fühlt. Ich habe mit dem Schreiben von 'Schmerz' angefangen, bevor ich recherchierte. Danach wollte ich prüfen, ob ich recht hatte. Ich erzählte einem Arzt die Geschichte meines Buchs und fragte ihn: Ist es möglich, dass der Schmerz zehn Jahre nach einer Verletzung wiederkehrt? Er sagte mir, dass erst am Tag zuvor ein Mann in seine Klinik gekommen war, der im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 verletzt wurde und bei dem der Schmerz plötzlich zurückgekommen war - mehr als 60 Jahre später."

Im Archiv der feministischen Autorin Germaine Greer, das sie 2013 der University of Melbourne übergeben hatte, fand sich ein langer, nie abgeschickter Brief an Martin Amis aus dem Jahr 1976, berichtet Gay Alcorn im Guardian. Greer und Amis waren kurze Zeit ein Liebespaar. Veröffentlicht werden darf der Brief nach dem Willen Greers aber nicht, erklärt die enttäuschte Entdeckerin, die australische Journalistin und Wissenschaftlerin Margaret Simons dem Guardian: "Amis and Greer were at the centre of the changes that the world was going through and it's an extraordinary window about what it was like to be alive at that time, as one of the most famous people in the world. It is a fantastic window into the mid 1970s when people weren't sure that the world wasn't going to be destroyed by a nuclear war, when the cold war was dominant, when people were fighting for the right not to be married."

Im Interview mit dem Standard spricht die Autorin Elke Schmitter über das Lesen und die neuen Medien: "Man muss sich damit abfinden, dass das Buch als Medienträger zurückgestuft wird, andererseits bekommt es vielleicht auch wieder mehr Respekt, weil es bestimmte Eigenschaften hat, die durch kein anderes Medium trainiert werden. Sie merken, es fällt mir schwer, in den großen Abgesang einzustimmen. Ich glaube nicht wirklich an einen Verfall, zudem ist die Adaptionsfähigkeit unserer Gehirne größer als wir meinen."

Weitere Artikel: Eine neue Ausgabe des Onlinemagazins Polar Noir ist da. Im Essay befasst sich Thomas Wörtche mit der nunmehr auch auf deutsch komplett vorliegenden "Rache"-Trilogie von Mike Nicols, die "ein lakonisch und kühl erzähltes, kalt analysierendes und genau hinschauendes Projekt des Zorns und der Wut und eben ein Triptychon der Trauer über den Verlust an Idealen und Perspektiven, die zerstört werden", darstellt. Sonja Hartl spricht mit dem Journalisten Wallace Stroby, der mit "Kalter Schuss ins Herz" unter die Thrillerautoren gegangen ist. Außerdem befasst sie sich damit, wie der Mord an Elizabeth Short, der "Schwarzen Dahlie", in Literatur, Comic und Film aufgearbeitet wurde.

Besprochen werden Jérôme Ferraris Heisenberg-Roman "Das Prinzip" (NZZ), Boris Sawinkows Terrorismus-Roman "Das fahle Pferd" (NZZ), Seamus Smyths "Spielarten der Rache" und Oliver Bottinis "Im weißen Kreis" (Perlentaucher), Juan S. Guses "Lärm und Wälder" (ZeitOnline), Deon Meyers "Icarus" (FR), und Verena Luekens Roman "Alles zählt" (SZ, mehr dazu hier).

Mehr aus dem literarischen Leben in unserem fortlaufend aktualisierten Meta-Blog Lit21.
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Architektur

Zwei Pariser Architektur-Ausstellungen in der Cité de l'Architecture et du Patrimoine (hier und hier) erweisen sich in den Augen von FAZ-Kritiker Niklas Maak unter den Eindrücken der Ereignisse vom 13. November als von geradezu gespenstischer Aktualität. So erscheinen ihm die von den 60er bis 80er Jahren in Frankreich entstandenen Hochhaussiedlungen vor den Toren der Stadt als begünstigender Faktor zur sozialen Entsorgung unerwünschter Bevölkerungsschichten: "Schlafburgen im Nichts. Betonbänder auf dem Acker, weit weg von jeder Stadt. Keine Cafés. Keine Werkstätten. Keine Plätze und Straßen mit Läden. Nichts von dem, was das Bild von Paris ausmacht. Das hier waren Marssiedlungen ohne Anbindung und ohne Austausch mit der alten Welt, und man ahnt schon vor diesen Bildern, was für ein Sprengsatz da gebaut worden war: Räume ohne Chance, jemanden zu treffen, der einem Arbeit geben könnte, ohne Perspektiven und Aufstiegschancen. Man darf die Taten der Terroristen nicht allein mit der Architektur erklären, in der sie aufwuchsen; aber natürlich trug die Gettoisierung ganzer Bevölkerungsgruppen außerhalb der Städte zu einem Klima der Aggression bei."

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung im Schweizerische Architekturmuseum (SAM) in Basel über die Bedeutung des Films für die Architekturvermittlung (NZZ).
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Bühne

Unter dem Titel "Really Useful Theater" wird in den Berliner Sophiensälen ab Donnerstag über die Relevanz und Nützlichkeit des Theaters diskutiert. Vorab hat Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung mit der künstlerischen Leiterin Stefanie Wenner gesprochen, die angesichts der an Kunst und Theater zunehmend herangetragenen Forderungen nach politischem Mehrwert auf die Autonomie der Kunst pocht: "Wenn es aber einen gesellschaftlichen Auftrag gibt, sozial wirksames politisches Theater zu machen, dann wird Kunst in einem Sinne vereinnahmt, der mich an sozialistischen Realismus und dessen Verklärung der Wirklichkeit erinnert, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, denn hier geht es mit einem 'kapitalistischen Realismus' eher um ein Regime der Angst."

Weitere Artikel: In der NZZ singt Dirk Pilz ein Loblied auf das Berliner Gorki Theater, "das energiegeladenste, geisteswachste Theater in Berlin derzeit". Tobias Gerber hätte sich dagegen bei einem Podiumsgespräch zur Eröffnung der Zürcher Tage für neue Musik am liebsten aus dem Saal geschlichen, angesichts eines alternden Podiums, dass "mit zeitgenössischer musikalischer Alltagskultur wenig anzufangen weiß, diese pessimistisch in den Kategorien von Reizüberflutung und Oberflächlichkeit behandelt und auch nicht vor Plattitüden zurückschreckt, wenn es um die Beschreibung des eigenen hörenden Zugangs zur Welt geht. Wer den Saal vorzeitig verließ, tat dies wohl mit gutem Grund: nur nicht dazugehören!" In der FR berichtet Ulrich Seidler vom Programm des noch bis Ende des Monats andauernden Berliner Herbstsalon des Maxim-Gorki-Theaters.

Besprochen werden Carlus Padrissas Inszenierung von Berlioz' "Benvenuto Cellini" an der Oper Köln (FR), die Uraufführung von Friedrich Georg Haas' Oper "Morgen und Abend" nach einem Text von Jon Fosse am Londoner Royal Opera House (Standard), Stefan Herheims Inszenierung des "Figaro" an der Hamburger Staatsoper ("Ist dieser Mozart wirklich so schwer?", fragt seufzend Manuel Brug in der Welt), die deutschen Erstaufführungen neuer Stücke von Lars Norén in Köln und Oberhausen (SZ) und Stefan Herheims und Gil Mehmerts "Figaro"-Inszenierungen in Hamburg und Leipzig, die Eleonore Büning von der FAZ allerdings beide nicht überzeugen können.
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Musik

Mit dezentem Ennui nähert sich Diederich Diederichsen in der SZ der Veröffentlichung von "Montage of Heck", einem Album aus dem Nachlass von Kurt Cobain mit unfertigen, auf Tape aufgenommenen Skizzen und Miniaturen. Dass Cobains Band Nirvana heute für das Sprachrohr einer Außenseiterposition gehalten wird, hält er ohnehin für einen Witz, doch Diederichsen bleibt großzügig: "Es spricht dennoch nichts prinzipiell gegen die Veröffentlichung dieser Wundertüte of Heck. Tatsächlich ist es nicht uninteressant, den Weg vom Krach zum Song zu rekonstruieren (wenn man sich an die Songs noch erinnert, von denen hier nur einige Frühestfassungen zu hören sind). ... Cobain konnte Dinge auf den Punkt bringen, hier lernt man, dass er auch das Gegenteil konnte."

Weiteres: Für die taz hat Elise Graton die Karlsruher Konferenz "Globale Musik aus Deutschland" besucht. Außerdem hat der Fotograf Manuwino seine Live-Fotos vom Auftritt der Eagles of Death Metal im Bataclan in Paris online gestellt.

Besprochen werden die große Harmonia-LP-Werkschau (da wird "die heimische Couch zum Raumschiff", jubelt Maurice Summen in der Berliner Zeitung), James Ferraros "Skid Row" (Pitchfork), der Prokofjew-Konzertzyklus der Münchner Philharmoniker mit dem Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev (eine "Großtat des Münchner Musiklebens", schwärmt restlos begeistert Reinhard J. Brembeck in der SZ) und ein Konzert von Archie Shepp (FAZ).
Archiv: Musik