Efeu - Die Kulturrundschau

Ihr lebt auf einem Planeten!

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2015. In der Welt beklagt Anne Enright die Provinzialität der irischen Literatur. Die NZZ erlebt in Köln Hector Berlioz' "Benvenuto Cellini" als krachendes Karnevalsspektakel. Außerdem erinnert sie an D.W. Griffith's toxisches Meisterwerk "Birth of a Nation". Die taz spricht mit dem Musikmanager Morvan Boury über französischen Pop vor und nach den Anschlagen. Der Tagesspiegel besucht die Ausstellung zu den "Schwarzen Jahre" der Berliner Nationalgalerie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.11.2015 finden Sie hier

Bühne

Hector Berlioz' "Benvenuto Cellini" an der Oper Köln. Foto: Paul Leclaire.

Hector Berlioz' Oper 'Benvenuto Cellini' handelt von einem Werk, das nur durch einen genialen, aber auch skrupellosen Akt fertiggestellt werden kann. Davon kann Köln nur träumen, seufzt in der NZZ Holger Notze, während er die Premiere im provisorischen Ausweichquartier verfolgte, weil die Operneröffnung um einige Jahre verschoben wurde. Doch das katalanische Regieteam La Fura dels Baus um Regisseur Carlus Padrissa ließ sich nicht lumpen, schreibt Notze: "Fliegende Menschen, darunter ein Papst aus Gold (hinreichend prächtig der Bass von Nikolay Didenko als Clemens VII.), Projektionen, eine famose Weinrutsche, fein verrückte Kostüme (Chu Uroz): Es ist immer etwas los. Manchmal gar zu viel, wenn etwa Ferdinand von Bothmers Cellini sublime Tenorhöhenkunst riskiert, während von der Seite eine Art Rosenmontagswagen hereinrumpelt."

Besprochen wird eine von Christian Thielemann dirigierte Inszenierung von Humperdincks "Hänsel und Gretel" an der Wiener Staatsoper (FAZ, Standard).
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Literatur

In Irland wurde die stärkste Fiktion lange von der Ökonomie geliefert, bedauert die Schriftstellerin Anne Enright im Interview mit Tanya Lieske in der Welt, was aber vielleicht an der Verschlafenheit der irischen Literatur liege: "2008 war ich in Uganda unterwegs, danach war ich in Honduras. Ich kam nach Hause, und da war mein Land immer noch in einem Jammertal. Und ich wollte sagen, he, die Welt ist groß, es gibt andere Länder mit enormen Problemen da draußen! Wir Iren sind so besessen von unserem Land. Leute, schaut über den Tellerrand! Ihr lebt auf einem Planeten, nicht nur in der Neubausiedlung in einem Haus, dessen Hypothek ihr nicht mehr bedienen könnt! Das war ein moralischer Ansporn. Trotzdem hoffe ich, dass ich als Autorin nicht moralisiere."

Im Freitext-Blog von ZeitOnline schreibt Friedrich Ani über seinen syrischen Vater. Sven Hanuschek erinnert in der Welt an Erich Kästner. Für den Tagesspiegel berichtet Oliver Ristau vom Comicfestival Thought Bubble in Leeds. In der SZ berichtet Christopher Schmidt von Adonis' und Salman Rushdies Auftritten beim Literaturfestival in München. Jürgen Kaube verabschiedet sich in der FAZ von der HR2-Sendung "Literatur im Kreuzverhör", deren letzte Sendung heute ausgestrahlt wird. Außerdem porträtiert Helmut Mayer in der FAZ Andreas Rötzer vom Verlag Matthes & Seitz. Und Georg Seeßen gratuliert Hermann L. Gremliza mit einem, sagen wir: etwas eigenen, Gedicht zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden Will Selfs "Leberknödel" (taz), Juan S. Guses "Lärm und Wälder" (taz), Dorothy Bakers "Zwei Schwestern" (FAZ) und Andreas Maiers Kolumnensammlung "Mein Jahr ohne Udo Jürgens", die man hier auch online lesen kann (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben in unserem fortlaufend aktualisierten Meta-Blog Lit21.

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Kunst

Fünf Jahre bleibt die Berliner Nationalgalerie wegen Sanierungsarbeiten geschlossen, im Ausquartier im Hamburger Bahnhof präsentiert sie jetzt die Ausstellung "Die Schwarzen Jahre - Geschichten einer Sammlung 1933-1945". Für ein "Glanzstück an museologischer Forschungsarbeit" hält Nicola Kuhn vom Tagesspiegel das und spricht von einem "Augenschmaus". Julia Voss sieht in der FAZ sieht die Ausstellung als Möglichkeit, die Komplexitäten nationalsozialistischer Kunstpolitik zu erkunden. Doch "trotz der Verdienste dieser Ausstellungen leidet die Berliner Schau an einer konzeptionellen Schwäche: Die Zeit zwischen 1933 und 1945 wird erzählt, ohne auch nur einen Fall von NS-Raubkunst zu zeigen."

Besprochen wird die Berliner Ausstellung von Yehudit Sasportas (Berliner Zeitung) und die Schau des inzwischen achtzigjährigen Schriftkünstlers Ben Vautier im Basler Museum Tinguely, die Hans-Joachim Müller nur mäßig vergnüglich fand (Welt).
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Musik

Der Komponist Edu Haubensak erinnert in einer Hommage in der NZZ an den verehrungswürdigen György Ligeti: "Ligetis eigene Kompositionen sind Destillationen aus Musikstilen rund um den Globus. Alles kann bei Ligeti anklingen, überall finden wir rhythmische und melodische Texturen von außereuropäischen Musikkulturen, die er intensiv studiert hat. Seine Musik klingt aber nicht postmodern. Sie ist manchmal einfach, häufiger höchst komplex in ihrer polyrhythmischen Anlage, immer aber dringlich und intensiv. Illusionen, Allusionen, Geschwindigkeiten und Langsamkeiten, Dehnungen und Abbrüche sind in seinen Partituren allgegenwärtig."

Hier seine "Atmosphères" in einer interessanten grafischen Synopse:



Eine Woche nach den Anschlägen auf Paris kehrt die taz nochmal zum Bataclan zurück: Julian Weber spricht mit dem Musikmanager Morvan Boury über französische Popmusik vor und nach den Attentaten: "Freunde, die beim Anschlag im Bataclan ermordet wurden, würden wahrscheinlich genauso denken. Das Leben ist nicht zum Erliegen gekommen. Festivals wie Jazzycolors werden stattfinden. Am Mittwoch waren alle meine Pariser Freunde beim Konzert von Hot Chip. Und die Stimmung war großartig. Das nächste Mal treffen wir uns dann bei einer Beerdigung."

Weiteres: Jens Uthoff denkt nochmals über die Band Eagles of Death Metal nach, bei deren mitunter deftig rechtsnationalen Interviewsprüchen es sich seiner Ansicht nach auch um gezielte Ironie im größeren Zusammenhang einer Rockpose-Inszenierung handeln könnte. Heinz-Norbert Jocks schreibt einen Nachruf auf den Kunstkritiker Fabian Stech (hier sein Blog), der bei dem Anschlag auf das Bataclan ums Leben gekommen ist.

Diesen schönen Leib sollte man der europäischen Öffentlichkeit nun wirklich nicht vorenthalten: Die Fans der Wattenscheider Proletenpunk-Band Die Kassierer wollen mit einer Petition ihre Idole statt des dubiosen Verschwörungstheoretikers Xavier Naidoo nach Stockholm zum Eurovision Song Contest bringen, meldet die taz. Andrian Kreye porträtiert den Jazzer und anhaltenden Feuilletonliebling Kamasi Washington, der gerade auf Deutschlandtour ist.

Besprochen werden das neue Album "Art Angels" von Grimes (Tagesspiegel), das neue Album von Adele (ZeitOnline, The Quietus, mehr hier), diverse neue Aufnahmen von Bachs Goldberg-Variationen (FR), Anthony Childs "Electronic Recordings From Maui Jungle Vol. 1 " (The Quietus), ein Konzert des Tokio Metropolitan Symphony Orchestra in Berlin (Tagesspiegel) und Michel Serres' kulturtheoretisches Buch "Musik" (taz).
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Architektur

Das FAZ-Feuilleton hat heute einen heimlichen Architeturschwerpunkt: Paul Ingendaay besucht das Fußballmuseum in São Paulo, das im Pacaembu-Stadion untergekommen ist: Ein "modernistischer Säulenbau, der 1940 eröffnet wurde und sich stilistisch an der kühlen Monumentalität des Berliner Olympiastadions orientiert." Rainer Schulze bringt Hintergründe zum Bau einer Schule in Frankfurt, die binnen dreier Monate aus Holzmodulen realisiert wurde: "Die Elemente wurden mal längs, mal quer gestellt und aufeinandergestapelt, die Schule entstand wie ein Puzzle. ... Das Ergebnis kann sich sehen lassen." Und Clemens Bomsdorf bringt Hintergründe zu den Anbauplänen des Boijmans Van Beuningen Museum in Rotterdam, das vorhat, seine Depoträume als begehbare Schaulager für Privatkäufer zur Verfügung zu stellen und damit die eigene Kasse aufzubessern - was für die Sammler mitunter erhebliche Steuervorteile und Prestigegewinn zur Folge hätte.
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Film


Kunstvolle Verehrung des Ku-Klux-Clan.

Vor 100 Jahren hatte D.W. Griffith' Bürgerkriegsdrama "The Birth of a Nation" Premiere. Für NZZ-Kritiker Patrick Straumann bleibt es ein rassistisches Werk, aber auch ein Meisterwerk: "James R. Agee betrachtete das Werk als den 'einzigen großen tragischen Film', den das amerikanische Kino je hervorgebracht hatte. Agee wies auch darauf hin, worauf die stets intakte Faszinationskraft dieses Filmes gründete: 'The Birth of a Nation' sehen, schrieb er 1948, 'ist wie der Geburt einer Kunstform beiwohnen'."

Weiteres: In André Schäfers Doku-Fiction "Herr von Bohlen" erlebt Tilman Krause in der Welt den letzten Krupp-Erben Arndt von Bohlen und Halbach als tragische Figur, die, mit einer großen Apanage ausgestattet, nur das Leben einer "Klischee-Tunte" führen konnte: "Er wollte Rita Hayworth sein, wurde aber nur ein trauriger Bajazzo." Für critic.de spricht Johannes Bluth mit Ulrich Seidl, dem das Heimspiel Filmfest Regensburg eine Werkschau widmet. Auf Artechock resümiert Nora Moschüring die 39. Duisburger Filmwoche. Im Tagesspiegel gratuliert Christian Schröder Goldie Hawn zum Siebzigsten. Und Neues aus Absurdistan: Auf den neuen Film von Robert Rodriguez mit John Malkovich brauchen Sie sich keine Hoffnungen zu machen. Der wird laut einer Meldung nämlich erst in 100 Jahren zu sehen sein.

Besprochen werden Nanni Morettis "Mia Madre" (Artechock, Standard, wir bringen dazu einen Essay), die neue Amazon-Serie "The Man in the High Castle" nach dem gleichnamigen Roman von Philip K. Dick (ZeitOnline, mehr dazu hier und hier gratis die erste Episode), Mark Noonans "Familienbande" (Tagesspiegel) und die Serie "Occupied" (ZeitOnline),

Und ein Mediathekentipp: Bei Arte gibt es derzeit Joshua Oppenheimers Essayfilm "The Look of Silence" über die Massaker in Indonesien in den 60er Jahren zu sehen. Hier unsere Kritik zum Film.
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