11.12.2015. Clemens J. Setz wechselt in der SZ die Farbe. Im Standard erklärt Theaterregisseur Antú Romero Nunes, warum Joseph Roth aktuell ist wie nie. Die taz ergibt sich Mette Ingvartsens "7 Pleasures". Die NZZ feiert die Kostümbildnerin Sandy Powell. Die SZ versucht in New York, Igor Levit mit den Goldberg-Variationen zu hören.
Kunst, 11.12.2015

(
Im Schnee, anonyme Aufnahme, um 1930. Bild: PD)
Daniele Muscionico
besucht für die
NZZ im
Fotomuseum Winterthur die von dem französischen Fotohistoriker und -theoretiker
Michel Frizot kuratierte Ausstellung mit anonymen, auf Flohmärkten gesammelten
Alltagsfotos. "Der Fotografie, die jeden Kunstanspruch fahrenlässt,
purer Fotografie gewissermaßen, gilt sein Interesse: Bildern, gereinigt von Zeitströmungen, Moden und Konventionen des Kunstbetriebs. ... Die Fotografie
als Enigma, als Rätsel. Das ist die Hypothese, die Frizot aufstellt und in einem Zehn-Punkte-Parcours durchdekliniert."
Weitere Artikel: Mit der
documenta-Zeitschrift
South as a State of Mind (
hier online) beginnt die Kasseler Groß-Kunstveranstaltung schon jetzt,
erklärt Christine Käppeler im
Freitag.
SZ-Kritikerin Catrin Lorch
hat Zweifel, dass die am vergangenen Wochenende aus
Markus Lüpertz' Atelier gestohlenen Bilder überhaupt verkäuflich sind: Lüpertz' Werk sei "lückenlos dokumentiert. Bei Auktionen oder auf Messen wird aber Kunst aus zweifelhaften Quellen
abgewiesen."

Franz Zelger bewundert das
rosige Mädchenfleisch in einer
Fragonard-Ausstellung im
Musée du Luxembourg (
NZZ,
Bild: Ausschnitt aus Fragonards "Le Colin-Maillard", 1754-1756), besprochen werden außerdem die Ausstellung "Die Entdeckung des Alltags - von Bosch bis Bruegel" über die Anfänge der
Genre-Malerei im Rotterdamer Museum
Boijmans Van Beuningen (
NZZ), die Ausstellung "
Sengl malt" im
Leopold-Museum (Anne Katrin Feßler kritisiert im
Standard die "Plakativität von
billigem Machismo und sexualisierter Gewalt"), eine Ausstellung der Preisträger des Essl Art Award
CEE 2015 im
Essl-Museum in Klosterneuburg (
Standard), eine Ausstellung über die ästhetische Faszination am
Verfall in Nationalmuseum in Rom (
SZ) sowie die zwei Berliner Ausstellungen "Ich, Menzel" und "Blinde Blicke" im
Märkischen Museum, bzw. in der
Alten Nationalgalerie (
FAZ).
Literatur, 11.12.2015
Die SZ hat die erste, sehr unterhaltsame Tübinger Poetikvorlesungen von
Clemens J.
Setz übernommen, der in einem Ritt durch Kultur und Wissenschaft erklärt, warum ein Text, der seinen Autor ganz ohne Zutun akademischer Institutionen maßgeblich überleben soll, wie eine
gezielt gezüchtete Katze sein sollte, deren Fell bei Nuklearverstrahlung die Farbe wechselt: "Es ist, zugegeben, eine Metapher, und Metaphern sind zumeist aufgeblasen und seltsam. Aber ich denke dabei an einen Text, bei dem bestimmte Teile, Sätze, Abschnitte
in unerhörten Warnfarben zu leuchten anfangen, wenn sich die gesellschaftliche oder menschliche Entwicklung einem bedenklichen Bereich nähert. Ihre Fellfarbe hat sich zu sehr verändert. Sie sagt uns: Geh fort von hier.
Hier böse."
Weiteres: Die Verlage setzen im kommenden Jahr vermehrt auf die Themen
Flucht und Vertreibung,
fällt Gerrit Bartels vom
Tagesspiegel auf. Außerdem
jetzt online: Thomas Wörtches neuer
Leichenberg, mit kurzen, handverlesenen
Krimi-
Tipps.
Besprochen werden
Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" in der Übersetzung von Peter Sloterdijk (
Standard),
Karl-
Heinz Otts "Die Auferstehung" (
Tagesspiegel),
Joachim Meyerhoffs "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" (
FR),
Henning Ahrens' "Glantz und Gloria" (
ZeitOnline) und
Dostojewskis "Russland und die Welt" mit politischen Schriften (
FAZ).
Musik, 11.12.2015
In New York hat
Marina Abramovic vor kurzem dem örtlichen, notorisch lautstarken Kulturpublikum vor
Igor Levits Goldberg-Variationen-Konzert erstmal
schallabweisende Kopfhörer zum Runterkommen aufgesetzt. Genützt hat dies laut Peter Richter allerdings nur wenig: Kaum nehme man die Kopfhörer nämlich ab,
schreibt er in der
SZ, "brüllt einen der Raum an
wie ein Wasserfall. Und hinter dem Raum die Stadt. Man meint, man höre sämtliche Krankenwagen New Yorks mit vollen Sirenen die Avenues hinunterheulen. Diese Stadt, das merkt man da mal wieder, ist gerade dann, wenn alle ganz leise sind, einfach immer und überall und
unentrinnbar:
laut. Dann schafft es jemand, seinen Kopfhörer exakt in dem Moment auf den Boden knallen zu lassen, in dem Levit den ersten Ton spielt."
Außerdem: Tja, ausgerechnet der Pharma-Manager
Martin Shkreli hat das einzige Exemplar des "
Wu-Tang Clan"-Albums "Once Upon a Time in Shaolin" gekauft,
meldet die
Presse. Für
Pitchfork spricht Ryan Dombal mit
Erykah Badu. In der
taz freut sich Franziska Buhre darüber, dass das deutsche, von den 60ern bis in die 80er bedeutende, dann aber in den Archiven eines Majorlabels verschwundene
Jazzlabel MPS mit einer Reihe von Neu- und Wiederveröffentlichungen wiederbelebt wird. Für
The Quietus unterhält sich Robert Barry mit dem Synthesizer-Pionier
Morton Subotnick. Udo Badelt
porträtiert im Tagesspiegel den im Grenzbereich zwischen Klassik und elektronischer Musik arbeitenden
Musiker Francesco Tristano. Im
Pitchfork-Podcast
unterhält sich Jenn Pelly mit dem angesagten Elektro-Frickler
Oneohtrix Point Never.
Besprochen werden neue Compilations des Filmmusikers
Peter Thomas (
NZZ), das erste eigene Album des Produzenten
Floating Points (
NZZ), eine CD des Zürcher Duos
Egopusher (
NZZ), ein Peaches-Konzert (
Berliner Zeitung,
Tagesspiegel),
ein
Fehlfarben-Konzert (
taz) und das neue Album von
Baroness (
Pitchfork).
Bühne, 11.12.2015
Heute hat der
Joseph-Roth-Abend "Hotel Europa oder Der Antichrist" im Akademietheater Wien Premiere. Regisseur
Antú Romero Nunes und Dramaturg
Florian Hirsch erklären im
Interview mit dem
Standard, warum Roth für sie immer noch aktuell ist: "Ja, die
Obdachlosigkeit in jeder Form spielt immer eine zentrale Rolle. Was Roth betrifft, so geht es sogar weiter: Er springt zwischen den Identitäten hin und her. War er Jude oder Katholik, Sozialist oder Monarchist? Wohl von allem etwas. ... Er
türmt Illusionen und Identitäten übereinander wie Schnapsglas auf Schnapsglas."
"7 Pleasures" von Mette IngvartsenSehr geschmeidig, was
Mette Ingvartsen unter dem Titel "7 Pleasures"
am Berliner HAU als Tanz auf die Bühne gebracht hat,
meint Katrin Bettina Müller in der
taz: "Wie das
fließt und vorwärts gleitet, lautlos dahin schmilzt, sich träge ausbreitet, in träumerischer Langsamkeit Hindernisse überrollt und schließlich zum Stillstand kommt: blasse Haut und dunkle Haut, warmes, lebendiges,
blutdurchpulstes Fleisch von Frauen und Männern. Eine Hand gleitet über einen Hintern, ein Bauch rutscht über einen Rücken, ein Schamhügel streift bärtige Wangen, ein Fuß drückt gegen eine Schulter. Berührung all over ... [Doch] ein naives Plädoyer für sexuelle Befreiung ist Ingvartsens Stück nicht. Eher ein
kühl arrangiertes und erhitzt ausgetragenes Experiment, wie viel von den üblichen Belegungen der Sexualität man abstreifen kann, wo der Begriff zu dehnen, wo er
neu zu befragen ist." Michaela Schlagenwerth
winkt in der
Berliner Zeitung unterdessen müde ab: "Mette Ingvarsten möchte Sex so darstellen, dass er nicht pornografisch wirkt. Aber so, wie sie es zeigt, ist es eine Mischung aus
Sport,
Seelenhygiene und
Kindergeburtstag."
Ungeachtet der hiesigen Kontroverse um
Alvis Hermanis gab es bei dessen
Pariser Inszenierung von
Hector Berlioz' "La Damnation de Faust" viele Buhs im Publikum, berichtet Reinhard J. Brembeck in der
SZ: Die Opernfreunde erzürnte, dass die Inszenierung den Stoff zu dicht an die heutige Alltagswelt rückt. Immerhin: Dirigent
Philippe Jordan "zeigt sich unbeeindruckt von Raumanzügen, Marsfahrzeug, Hawking und vielen Naturvideos: Zur Liebeslustmusik gibt es
liebevoll kopulierende Weinbergschnecken. Jordan geht nüchtern an die irrlichternde, von Grellem, Dunklem, Abgründigem durchzogene Partitur."
Weiteres: Skandal! Nach der Standing Ovation für Verdis "Giovanna d'Arco" an der Scala beschimpfte der belgische Regisseur
Moshe Leiser den Dirigenten
Riccardo Chailly als "
Arschloch",
meldet die
Presse: "Laut italienischen Medien ist Leisers Ausbruch gegen Chailly das Resultat wochenlanger Spannungen zwischen den beiden. Der Musikdirektor habe sich gegen
sexuell explizite Szenen hartnäckig gewehrt, auf die das Regieduo gepocht hatte." Manuel Brug
denkt in der
Welt über "
Best-Ager-Ballerinas" nach.
Besprochen werden die Performance "If there" von
Rotraud Kern und
Paul Wenninger in der Akademie der bildenden Künste Wien (
Standard),
Michael Corders Choreografie der "Schneekönigin" (die Helmut Ploebst im
Standard einigermaßen rassistisch findet) und
John Neumeiers Hamburger Ballettaufführung "Duse" (
FR,
NZZ,
SZ).
Film, 11.12.2015
Cate Blanchett in "Carol"Todd Haynes' 50er-Jahre-Melodram "Carol" lebt nicht unwesentlich von den großartigen
Kostümen Sandy Powells,
schreibt Marisa Buovolo in der
NZZ. Man betrachte nur
Cate Blanchett, die sich als Carol in die junge Verkäuferin Therese verliebt: "Als vermögende und unglücklich verheiratete Frau und Mutter, die aber hinter der gutbürgerlichen Fassade das
Geheimnis ihrer '
Devianz' verbirgt, trägt Carol Pelzmäntel und körperbetonte Kleider mit Dreiviertelarm und Boot-Ausschnitten, die einerseits die Enge ihrer gesellschaftlichen Rolle visualisieren und andererseits
ganz subtil erotische Signale senden."

Großes Lob für
Esen Isiks Debütfilm
"Köpek", ein politisch-engagierter Film über die rigide türkische Gesellschaft. Aber eben auch ein wunderbar erzählter Film,
versichert Martin Walder in der
NZZ. "Und wie genau ist in diesem Erstling
das Leben beobachtet in seiner Verweigerung von allem, was uns als Clip-Dramaturgie auf der Leinwand serviert wird, wie konzise mit Widerhaken im Eindeutigen, wie
fesselnd im Verschwiegenen und Unausgesprochenen. Wie emotional dicht ist die Atmosphäre, wie spröde und fern des Touristischen der Blick auf den Bosporus und Istanbuls Moscheen am Horizont. Das muss man erst einmal können."
Besprochen werden
Jacques Audiards "Dämonen und Wunder" (
Berliner Zeitung, unsere Kritik
hier),
Noah Baumbachs "Mistress America" mit
Greta Gerwig (
FR,
taz,
Standard, unsere Kritik
hier),
Patricio Guzmáns "Der Perlmuttknopf" (
FR, Tagesspiegel),
Eli Roths "Knock Knock" (
Tagesspiegel), der neue "Heidi"-Film (
Welt, daneben
unterhält sich Elmar Krekeler mit
Bruno Ganz über dessen Rolle als Alm-Öhi) und die Ausstellung "Best Actress" im
Berliner Filmmuseum (
Tagesspiegel).