14.12.2015. Die Welt macht einen Höllenritt durch einen Hannoverschen "Freischütz" und betrachtet in Leipzig ein ausgepowertes Dickerchen namens Napoleon. Der Tagesspiegel wünscht sich, Alvis Hermanis würde das deutsche Theater aus seiner nobel ausstaffierten Abschottungswelt aufwecken. Echte Lagererfahrung mit 360-Grad-Videos macht die SZ. Die NZZ bewundert den neuen Bahnhof von Arnhem.
Bühne, 14.12.2015
Szene aus Webers "Freischütz" in Hannover. Foto © Thomas M. JaukKay Voges' Inszenierung von
Webers "Freischütz" in
Hannover, mit Karen Kamensek am Dirigentenpult,
hat den
Welt-Rezensenten Elmar Krekeler auf eine Höllentour durch durch
Deutschlands nationalpathologischen Untergrund geführt. Auf den aufgestellten Videowänden bekam auch
Christian Thielemann eine mit: "In einem hochnotpeinlichen Interviewvideoausschnitt, in dem es um den 'Freischütz' und Volksmusik und Kunstmusik geht. Und Thielemann eine höchst merkwürdige Position einnimmt. Hannovers Opernmusikchefin Karen Kamensek hält währenddessen übrigens
ein Plakat in die Höhe, auf dem 'Ich distanziere mich von dieser Szene, K.K.' steht. Aus dem Satz, den Thielemann sagt, und der betont,
Volksmusik sei Kunstmusik oder umgekehrt, machen Voges und Okidoki zu 'Wir winden dir den Jungfernkranz' ein herrliches Ballett aus lauter plakattragenden Wildecker Herzbuben, die Thielemanns Satz in immer nutzbringenderen Variationen neu zusammensetzen."
Szene aus Turgenjews "Väter und Söhne" am Deutschen Theater Berlin. Foto: Arno DeclairMit einer Vier-Stunden-Inszenierung hat
Daniela Löffner Iwan Turgenjews Roman "Väter und Söhne"
am Deutschen Theater Berlin auf die Bühne gebracht: Zu sehen gab es "
beste Schauspielkunst",
schreibt nicht nur René Hamann in der
taz, sondern ausnahmslos jeder Kritiker. "Mätzchenloses und zugleich phantasievolles Schauspielertheater",
feiert Nachtkritiker Hartmut Krug. Und: "Die
scheinbar stille Gemütlichkeit selbst bei den existentiellen Konflikten, die Turgenjews Roman atmet, gibt der Aufführung eine ganz eigene Sinnlichkeit", so Krug weiter. Weniger begeistert war Ulrich Seidlers in der
Berliner Zeitung, der die Bühnenbearbeitung
zu verplaudert fand: "Was der Romancier subtil andeutet, rufen hier die Figuren einander zu oder spielen es
überkenntlich aus." Doch lobt auch er das Ensemble, das den Abend gerettet habe.
Geradezu dankbar
ist Joachim Huber vom
Tagesspiegel für
Alvis Hermanis' Provokationen - auch wenn er ihnen politisch offenbar nicht folgen mag. Aber der Lette mische den in der Behaglichkeit des Juste Milieu eingeschlafenen Betrieb wenigstens gründlich auf: "Wenn der Regisseur "doch mit seinem Elektroschocker dazwischenhaute, seine wüsten Thesen
auf die Bühne wuchten wollte. In diese noble und
nobel ausstaffierte Abschottungswelt namens Theater hinein, wo die Semperoper in Dresden aus Protest das Licht ausschaltet, wenn Pegida protestiert. Wo die Staatsoper im Schillertheater 30 000 Euro für die Flüchtlinge sammelt. Das ist sozial, das ist solidarisch, das ist eines nicht:
Theater,
das die Zeit braucht; Theater, das die Zeit aufsaugt; Theater, das die Zeit ein- und ausatmet; Theater, das
kein Zeitvertreib ist."
Besprochen werden außerdem
Alvis Hermanis' Pariser Inszenierug von
Berlioz' "Damanation de Faust" (
FAZ),
Kornél Mundruczós Frankfurter Bühnenbearbeitung von
J.
M.
Coetzees Roman "Schande" (
FR),
David Schalkos "Kimberly" in Köln (
Welt),
Friederike Wagners Inszenierung des "Besuch" der alten Dame" am Schauspielhaus Zürich (
NZZ),
Ivan Panteleevs Inszenierung von
Heiner Müllers "Philoktet" in München (
Nachtkritik) und
Armin Petras Inszenierung von Shakespeares "Sturm" am
Schauspiel Stuttgart (auch wenn sein Vertrag gerade erst verlängert wurde, könne man dem Stern des einstigen Gorki-Intendanten derzeit beim Sinken zusehen, meint
FAZ-Kritiker Martin Halter)
.Film, 14.12.2015
Die neue Technologie der
360-
Grad-
Videos, die sich behelfsmäßig mit Smartphone und Pappvorrichtung als Quasi-Virtual-Reality-Filme betrachten lassen, ist nicht nur ein Gimmick für Werbeclips, sondern könnte auch für den
politischen Dokumentarfilm nutzbar gemacht werden,
meint Michael Moorstedt in der
SZ. Endlich könne der Zuschauer am Elend der Welt so richtig teilhaben: "Das
konventionell vermittelte Elend, das jeden Tag auf die Menschen einprasselt, sei es in den sozialen Medien oder im Fernsehen, scheint vielen nicht mehr auszureichen, um ein
Mitgefühl zu entwickeln. Da ist es nur konsequent, dass [Regisseur] Milk seine erste Dokumentation namens
'Clouds over Sidra' das erste Mal Anfang des Jahres auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos gezeigt hat. Der Zuschauer sieht, nein, er befindet sich im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatari, das schon längst kein Camp mehr ist, sondern
eine Stadt mit rund 80 000 Einwohnern. Blickt er an sich herab, sieht er Kinder herumwuseln."
Weiteres: Im
Interview mit
critic.de spricht der Rechtswissenschaftler
Martin Eifert über Grenzen des neuen
Filmförderungsgesetzes. Die
NZZ meldet die Gewinner der Europäischen Filmpreise 2015: Abräumer war
Paolo Sorrentinos Film "Youth", der den Preis für den besten Film, den besten Regisseur und den besten Hauptdarsteller erhielt. Jenni Zylka (
taz), Jan Schulz-Ojala (
Tagesspiegel) und Andreas Kilb (
FAZ) berichten von der Vergabe des 28.
Europäischen Filmpreises.
Besprochen werden die
Netflix-Serie "Jessica Jones" (
Berliner Zeitung)
und
im Tagesspiegel eine Biografie über
Curd Jürgens, dem das Deutsche Filmmuseum seit gestern
eine Online-Ausstellung widmet.
Kunst, 14.12.2015

So konventionell und heldenverehrend ist der Maler
Paul Delaroche gar nicht,
lernt Tilman Krause in der Ausstellung "Geschichte als Sensation" im Leipziger
Museum der bildenden Künste. Da gab's im 19. Jahrhundert ganz andere, weiß Krause, der staunend vor Delaroches
Napoleon-Porträt steht: "Was für eine Kampfansage auch gegen die offizielle Napoleon-Ikonografie der Lehrer Delaroches vom Schlage eines David, Gérard, Gros! Da lümmelt ein
ausgepowertes Dickerchen in vor Dreck starrenden Stiefeln, einen grauen Militärmantel über der weißen, wie ein Karnevalskostüm wirkenden Paradeuniform auf einem Empire-Stuhl und starrt nur noch stumpf und dumpf ins Leere. Keine Frage, das ist ein geschlagener Mann. Ein Kriegsheld als
müder,
derangierter Spießer." (
Bild: Paul Delaroche, Napoleon I. in Fontainebleau am 31. März 1814 nach Empfang der Nachricht vom Einzug der Verbündeten in Paris, 1845, Museum der bildenden Künste Leipzig)
Weiteres: Anlässlich einer
Rémy-Zaugg-
Retrospektive im Siegener Museum für Gegenwartskunst
denkt Gabriele Hoffmannin einem Essay für die
NZZ über die Verwendung von
Schrift in der Kunst nach. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung von
Sean Scully in der
Galerie Kewenig in Berlin (
Tagesspiegel),
Fazal Sheikhs Fotoband "Erasure" (
SZ) und die Ausstellung "Politischer Populismus" in der
Kunsthalle Wien (
SZ).
Literatur, 14.12.2015
Robert Gernhardt und
Heinrich Heine wurden beide am 13. Dezember geboren. Zur Erinnerung hat Uwe Wittstock in seinem Blog ein
Gespräch mit Robert Gernhardt online gestellt, das er 2006 mit Gernhardt über Heine und den
Humor als Waffe führte. Dazu Gernhardt: "Ich glaube, Heine wollte sich immer zwischen alle Stühle setzen. Das war bei ihm
habituell. Wenn er seine Leser in einem Gedicht mit einem rührenden Effekt gepackt hatte, dann
stach ihn der Hafer und er ließ den gefühlvollen Zeilen gleich die witzige Farce folgen. Das zieht sich durchs ganze Werk. Es kommt mir vor, als hätte Heine daraus geradezu ein Konzept gemacht."
Weitere Artikel: Die
Zeit hat
Lutz Seilers Erinnerung an seinen Aufenthalt in der Villa Massimo
online nachgereicht. Für die
FAZ hat sich Lena Bopp mit der
Schriftstellerin Shumona Sinha getroffen. Michael Siebler befasst sich in der
FAZ mit der Rezeptionsgeschichte der
Ilias.
Besprochen werden
Gary Shteyngarts "Kleiner Versager" (
Tagesspiegel),
Durs Grünbeins "Die Jahre im Zoo" (
online nachgereicht von der
FAZ),
Yiyun Lis Schöner als die Einsamkeit" (
FR),
Joann Sfars und
Lewis Trondheims Abschluss der Comicreihe "Donjon" (
SZ), die
Arno-
Schmidt-Ausstellung in der
Akademie der Künste in Berlin (
Jungle World)
sowie eine Ausstellung mit Comics über das "Dritte Reich" in der
Galerie im Saalbau in Berlin (
taz).
Und in der online nachgereichten Frankfurter Anthologie
schreibt Jan Völker Röhnert über
Heiner Müllers Gedicht "Fahrt nach Plovdiv":
"Mariza. Hier wurde Orpheus zerrissen
Von den thrakischen Weibern mit dem Pflug.
Flußab trieb sein singender Schädel. Der Fluß
..."
Musik, 14.12.2015
Für die
SZ unterhält sich Reinhard J. Brembeck mit dem Solisten
Maurice Steger über die Vorzüge der
Blockflöte. Besprochen wird ein Konzert von Madonna in Zürich (
NZZ).
Architektur, 14.12.2015
Ben van Berkels Bahnhof von Arnhem. Foto: unstudioDie Niederlande bauen ihr Hochgeschwindigkeitsnetz für die Bahn aus und gleichzeitig sechs neue Bahnhöfe.
Besonders angetan hat es
NZZ-Kritiker Paul Andreas
Ben van Berkels neuer Bahnhof Arnhem Centraal. Schon dessen Empfangshalle gibt den
Blick frei auf alle "durch Krümmungen und Windungen verbundenen Ebenen und die unterschiedlichen Strömungsbewegungen, die sich auf ihnen vollziehen", lobt er. "Das ist äußerst praktisch, weil es den gestressten urbanen Nomaden - über 100 000 sollen es pro Tag sein -
augenblicklich einen Überblick verschafft. Frei nach dem Motto 'What you see is what you get' wird ihnen ihr Ziel - das Ticket-Center, die beiden unterirdisch angelegten und doch sichtbaren Velo-Ebenen, die Überlandbusse, die verglasten Parkdecks - direkt vor Augen geführt, und sie
wissen ohne Beschilderungen, über welche Boden- oder Brückenrampen sie sich wohin wie bewegen müssen - Treppenstufe gibt es im Bahnhof von Arnhem keine einzige."
Diese Ausstellung kommt "
15 Jahre zu spät", ärgert sich Laura Weißmüller in der
SZ über die dem Architekten
Ferdinand Kramer gewidmete Retrospektive
in Frankfurt. "Denn während jetzt das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt die Bauten von Ferdinand Kramer (1898-1985) würdigt, werden genau diese Häuser an anderer Stelle in der Stadt
mutwillig zerstört. Sie rotten vor sich hin oder sind bereits in aller Heimlichkeit abgerissen worden. Dabei müsste man eigentlich stolz sein auf dieses Stück Geschichte. Es ist ein
Skandal."
Außerdem: Klaus Englert schreibt in der
FAZ über die mittelalterliche Schiffswert in
Barcelona, "fraglos eines der eindrucksvollsten Baudenkmäler" der Stadt.