Efeu - Die Kulturrundschau

Freiheitssüchtiges Grollen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2015. Die FAZ hört Neue Musik in Indonesien. Das Art Asia Pacific Magazine stellt drei Künstlerinnen aus Bangladesch vor. N+1 erzählt die Geschichte des russischen Theaters seit der Wende. Die SZ bewundert die diskrete Architektur Renzo Pianos. Die Musikkritiker müssen immer noch Lemmy Kilmisters Tod verarbeiten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.12.2015 finden Sie hier

Bühne


Szene aus Lars von Triers "Idioten" am Gogol Center. Inszenierung: Kirill Serebrennikov

Im amerikanischen Magazin n+1 erzählt Maksim Hanukai eine kurze Geschichte des russischen Theaters, das sich nach der Wende mit dem Neuen Drama neu erfand: mit neuen Stücken, einer neuen, direkten Sprache und radikalen Inszenierungen etwa am Gogol Center oder bei Teatr.doc. Trotz des Backlashs in den letzten Jahren (der Kreml strich unliebsamen Theatern einfach die Gelder), gibt es kein Zurück mehr zum alten Staatstheater, hofft Hanukai: "Das bedeutet natürlich nicht, dass die Theater nicht zu allen möglichen Notmanövern gezwungen sind. Der Theaterkritiker Pavel Rudnev hat kürzlich vorgeschlagen, die Theater sollten eine neue allegorische Sprache entwickeln, die an die äsopische Sprache der späten Sowjetunion erinnert, und neue Themen erforschen, vor allem den 'erlösenden Traum'. Wenn er recht hat, wäre dies ein radikaler Bruch mit den Prinzipien des Neuen Dramas, das das Publikum durch eine 'direkte Sprache' (priamoe vyskazyvanie) aufwecken wollte. Russische Theater könnten wieder in das harmlose, oder wie Davydova es nennt 'Naphtalin-Theater' der Vergangenheit zurückfallen. Das Flugzeug mag zwar nicht abstürzen, aber es wird auch nicht abheben."

Weiteres: Im Tagesspiegel schreibt Peter von Becker zum 20. Todestag von Heiner Müller.

Besprochen werden die Adaption von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" als Musical in London (NZZ), Frederick Ashtons Choreografie "La Fille mal gardée" in Wien (Standard) und Daniela Löffners Bühnenbearbeitung von Iwan S. Turgenjews Roman "Väter und Söhne" am Deutschen Theater Berlin (SZ).
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Film

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Je suis Charlie" (NZZ), Eli Roths Psychothriller "Knock Knock" (Presse), Naomi Kawases "Kirschblüten und Rote Bohnen" (Berliner Zeitung) und der türkische Horrorfilm "Baskin" von Can Evrenol ("komische Erleichterung trifft auf grimmigste Entgeisterung", verspricht Bert Rebhandl in der FAZ).
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Stichwörter: Horrorfilm, Kawase, Naomi

Kunst


Nazia Andaleeb Preema, Cosmopolitan, 2009

Im Art Asia Pacific Magazine stellt Melia Belli Bose drei Künstlerinnen aus Bangladesch vor, die in ihren Arbeiten über Geschlechterrollen nachdenken: Tayeba Begum Lipi (b. 1969), Dilara Begum Jolly (b. 1960) und Nazia Andaleeb Preema (b. 1974). Letztere "is an anomaly in Dhaka's social and artistic circles. Both an artist and a director of a national marketing organization, she intertwines her identity and art and flirts with public scrutiny to great success. She is unmarried and often appears in social media and in her exhibition catalogs flaunting a cigarette or cocktail - illegal for Muslim nationals in Bangladesh. While many educated, upper-class Bangladeshi women engage in such 'unladylike' behavior, Preema is among the few to do so openly. Her art both luxuriates in its creator's sensuality and responds to her society's condemnations of her lifestyle. 'My life itself is an inspiration for my art,' she has said."

Weitere Artikel: Thomas Ribi verabschiedet in der NZZ den Leiter des Museums Oskar Reinhart in Winterthur, Marc Fehlmann, der künftig das Historische Museum Berlin leiten wird. Michael Kohler schreibt in der FR zum Tod von Ellsworth Kelly. In der FAZ unterhält sich Brita Sachs mit dem Mäzen Franz Herzog von Bayern, einem der Gründerväter des Vereins der Freunde der Pinakothek der Moderne.

Besprochen werden die Ausstellung "TeleGen: Kunst und Fernsehen" im Kunstmuseum Bonn (SZ), die Ausstellung "A Few Free Years" aus Beständen der Flick Sammlung im Hamburger Bahnhof in Berlin (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Der schwierige Raum" im Kunsthaus Muerz in Mürzzuschlag (Standard), die Ausstellung "Der versunkene Schatz: Das Schiffswrack von Antikythera" im Antikenmuseum Basel (SZ), die Ausstellung "Florenz - Porträts am Hofe der Medici" im Musée Jacquemart-André in Paris (Tagesspiegel) und eine Ausstellung der Arbeiten von Michael Müller, João Maria Gusmão und Pedro Paiva in den Kunst-Werken Berlin (taz).
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Literatur

Die Zeit hat die Reportage von Clemens Setz über die Robotermesse in Tokio online gestellt: Passend zu der Sache mit den interstellaren Reisen und der Biologie gab es übrigen auch auf Boing Boing kürzlich einen lesenswerten Essay des Science-Fiction-Autors Kim Stanley Robinson. In der FR schreibt Judith von Sternburg über Rudyard Kipling, der vor 150 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Michail Prischwins Roman "Der irdische Kelch" (NZZ), Michael Stolleis' Rechtsgeschichte "Margarethe und der Mönch" (NZZ), Brigitte Kronauers Essaysammlung "Poesie und Natur / Natur und Poesie" (FR), die Comicserie "Locke & Key" von Joe Hill und Gabriel Rodriguez (Tagesspiegel), Alexander Kluges "Kongs große Stunde - Chronik des Zusammenhangs" (SZ),Manuel Chaves Nogales' "Die Erinnerungen des Meistertänzers Juan Martínez, der dabei war" (SZ), neue Bücher über Berlin (Freitag) und diverse Kipling-Bücher (FAZ).
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Architektur

Sehr beeindruckend findet Joseph Hanimann (SZ) die Arbeiten von Renzio Piano, dem die Pariser Cité de l'Architecture et du Patrimoine derzeit eine Ausstellung widmet. Insbesondere Pianos Dezenz und landschaftsarchitektonische Anschmiegsamkeit imponieren ihm: "So berühmt und auffällig [seine Gebäude] sein mögen, Centre Pompidou in Paris, 'Shard'-Hochhaus an der Tower Bridge in London, New-York-Times-Building, Paul-Klee-Zentrum bei Bern, Kansai-Flughafenterminal in Osaka, scheinen sie in ihrer jeweiligen Umgebung doch nur immer zu flüstern. Der Italiener, der in Deutschland erstaunlich wenig gebaut hat, gehört zu den diskretesten Architekten seiner Generation ... Renzo Piano prunkt nicht mit ästhetischer Kühnheit, technischer Höchstleistung, klimatischer Totaleffizienz, und einen 'Renzo-Piano-Stil' gibt es eigentlich auch nicht." (Bild: ADCK - Centre Culturel Tjibaou / RPBW - Renzo Piano Building Workshop Architects / Foto: Pierre Alain Pantz)
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Musik

Ziemlich grandios findet es Max Nyffeler von der FAZ, was dabei entsteht, wenn das aus der Neuen Musik kommende Frankfurter Ensemble Modern auf Initiative des Goethe-Instituts mit indonesischen Komponisten zusammenarbeitet: "Von ihrer Machart her waren die acht Stücke denkbar verschieden; als Gesamtmosaik erschienen sie wie ein Abbild der facettenreichen indonesischen Inselwelt. ... Die Neue Musik, eine europäische Fortschrittsidee, schlägt ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung nun auch Wurzeln in den einst 'exotisch' genannten Ländern. Das Neue selbst bekommt damit eine andere Qualität. Es gibt wieder viel zu entdecken. "

Die Popkritiker öffnen dem verstorbenen Motörhead-Reibeisen Lemmy Kilmister zu Ehren zahlreiche Whiskeyflaschen und heben in ihren Nachrufen zum Rock'n'Roll-Requiem an. "Wenigstens passt die Art seines Todes zu seinem Leben - er starb nur zwei Tage nach der [Krebs-]Diagnose. Rasanz und Umstandslosigkeit prägten neben Lautstärke seine Persönlichkeit und sein ästhetisches Programm", gibt Markus Schneider in der Berliner Zeitung zum Besten. In seinem epischen Nachruf für den Tagesspiegel hält Kai Müller fest: "Die radikale Reduktion der Rockmusik auf ihre Urmuster, auf schwarze, schmucklose Klamotten, so dass der Kern des Ganzen wieder lesbar wurde, machte Lemmy zu einem der Urväter des Heavy Metal." Neben Elvis gab es wohl "nie einen ikonischeren Rockstar als Lemmy Kilmister", schreibt Andreas Hartmann in der taz.

Ulrich Gutmair erinnert sich in der taz an seine letzte Begegnung mit dem Rocker vor wenigen Wochen. Metal-Spezi Dietmar Dath schwärmt sich in der FAZ nicht nur an glorreiche Konzerte in den 80ern, sondern fragt sich auch, ob Lemmy sich seine charakteristische Stimme wohl mit "glühenden Kohlen" im Rachen erarbeitet habe. "Wenn es einen Himmel gibt, dann ist Lemmy Kilmister nun in der Hölle", weiß Stefan Behr in der FR und verweist auf das äußerst unterhaltsame Gespräch, das Moritz von Uslar 2003 mit dem Verstorbenen für das SZ-Magazin geführt hat. Warum Kilmister die Grenzen der Metalszene weit überstrahlte, weiß Ulf Poschardt in der Welt: Das "Freebasen von Identität und Wüstheit gab dem rebellischen, freiheitssüchtigen Grollen eine ikonografische Exzellenz, die auch jungen Kunststudentinnen mit enger 501-Jeans, grüner Bomberjacke und spitzen Cowboystiefeln verführte, das Motörhead-T-Shirt zu tragen." Außerdem bringt die SZ eine Bilderstrecke. Und nicht zu vergessen: Vor Motörhead spielte Lemmy in der Fantasyrockband Hawkwind. Hier ihr Hit "Silver Machine" mit dem noch blutjungen Lemmy am Mikro:


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