Efeu - Die Kulturrundschau

Rausch des differenzlosen Denkens

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11.01.2016. Nachtkritik und NZZ erleben in Jans Bosses Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" das Zusammenspiel Hysterie und Kalkül. In der NZZ wird Laszlo F. Földenyi Zeuge, wie Dürer bei Giorgione in Venedig die Melancholie kennenlernte. Die Welt besingt die glamourösen Filmproduzentinnen der Nouvelle Vague. Die SZ erinnert daran, wie André Courrèges die Geschwindigkeit in die Mode brachte. Und völlig überraschend kommt die Meldung: David Bowie ist tot.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.01.2016 finden Sie hier

Musik

Sehr plötzlich kommt die traurige Nachricht, dass David Bowie gestorben ist, hier die BBC-Meldung. Der Guardian verlinkt in einem Liveticker auf erste Reaktionen und bringt viele großartige Fotos. In der taz schreibt Stephanie Grimm noch von der Geburtstagsfeier für den Hero und "Lieblingscousin aller Außerirdischen" in Berlin.

Hier fragt er noch "Where are we now":



Weiteres: In der NZZ erinnert Robert Jungwirth an das Schicksal des Dirigenten Hermann Levi, der die Musik Wagners liebte und unter dem Antisemitismus des Komponisten litt. Als "großen Abend" feiert Jan Brachmann in der FAZ Christian Thielemanns Konzert mit den Berliner Philharmonikern und Ernest Chausson sowie Gabriel Fauré: "Noch wirkt freilich der vibratoreiche Streicherklang der Philharmoniker unter seiner Leitung verspannt, fließt nicht frei und gelöst wie die exzellenten Holzbläser, die das Meer rauschen und die Vögel in herrlicher Ungezwungenheit fortflattern lassen."
Archiv: Musik

Bühne


Szene aus Arthur Millers "Hexenjagd" in der Zürcher Inszenierung von Jan Bosse

Analytisch sachlich, aber auch sehr witzig findet Andreas Klaeui in der NZZ Jan Bosses Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" in Zürich: "'Hexenjagd' spielt im 17. Jahrhundert und meint selbstverständlich das Heute - Millers Heute der amerikanischen fünfziger Jahre, des Kalten Kriegs und Joseph McCarthys Jagd auf 'unamerikanische Umtriebe', sprich das 'Kommunistische', das sich namentlich bei Künstlern und Intellektuellen orten ließ und Miller selbst eine Gefängnisstrafe einbrachte. Wer sein Stück im Theater auf den Spielplan setzt, muss wiederum sein eigenes Heute meinen - gab es je die aufgeklärte Zeit, in der dieser Stoff unerheblich geworden wäre? Es ist nicht das kleinste Verdienst von Bosses Inszenierung, dass sie solche Bezüge zwar nahelegt, aber nicht expliziert."

Ähnlich sieht es Andreas Tobler in der nachtkritik. Auch er ist dankbar, dass Bosse auf alle allzudeutlichen Verweise auf die Gegenwart verzichtet: "In Sachen Virtuosität ist in Bosses Inszenierung wirklich vieles sehr gut gemacht, zum Teil sogar verdammt gut. Und doch dreht dieses Virtuosentum bald leer, was nunmal mit dem Stück zu tun hat, das als unmittelbare Reaktion auf die McCarthy-Ära wahrscheinlich etwas vom Klügsten war, sodass man selbst heute noch sein Hütchen davor lüpft. Aber bruchlos auf die Gegenwart übertragen kann man diese 'Hexenjagd' dann doch nicht. Dafür müsste man in einen Rausch des differenzlosen Denkens verfallen - dem Bosse zum Glück konsequent widersteht."

Weiteres: In der NZZ schreibt Daniele Muscionico zum Fünfzigsten des Theaters Neumarkt in Zürich.

Besprochen werden die Uraufführung von Thomas Köcks Stück "Isabelle H. (geopfert wird immer)" durch Ingo Putz am Pfalz-Theater Kaiserslautern (nachtkritik), Roland Schimmelpfennigs Fukushima-Stück "An und Aus" im Mannheimer Nationaltheater (nachtkritik, FAZ), David Böschs Münchner Inszenierung von "Mensch Meier", Franz Xaver Kroetz' Stück aus der alten Fließbandarbeiter-BRD (nachtkritik), Ana Zirners halbdokumentarischer Abend "Flammende Reden, brennende Plätze" in St. Pölten (nachtkritik), Ronny Jakubaschks Inszenierung von Lessings "Miss Sara Sampson" am am Rheinischen Landestheater Neuss (nachtkritik) und ein Abend von Rimini Protokoll zu Hitlers "Mein Kampf" beim Kunstfest Weimar (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Es mag keine Beweise dafür geben, dass Dürer und Giorgione sich kannten, dennoch sind sie sich in Venedig begegnet, davon ist Laszlo F. Földenyi in der NZZ überzeugt. Neben einigen offiziellen Treffen, für die Földenyi Indizien sammelt, beschreibt er einen Atelierbesuch Dürers bei Giorgione, wo er "Das Gewitter" sah, ein Gemälde, das ihn zutiefst beeindruckt und verwirrt haben musste, weil es keine verständliche Geschichte erzählt: "Ein fantastischer Raum, mag Dürer zu Giorgione gesagt haben. Ein Raum der Phantasie also. Denn mag er noch so realistisch erscheinen, es ist ein Raum der Phantasie, in dem alles in einer Weise real ist, dass es als Ganzes dennoch etwas Traumhaftes hat. Alles ist so vertraut, und doch sucht man vergeblich nach einem umfassenden Sinn. Vermutlich entstand in Dürer bei der Betrachtung des 'Gewitters' zum ersten Mal eine klare Vorstellung dessen, was Melancholie sei." (Bild: Giorgione "Das Gewitter", um 1508, Gallerie dell'Accademia)

Weitere Artikel: Sebastian Borger (FR) kommt erleichtert aus dem Londoner Victoria & Albert Museum, das in seiner neu konzipierten Galerie "Europa 1600-1815" keinen Gegensatz zwischen Kontinent und Großbritannien aufmacht.

Besprochen werden eine Ausstellung von Ben Vautier im Basler Museum Tinguely (NZZ), eine Ausstellung mit Kunst aus Südafrika im Frankfurter Weltkulturen Museum (taz) und eine Ausstellung des Hofmalers Franz Xaver Winterhalter im Augustinermuseum in Freiburg (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Gunter Becker unterhält sich in der taz mit Christine Ott und Michael Pfeuffer über ihren Würzburger Stellwerk Verlag, Electropoesie und das Büchermachen der Zukunft: "Es geht uns tatsächlich vorrangig um inhaltliche Fragen wie: Wie innovativ ist ein Text? Wir betrachten uns als Projekt für Nachwuchsliteratur, möchten neue AutorInnen über Workshops aufbauen, ihnen Formate und Auftrittsmöglichkeiten verschaffen. Wirtschaftliche Fragen stellen sich uns erst, wenn wir akute Geldnot haben."

Besprochen werden Frans Eemil Sillanpääs Erzählung "Hiltu und Ragnar" (FR), Bora Ćosićs Roman "Die Tutoren" (SZ), Wolfgang Wills Doppelbiografie der beiden Geschichtsschreiber "Herodot und Thukydides" (SZ)
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Design




Anschnallen! Futuristische Kollektionen der 60er Jahre von André Courreges.

In der SZ schreibt Jan Kedves einen Nachruf auf den französischen Designer André Courrèges, der in der Geschichte der Mode das Space Age einläutete: "Frauen, wie vom Himmel gefallen. In weißen, geometrischen, gestreiften Astronautinnen- und Rennfahrerinnen-Anzügen. Die Models surrten bei den Modeschauen mit elektrisierten Vehikeln über den Laufsteg, halb Skateboard, halb Golfcart. Courrèges' Frau und Mitarbeiterin Coqueline hatte diese Gefährte ausgetüftelt. Mobilität lautete das Versprechen der Zeit. 'Man geht nicht mehr durchs Leben. Man rennt. Man tanzt. Man fährt Auto. Man nimmt das Flugzeug statt den Zug. Auch Kleidung muss sich bewegen können', sagte Courrèges."

In der NZZ erzählt ein angeregter Albert Kirchengast von seinem Besuch einer Einzelschau zum Werk des Architekten und Designers Josef Frank im Wiener Museum für angewandte Kunst: "Es handelt sich um keine Werkschau - eher um eine geistige Auseinandersetzung mit Architektur. Diese führte der Theoretiker [Gastkurator Hermann] Czech schon 1985 in seinem 'Begriffsraster zur aktuellen Interpretation Josef Franks', an der man nun räumlich teilhaben kann. Damals wie heute kulminiert das Gedankengebäude im Begriff 'Akzidentismus'. 'Wie wenn es schon (immer) so gewesen wäre', umschreibt Czech jenes Gestaltungsprinzip, für das Frank erst 1958 das originelle Lehnwort findet."
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Film


Marina Vlady in Godards "Deux ou trois choses que je sais d'elle"

Im Berliner Kino Arsenal läuft seit Samstag eine Reihe mit Filmen, die Mag Bodard produziert hat - für Gerd Midding in der Welt willkommener Anlass für eine kleine Hommage an die großen Filmproduzentinnen Frankreichs: "Alice Guy-Blaché, Christine Gouze-Renal, Danièle Delorme oder Nicole Stéphane, Die ehemalige Résistance-Kämpferin, "eine gebürtige Rothschild, fing als Darstellerin bei Jean-Pierre Melville an, war eine kühne Freischärlerin, die unter anderem Filme ihrer Geliebten Susan Sontag produzierte und die Filmrechte an Prousts 'Auf der Suche nach der verlorene Zeit' hielt. Allen diesen Frauen ist gemeinsam, dass ihre Karrieren im Fahrwasser, aber weitgehend unabhängig von der Nouvelle Vague begannen."

Unter anderem Zeit Online meldet die heute Nacht vergebenen Golden Globes für Leonardo DiCaprio, Matt Damon und Alejandro González Iñárritu.

Besprochen wird Brian Helgelands Gangsterfilm "Legend" (Welt).
Archiv: Film