Efeu - Die Kulturrundschau

Hektisch und gleichzeitig unbeirrbar

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26.01.2016. Slate.fr freut sich auf graue Zeiten in der Architektur: Es wird wieder mit Beton gebaut. Die NZZ begrüßt sehr, dass sie sich wieder an Wolfgang Rihms "Hamletmaschine" abarbeiten darf. Außerdem preist sie den spröden Charme Javier Sebastians. Luk Percevals Steinbeck-Inszenierung "Früchte des Zorns" fällt dagegen komplett durch. Die taz berichtet vom Eklat beim Max-Ophüls-Festival. Welt und Berliner Zeitung betrachten bewegt die in Berlin gezeigte Kunst aus dem Holocaust.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2016 finden Sie hier

Architektur


So schön und standfest kann nur Beton sein: Norman Fosters Viaduct von Millaut.


Der Beton kehrt zurück, freut sich David Abittan auf Slate.fr nach der Ausstellung "Sacré béton!" im Musée urbain Tony Garnier in Lyon. Lange verhasst und nur von Architekten als "Marmor des 20. Jahrhunderts" geliebt, ist Beton nämlich ökologischer, ökonomischer und sozialer als jeder andere Baustoff. Und dass er nicht schön sein könne, sei ein Irrtum: "Dass die Beton-Architektur oft als Brutalismus bezeichnet wurde, verstärkte das Missverständnis. Der abwertende Aspekt des Wortes, das sich in Wahrheit auf den rohen Beton, nicht auf die Brutalität seiner Anwendung bezog, ist zu unrecht mit dem Gebrauch des Material verbunden worden. Denn alles in allem hat die Nachkriegsarchitektur aus Beton eine ganze Vielzahl von Formen hervorgebracht. Sicher, viele dichtgedrängte Riegel und hohe Türme, aber auch anmutige Bauten wie das Cnit in La Défense 1952, die maison bulles von Antti Lovag aus den 70er und 80er Jahren, das Prinzenparkstadion in Paris von 1972 und das Auditorium in Lyon von 1975."
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Kunst

Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt als Leihgabe von Yad Vashem 100 in Konzentrationslagern und Ghettos entstandene Kunstwerke. Die Kritiker sind ergriffen: "Sensationell" sei diese Ausstellung schon deshalb, schreibt Christian Schröder im Tagesspiegel, "weil es diese Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde überhaupt gibt. Neben Schreckensdarstellungen zeigen die Bilder "zugleich das Elementarste und Berührendste: Motive der Erinnerung und Zuversicht", erklärt Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung: "Die Sehnsucht nach Kunst stemmte sich gegen die Entmenschlichung durch die Deutschen." Für Marcus Woellner verstärkt sich in der Welt die die Wirkung der Bilder noch durch das breite Spektrum: "Hier hängen die Bilder eines Kindes ganz selbstverständlich neben Gouachen von Charlotte Salomon, Kohlezeichnungen von Ludwig Meidner oder Bleistiftskizzen von Otto Ungar." (Bild: Karl Bodek & Kurt Löw, Ein Frühling, 1941, Yad Vashem Art Museum, Jerusalem)

Weiteres: Erik Wenk vom Tagesspiegel porträtiert die pakistanische Comiczeichnern Nigar Nazar, deren Arbeit derzeit in Potsdam ausgestellt wird. Für die SZ hat Kia Vahland das erweiterte Museum Unterlinden in Colmar besucht, wo man den Isenheimer Altar nun in einem neuen Kontext erleben kann: "Großartig ist, wie behutsam der neue Parcours im Museum auf den Altar hinführt." In der SZ stellt Peter Münch die Künstlerin Dalia Abdel-Rahman vor, die in Gaza triste Fassaden verziert.
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Film


Erhielt den Max-Ophüls-Preis: Stephan Richters Film "Einer von uns"

Das Max-Ophüls-Festival ging in Saarbrücken mit einem gewissen Eklat zu Ende, berichtet Jenni Zylka in der taz: Die künstlerische Leiterin Gabriella Bandel hat gekündigt, weil sie es nicht für ihre Aufgabe hielt, nach dem Absprung des Hauptsponsors eine neue Finanzierung zu organisieren: "Weil Oberbürgermeisterin Charlotte Britz die Chance verstreichen ließ, bei ihrem mit Pfiffen und Buhrufen kommentierten Auftritt während der Gala auch nur ein Wort darüber zu verlieren, bleibt in der Schwebe, in welche Richtung sich das renommierte Festival jetzt entwickeln wird." In der FAZ schreibt Tilman Spreckelsen.

Weiteres: Dem Oscar-Streit möchte Ian McKellen noch hinzufügen, dass die Homophobie übrigens genauso ein großes Problem in Hollywood sei wie der Rassismus, meldet Mark Brown im Guardian. Mit "Inglourious Basterds" und "Django Unchained" hat Quentin Tarantino den Gipfel seines Schaffens erreicht, mit seinem neuen Film "The Hateful 8" verwaltet er "erstmals fühlbar sein Erbe", erklärt ein überschaubar begeisterter Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel. Hans-Peter Kunisch berichtet in der SZ von einer Tagung über den Schriftsteller und Filmemacher Thomas Harlan. Ganz Italien fliegt auf die Komödie "Quo vado?", mit der Checco Zalone ans alte, mit Berlusconis erster Präsidentschaft beendete Italien erinnert, berichtet Thomas Steinfeld in der SZ. Die Zeit hat Katja Nicodemus' Gespräch mit Alejandro González Iñárritu über dessen neuen Film "The Revenant" online nachgereicht. In der Welt fragt sich Iris Alanyali, ob die wiederaufgenommene Serie "Akte X" angesichts so vieler tatsächlicher Bedrohungen immer noch funktionieren wird.

Besprochen werden John Crowleys "Brooklyn" (taz, FAZ) und S. Craig Zahlers nur auf DVD erschienener Western "Bone Tomahawk", der Sascha Keilholz von critic.de sehr gefallen hat.
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Literatur

In den romanischen Ländern lotet man übrigens die europäische Krise schon seit langem aus, betont Meike Albath in der NZZ und preist im Aufmacher den spanischen Schriftsteller Javier Sebastian, bei dem sie auch Anklänge an Graham Greene und Leonardo Sciascia entdeckt: "Javier Sebastián ist ähnlich konzentriert, spröde und zurückgenommen. Schon in 'Der Radfahrer von Tschernobyl' bestand darin seine grosse Qualität. In 'Thallium' macht gerade seine Diskretion die Figuren so einprägsam: Carmen mit ihrem Cheviot-Mantel und den sinnlichen Augen, der kühl agierende Salinas, der später verwahrlost wirkt, die Journalistin Fátima, hektisch und gleichzeitig unbeirrbar."

In der SZ resümiert Volker Breidecker die Litprom-Tage in Frankfurt, die eine Poetik für die chaotische Welt suchten.

Besprochen werden Kat Kaufmanns "Superposition" (SZ), Ouyang Jianghes Langgedicht "Der Doppelphönix" (Tagesspiegel), Oliver Bottinis Kriminalroman "Der weiße Kreis" (FR), Leonardo Paduras "Die Palme und der Stern" (FAZ), Peter Kurzecks "Bis er kommt" (NZZ) und eine Ausstellung über Waisenkinder in der Literatur im Foundling Museum in London (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben im Netz in Lit21, unserem fortlaufend aktualisierten Metablog.
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Musik

Dank einem überaus loyalen Alt- und stetem Nachwuchs-Publikum ist Metal ziemlich krisenfest, stellt Andreas Hartmann in der taz fest. In einem Video-Special der BBC erklärt Produzent Tony Visconti Tonspur um Tonspur die Produktion von David Bowies Hit "Heroes".

Besprochen werden das neue Album von Tortoise (Spex), Bonnie "Prince" Billys "Pond Scum" (Pitchfork), Inuk Silos Høeghs Dokumentarfilm über die grönländische Rockband Sumé (taz), ein Konzert von Chilly Gonzalez und Jarvis Cocker (taz), ein Konzert der Wiener Symphoniker mit Hilary Hahn (FR) sowie Auftakt und Abschluss des Ultraschall-Festivals in Berlin (Tagesspiegel).
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Bühne


Matthias Reichwald als Hamlet I in Sebastian Baumgartens "Hamletmaschine am Opernhaus Zürich. otograf: T+T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf

Wolfgang Rihms
"Hamletmaschine" hält Christian Wildhagen in einem sehr instruktiven Text in der NZZ für künstlerisch und repertoirepolitisch für die wichtigste und mutigste Premiere der Zürcher Saison. Die reine Freude sei sie aber nicht unbedingt, mit ihren Wiedergängern von Marx, Meinhof und Andy Warhol: "Vollends unlustig wird es in den letzten beiden Teilen, wo zuerst eine wild gewordene Horde von 'Pegida'-Demonstranten am deutschen Nationalfeiertag den insgesamt drei Hamlet-Darstellern den Garaus macht, bevor im letzten Bild eine Gruppe geifernder Amazonen in Guantánamo-Orange buchstäblich den Geist aus der Flasche lässt und die Europa-Arche flutet. Dass man vor der Übermacht, aber auch der zitathaften Beliebigkeit der Bilder nicht alsbald kapituliert, ist der Intensität von Rihms Musik zu verdanken, ihrem geradezu körperlich wirkenden Ausdruckswillen."

Luk Percevals am Hamburger Thalia aufgeführte Bühnen-Interpretation von John Steinbecks "Früchte des Zorns" als Migrationsdrama fällt bei der Kritik gründlich durch. Es mangelt an "jeglicher Empathie", lautet Frauke Hartmanns Befund in der FR, auch "der Wille des Regisseurs zur Verallgemeinerung" sowie "vielleicht auch die Hybris, letzte Wahrheiten verkünden zu wollen", stoßen ihr auf: "Es bleibt der Versuch, mit ungenauen und prätentiösen Mitteln den gleichen Effekt wie die berühmten Vorlagen erreichen zu wollen." Klaus Irler, Hamburg-Redakteur der taz, klingt da etwas versöhnlicher: "Die Inszenierung zielt auf atmosphärische Dichte, sie appelliert mehr an das Gefühl als den Verstand." Umso zorniger fällt Peter Laudenbachs Verdikt in der SZ aus: Die Regie kaschiere "mit klischeefreudigen und sehr äußerlichen Theatermitteln, dass sie weder für die Figuren noch für den Stoff noch für die Adaption des Romans einen Zugriff, geschweige denn eine Form gefunden hat." Kurz: "Trivialkitsch" und "dröhnendes Kunstgewerbe".

Weiteres: In Berlin fand eine Diskussion über Funktion und Aufgabe der Theater statt, berichtet Mounia Meiborg in der SZ und konstatiert bei allem Engagement für Flüchtlinge: "Ästhetische Fragen kamen in der Debatte etwas kurz." Für den Deutschlandfunk war Cornelius Wüllenkemper vor Ort, für den Tagesspiegel Astrid Herbold.. In Hamburg diskutierte man im Thalia Theater unterdessen über "das neue Wir", erfahren wir von Esther Slevogt auf nachtkritik.de. Für die Berliner Zeitung besucht Kerstin Krupp den Schauspieler Ivan Vrgoc, der als Regisseur Ayad Akthars Stück "Geächtet" auf die Bühne des Theater am Kurfürstendamm holt. Für den Tagesspiegel besucht Frederik Hanssen das Staatstheater Cottbus.

Besprochen werden eine Berliner "Salome" in der Inszenierung von Claus Guth (taz, Tagesspiegel), Simon Solbergs "Odyssee"-Inszenierung am Münchner Volkstheater (Nachtkritik), ein Tanzsolo von Astrid Endruweit am Berliner HAU (Tagesspiegel), Maja Kleczewskas Bühnenbearbeitung von John Maxwell Coetzees Roman "Warten auf die Barbaren" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (SZ) und Toshio Hosokawas in Hamburg uraufgeführte Fukushima-Oper "Stilles Meer" (FAZ, SZ).
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