Efeu - Die Kulturrundschau

Neoromantische Tendenz zum Düsteren

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2016. Die Zeit sucht die tiefere Bedeutung in Toshio Hosokawas Fukushima-Oper "Stilles Meer". Früher war mehr Aufbruch, seufzt die FAZ in einer Ausstellung mit Zukunftsbildern von einst bis jetzt. Im Guardian/Freitag fordern Nadia und Leila Latif mehr Diversität im Kino. Die NZZ liest sich durch japanische Gegenwartsliteratur. taz und Berliner Zeitung bereiten uns auf neue Geografien bei der Transmediale vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2016 finden Sie hier

Bühne


Szene aus Toshio Hosokawas Oper "Stilles Meer" in Hamburg. Foto: Arno Declair

Toshio Hosokawas in Hamburg uraufgeführte Oper "Stilles Meer" kann wie behauptet die Katastrophe von Fukushima verhandeln - aber auch die von Tschernobyl, Pompeji oder jeder beliebigen anderen Katastrophenstadt. "Das ist ihre Stärke und ihre Schwäche", meint Zeit-Kritikerin Christine Lemke. "Stärke: weil Hosokawa jeglichen Katastrophentourismus auf der Bühne verweigert - ihm und seinem Textdichter (und Regisseur) Oriza Hirata geht es nicht um Tsunamis und havarierte Atomkraftwerke, sondern um eine Expedition ins Innere. Und Schwäche: weil man sich fragt, warum die Geschichte überhaupt, laut Programmheft, in einem Dorf 'an der Grenze zum Sperrgebiet rund um Fukushima 1, unweit des Kernkraftwerks' angesiedelt sein muss, wenn sie so wenig Spezifisches an Konfliktpotenzial und Dramatik zu bieten hat, wenn sie so allgemein bleibt. 'Stilles Meer' schielt zu sehr nach tieferer Bedeutung, als dass man diese der Oper und ihren fünf Szenen wirklich abnähme."

Weiteres: Für die SZ spricht Egbert Tholl mit Rolando Villazón und Thomas Hampson über die komplexe Partitur, die sie in der Münchner Uraufführung von Miroslav Srnkas Oper Expeditionsoper "South Pole" singen.

Besprochen werden Ingri Fiksdals und Giorgia Nardins im Mousonturm in Frankfurt gezeigte Choreografien "Merkwürdige Gesten" (FR) und ein Auftritt des aufstrebenden Standup-Comedians Kevin Hart in Berlin (SZ).
Archiv: Bühne

Architektur

In der FAZ bringt Michael Mönninger Hintergründe zum Modellprojekt der Werkbundstadt, die in Berlin-Charlottenburg tausend neue Mietwohnung bieten soll (mehr dazu auf der offiziellen Website des Projekts).
Archiv: Architektur

Kunst


Verner Panton, Phantasy Landscape, Visiona II, IMM Köln, Möbelmesse, 1970

Ist uns die Zuversicht beim Blick auf die Zukunft abhanden gekommen? Ganz schwer ums Herz wird es jedenfalls Ursula Scheer von der FAZ bei ihrem Besuch der Ausstellung "Wie leben? Zukunftsbilder von Malewitsch bis Fujimoto" im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen: Denn "früher war mehr Aufbruch. Vor, zwischen und nach den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts und quer durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen sollte immer wieder alles neu werden: neues Bauen, neues Wohnen, neue Kunst, neuer Mensch."

Weiteres: In Frankreich ist ein bislang unbekanntes Porträt von Alexander von Humboldt aufgetaucht, meldet Julia Voss in der FAZ (mehr dazu hier).

Besprochen werden ein Bildband mit Polaroids von Andy Warhol (SZ) und die von Richard McGuires Avantgarde-Comic "Hier" inspirierte Ausstellung "ZeitRaum" im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt (FR).
Archiv: Kunst

Literatur

Daniela Tan schildert in der NZZ auffällige Tendenzen in der japanischen Gegenwartsliteratur: "Neben neuen Kommunikationsplattformen gibt es in Japan eine neoromantische Tendenz zum Düsteren und zu grenzüberschreitenden Existenzformen. Hinzu kommt eine neue starke Präsenz von Schriftstellerinnen sowie eine Dezentralisierung des Literaturmarktes."

Weiteres: In Berlin versammelt der British Council Krimi-Autoren wie Val McDermid und Philip Kerr zur großen Tagung über BritCrime, auch der Guardian überträgt die Veranstaltung im Livestream. Besprochen werden Luiz Ruffatos "Ich war in Lissabon und dachte an dich" (Tagesspiegel) und Tito Topins "Exodus aus Libyen" (SZ)

Mehr in Lit21, unserem fortlaufend aktualisiertem Wegweiser durchs literarische Leben im Netz.
Archiv: Literatur

Film

Gerade geistert die Meldung durch die Medien, dass Joseph Fiennes in dem Comedy-Kurzfilm "Elizabeth, Michael und Marlon" Michael Jackson spielen soll. Da kommen einem die Vorschläge von Nadia und Leila Latif für mehr Diversität im Kino gleich schon wieder sehr viel schon absurd vor. Der Freitag bringt die Übersetzung des ursprünglich für den Guardian verfassten Artikels. Analog zum Bechdel-Test schlagen die Autorinnen einen Test für die Darstellung von People of Color vor. Der Test soll diese Fragen an Filme stellen: "Gibt es zwei Charaktere of Color, die namentlich genannt werden? Sprechen sie? Stehen sie in einer romantischen Beziehung zueinander? Sprechen sie über irgendetwas, das nicht dazu dient, eine weiße Figur zu trösten oder sie zu unterstützen? Hat einer von ihnen definitiv keine übernatürlichen Kräfte?"

Weiteres: Geri Krebs resümiert in der NZZ die 51. Solothurner Filmtage. Besprochen werden Philippe Garrels "Im Schatten der Frauen" und Rick Famuyiwas "Dope" (Perlentaucher, Welt) sowie Christiane Büchners Dokumentarfilm "Family Business" (Tagesspiegel) und Christian Züberts "Ein Atem" (Tagesspiegel, FR).
Archiv: Film

Design

Brigitte Werneburg besucht für die taz eine Ausstellung mit Modefotografien von Michel Comte im Berliner Modekaufhaus Quartier 206: "Die Ausstellung des schweizer Fotografen zeigt ausschließlich Porträts. Und ausschließlich Frauen. Auch in der Herrenabteilung des Quartier 206. Es ist übrigens ein guter Teil des Vergnügens dieser Ausstellung, dass man erst einmal durch den ganzen Fashionbereich durchgelotst wird, bis man zu Café und Galerie gelangt. Da kann man nebenbei schauen, wie die neue Kollektion von Marni ausschaut. Wer glaubt, die Kleider hier wären teuer, der irrt." (Foto: Michel Comte, Gisele Bündchen, Vogue Italia 1999)
Archiv: Design

Musik

In Berlin beginnt heute das im Spannungsfeld zwischen elektronischer Musik und Kunst siedelnde Festival Club Transmediale, das in diesem Jahr mit "New Geographies" überschriebe ist. Mit den Kuratoren Jan Rohlf und Rabih Beaini hat sich Julian Weber in der taz unterhalten. Unter anderem geht es dabei auch um die insbesondere unter digitalen Arbeitsbedingungen liquiden Aspekte des Musikmachens als endloser Prozess: "Man kann nicht mehr sagen, dass es nur ein Aufeinandertreffen unterschiedlichster Beteiligter ist, die von der Praxis nicht weiter berührt werden. Musik ist Transformation. Es gibt keine Quelle, kein Original, nichts, auf was wir uns beziehen können. Das ist auch eine 'Neue Geografie', weil wir Musik nun als seismografischen kulturellen Sound wahrnehmen, in ihm werden einzelne Klanglemente weit deutlicher hörbar und in einem weit früheren Stadium seiner Entstehung. Und das wiederum lässt Rückschlüsse auf Gesellschaften und Kultur als Ganzes zu."

Tilman Baumgärtel hat sich für die Berliner Zeitung die das Festival begleitende Ausstellung angesehen, die die Auflösung der Gegensätze zwischen globalem Zentrum und Peripherie in der elektronischen Musik dank des Internets in den Blick nimmt. Außerdem freut sich Jens Uthoff von der taz auf den DJ-Auftritt der Betreiber von Sublime Frequencies, einem Label, das mit seinen auf weit über 100 Alben gesammelten Sounds, Field Recordings und Folk Music aus aller Welt ein regelrechtes "Klangarchiv" darstellt.

In der Welt betrachtet Manuel Brug die deprimierenden neuen Zahlen bei den Kürzungen für die Orchester in Deutschland und stellt fest: "Hier, wie in den ganzen östlichen Bundesländern, krebsen Kapellen mit zum Teil nur noch 25 Mitgliedern (wie in Eisenach) herum, die wackeren Musiker verzichten zudem auf Teile ihres Einkommens - während sich in den reichen Rundfunkorchestern und gut ausgestatteten philharmonischen Vereinigungen keiner überarbeitet - und noch in seiner Freizeit gegen Entgelt beim Nachbarorchester aushelfen darf (was letztlich der gleiche Arbeitgeber bezahlt)."

Weitere Artikel: Christian Noe stellt in der NZZ das Bochumer Electronic-Label Denovali vor. Max Dax trifft sich für die Welt mit dem Filmkomponisten und Kopf von Tuxedomoon Blaine L. Reininger. Den Berliner taz-Lesern empfiehlt Andreas Hartmann den heutigen Auftritt von Jimmy Whispers im West Germany. In der SZ erinnert sich Rudolf Neumaier an das einstmals drakonische, die Schutzbefohlenen mitunter schwer traumatisierende Regiment der Chorleiter bei den Regensburger Domspatzen: "Der Chorleiter war General und Spieß zugleich. Kinderstimmen und Kinderseelen waren für sie Rohmaterial, das geschliffen werden musste. ... Verfluchte Zeit!"

Besprochen werden ein Konzert des Tonhalle Orchesters unter Herbert Blomstedt mit Werken von Dvořák, Grieg und Lidholm (NZZ), das Album "This Machine Kills Fascists" des Tinissima Jazzquartets (NZZ), Christoph Merkis Doppelalbum "Psychedelic Mountain" (NZZ), das neue Album von Rihanna (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Sias "This is Acting" (Pitchfork), das neue Album "Love" von Get Well Soon (Tagesspiegel) und das Debüt der Nevermen (FR).
Archiv: Musik