Efeu - Die Kulturrundschau

Das Ereignis bin ich

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07.03.2016. Die Feuilletons trauern um den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der dem Barock die karajaneske Klangmasse austrieb, und zwar mit der Unbedingtheit eines Propheten. Im Tagesspiegel warnt der Dramaturg Peter Stoltzenberg: Antworten vergiften das Theater. Die taz attestiert der Kunst des Boris Lurie unverminderten Schockwert. Und die SZ lernt im Herforder Marta den Widerstand gegen designkonforme Lebensführung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2016 finden Sie hier

Musik

Die Feuilletons trauern: Vor drei Monaten hatte sich der große Dirigent Nikolaus Harnoncourt aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, nun ist er im Alter von 86 Jahren gestorben. "Fast im Alleingang brach Nikolaus Harnoncourt jene Kruste aus Schönklang, Klangmasse und karajanesk geballter Faust auf, die sich über die klassische Musik gelegt hatte", würdigt Stefan Schickhaus den Verstorbenen in der FR.

In der NZZ erinnert auch Peter Hagmann an die Wucht von Harnoncourts Wirkens: "Seither ist in der Interpretation von Musik nichts mehr so, wie es ehedem war. Und sei es bloß die schlichte, aber elementare Tatsache, dass sich heute kein Musiker mehr erlauben kann, zwei auf dem Papier gleich lange Noten in der Praxis wirklich gleich klingen zu lassen."

Reinhard J. Brembeck umschreibt in der SZ Harnoncourts Projekt: Er "dirigierte mit der Unbedingtheit eines Propheten, und sein Mozart war nicht betörend und elysisch, sondern ein kraftvoll zupackender Revolutionär, der jede Geste als Kampfansage in den Raum stellte. Die Ohren ausputzen, nannte Harnoncourt sein höchstes Ziel." Peter Uehling trauert in der Berliner Zeitung "um einen der bedeutendsten Musiker der letzten fünfzig Jahre". Wolfgang Sandner hebt in der FAZ Harnoncourts Verdienste hervor: Seitdem "ist auch das Hüstelnde, Anämische und Akademische früherer Aufführungen alter Musik einem lebendigen Musizieren gewichen". In der Welt rühmt Kai Lührs-Kaiser als den "Urknall der historischen Aufführungspraxis", wichtigsten Dirigent nach Karajan, und als großen Kämpger gegen die "Terrormilizen der Bewegung Festliches Barock".




Mit der unangekündigten Veröffentlichung des neuen Albums "untitled unmastered" hat Feuilletonliebling Kendrick Lamar die Popkritik ganz schön überrascht. Da es vorerst nur auf Streamingplattformen zu hören ist, fragt sich Fabian Wolff im Tagesspiegel, "ob das Album als Kunstform noch lebt oder noch zuckt." Und er weist auf einen wichtigen Aspekt des Titels hin, der sich dem ersten Anschein nach lediglich auf eine Ästhetik des Unfertigen beziehen könnte: Doch "'Unmastered' im Sinne einer unvollständigen Abmischung sind die Songs nicht. Der Titel ist abgründiger. Der Rapper Killer Mike, gerade als Sprecher für Bernie Sanders unterwegs, verkündete vor drei Jahren sinngemäß, dass Schwarze 'auch mit Millionenvertrag noch Sklaven sind', also einem 'master' unterstehen." Jan Kedves von der SZ geht auf die Knie: Er hält das Album für "musikalisch wunderbar verwoben, traditionsbewusst und inhaltlich hyperreflektiert." Sheldon Pearce von Pitchfork kann sich insbesondere für das fünfte Stück des Albums begeistern.

Weiteres: Im Zündfunk-Feature des Bayerischen Rundfunks machen sich Georg Seeßlen und Markus Metz Gedanken über deutsche Popmusik und nationale Identität. Andreas Hartmann hat für die taz eine Diskussionsveranstaltung über arabischen Rap besucht.

Besprochen werden das neue Album von Yeasayer (Jungle World), die neuen Alben der Berliner Produzenten Daniel Haaksman und Africaine 808 (SZ), ein Konzert von Hannes Wader (FR), ein Liederabend mit Daniel Behle (SZ) und Spike Lees Doku "Off The Wall" über Michael Jackson (SZ) und ein Konzert des Pianisten Grigory Sokolov nach einem Klavierabend in Zürich (den Christian Wildhagen in der NZZ als "Dramenschöpfer an den Tasten" preist).
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Bühne

In einem im Tagesspiegel veröffentlichten Essay ärgert sich Dramaturg Peter Stoltzenberg darüber, dass sich das Gegenwartstheater zusehends auf die Beschreibung von Welt versteift und dabei die ohnehin schon prekär lebenden Autoren noch deutlicher an den Rand schiebt: "Diese Faszination durch 'Authentizität' braucht freilich keine Autoren mehr: Das Ereignis bin ich. Was wäre dagegenzusetzen? Ein Theater nicht als Ort der Proklamation von, sondern der Auseinandersetzung mit Ideen. Theater als Labor, als Ort einer Suche, die nicht vergiftet ist von der heimlichen Sehnsucht, auch die Antworten zu geben. Denn die werden immer Geschrei oder Propaganda."

Das Berliner Staatsballett hat unter dem umstrittenen Intendanten Nacho Duato seine Pläne für die kommende Spielzeit erstmals ohne Kommentar lediglich per Mail an die Presse verschickt: "Ein einmaliger Vorgang", zürnt Sandra Luzina im Tagesspiegel, "und gewiss nicht einfach eine Kommunikationspanne. Duato stellt sich nicht mehr den kritischen Fragen, und macht auch gar nicht den Versuch, für kommende Projekte zu begeistern." Und das, obwohl die Ankündigungen durchaus aufhorchen lassen.


Daniela Löffners "Nathan" am Schauspielhaus Zürich. Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Weiteres: Klassisch, pragmatisch, famielientauglich nennt Barbara Villiger Heilig in der NZZ Daniela Löffners Nathan-Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus. Als eisig kalt beschreibt Valeria Heintges die Inszenierung in der nachtkritik. Christine Wahl (Tagesspiegel) und Julika Bickel (taz) berichten vom Auftakt des Heiner-Müller-Festivals am Berlin Hebbel am Ufer. Die Tanzplattform in Frankfurt bot in diesem Jahr zu viel an Theorieanspruch, zu wenig an Qualitätsbegriffen, lautet das Fazit von Eva-Elisabeth Fischer in der SZ.

Besprochen werden Josua Rösings Inszenierung von Siegfried Lenz' "Das Feuerschiff" am Deutschen Theater Berlin (FAZ, nachtkritik), Lorenzo Fioronis Grazer Inszenierung von Bohuslav Martinůs "Griechische Passion" (FAZ)und Tina Laniks Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" in München ("die Hexenküche [bleibt] doch ziemlich kalt", bemerkt Christine Dössel in der SZ).
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Literatur

Gerrit Bartels vom Tagesspiegel war bei Ronja von Rönnes Präsentation ihres Debütromans in Berlin. Für den Tagesspiegel hat sich Gunda Bartels mit dem Kreuzberger Anarcho Volker Hauptvogel, der gerade sein Buch "Fleischers Blues" veröffentlicht hat, getroffen. In der Jungle World plädiert Heike Karen Runge dafür, die Bildergeschichten von Edward Gorey wiederzuentdecken. Wilhelm von Sternburg schreibt in der FR zum Tod des Literaturhistorikers und Exilforschers Hans-Albert Walter.

Besprochen werden Michael Kumpfmüllers "Die Erziehung des Mannes" (online nachgereicht von der Zeit), Atticus Lishs "Vorbereitung auf das nächste Leben" (taz), Antje Rávic Strubels Episodenroman "In den Wäldern des menschlichen Herzens" (Tagesspiegel), Johanna Adorjáns "Geteiltes Vergnügen" (SZ), Nick Caves Notate "The Sick Bag Song - Das Spucktütenlied" (WeltNis-Momme Stockmanns "Der Fuchs" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Hörbücher, darunter das zu Swetlana Alexijewitschs "Secondhandzeit - Leben auf den Trümmern des Sozialismus" (FAZ). Mehr Literatur im Netz in unserem Metablog LIt21.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gerhard Stadelmaier über Peter Paul Althaus' Gedicht "In der Traumstadt":

"Vor dem Schlafgemach der Gräfin Ete la Peutête
steht ein riesenhafter Neger,
und er spielt auf einer sonderbar geformten Schnabelflöte
..."
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Design

Dem Marta in Herford ist mit der Ausstellung "Brutal schön: Gewalt und Gegenwartsdesign" in Herford "eine bunte Show der Mahnung und des Schreckens" gelungen, "mit der dieses Kunst- und Designmuseum seinen eigenen Gegenstand ziemlich grundsätzlich infrage stellt", schreibt Till Briegleb in der SZ, nicht ohne Hinweis auf eine weitere designkritische Ausstellung im Museum Morsbroich in Leverkusen, die allerdings auf eine anderen Strategie setzt: "Statt destruktive gesellschaftliche Prozesse zu beschreiben, behandelt die von Fritz Emslander kuratierte Ausstellung den individuellen Widerstand gegen designkonforme Lebensführung."
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Stichwörter: Designkritik

Film

Bei der Erstausstrahlung vor wenigen Wochen hatte man ihn noch vergebens in der Mediathek der ARD gesucht, seit der Wiederholung im NDR ist der Dokumentarfilm "Der Clown" über Jerry Lewis' gescheiterte Dreharbeiten zu der KZ-Tragikomödie "The Day The Clown Cried" nun aber auch im Netz zu sehen.

Besprochen werden die vierte Staffel von "House of Cards" (ZeitOnline), Pablo Traperos "El Clan" (Tagesspiegel, FAZ), Andrew Bujalskis "Results" (taz, unsere Kritik hier),
und die Fotoausstellung "Elizabeth Taylor - Grit and Glamour" in der Deutschen Kinemathek in Berlin (Tagesspiegel, hier eine Strecke daraus).

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Kunst


Sehen müssen, was man nicht sehen will: Boris Luries Railroad Collage, 1959. Boris Lurie Art Foundation

Von ihrem Shock Value haben Boris Luries radikale, anstößige Collagen, die mitunter Bilder der Shoah mit aufreizenden Pin-Ups kreuzen, bis heute nichts verloren, schreibt Ulrich Gutmair in der taz. Das Jüdische Museum Berlin widmet dem Zeit seines Lebens verfemten Künstler nun die bislang größte Retrospektive seines Werks: Der Künstler "schämte sich nicht, in seinem 'Müll-Atelier' voller Pin-ups zu arbeiten und überhaupt außerhalb der Gesellschaft zu leben, wie er einmal sagte. Er schämte sich auch nicht dafür, in seinen Collagen die Körper der Geschundenen neben die Körper von Frauen zu stellen, die einem Blick preisgegeben sind, in dem sich die Macht über den anderen konstituiert. Das Sichtbarmachen dieses Blicks, das Zeigen von Ereignissen, die man nicht sehen, über die man nicht sprechen soll, werden hier verhandelt - und damit die Unterdrückung von Sexualität und Nacktheit in autoritären Gesellschaften, die durch patriarchalische Herrschaftsverhältnisse bedingt ist."

Für die FAZ besucht Niklas Maak den dieses Jahr 90 Jahre alt werdenden Kunstkritiker und -vermittler John Berger. Einem größeren Publikum bekannt geworden ist er durch die Fernsehreihe "Ways of Seeing":

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