Efeu - Die Kulturrundschau

Du verstehst, dass du nicht verstehst

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12.03.2016. Ann Cotten erklärt in der Literarischen Welt, warum narrative Dichtung wie Skifahren ist. Im Berliner Gropius-Bau entdeckt der Tagesspiegel die Jugendstil-Wurzeln des Wiener Aktionisten Günter Brus. Mendy Cahan erklärt in der NZZ, welche Rolle das Jiddische in László Nemes' Holocaust-Film "Son of Saul" spielt. Die SZ vermisst den Mut zu Fehlern im Virtuosentum junger Pianisten. Und alle trauern um den großen Filmarchitekten Ken Adam.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.03.2016 finden Sie hier

Literatur

Mit "Verbannt!" hat die Dichterin Ann Cotten ein Versepos in der bei Byron, Shelley und Keats beliebten Spenserstrophe geschrieben. In der Literarischen Welt erzählt sie Paul Jandl von der Arbeit an ihrem ersten narrativen Text: "Der Vorsatz, ein Versepos zu schreiben, ist noch die reinste poetische Träumerei, aber schon beginnen die Probleme. Manchmal klappert es so dahin und scheint ganz locker, aber man muss aufpassen. Es ist wie auf einer Schotterstraße, kleine Löcher versetzen das Ganze in Schwingung, und die Schwingung wird immer größer, bis man aus der Kurve fliegt... Ich schreibe normalerweise ja keine narrative Prosa, und ich muss mich an eine Handlung erst herantasten. Beim neuen Buch ist es der Versuch, einen Plot zu bauen, der nicht auf autobiografischer Erfahrung beruht, sondern auf Ideen. Und Reimen. Man muss wie beim Skifahren locker und konzentriert bleiben. Wenn man mehrmals hintereinander einen Satz nur wegen des Reims macht, ist man draußen. Wenn die Reime zu zahm sind, ist es aber wieder fad."

Weiteres: Das Goethe-Museum hat einen bedeutenden Teilnachlass Joseph von Eichendorffs erworben, berichtet Eckhard Fuhr in der Welt. Daniela Strigl widmet der großen österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach zum hundersten Todestag ein Porträt in der NZZ. In der taz spricht Tania Martini mit Musiker und Theaterregisseur Schorsch Kamerun, der nun seine Biografie zum Roman "Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens" verarbeitet hat. Tazlerin Susanne Messmer besucht den bei Publikum und Kritik erfolgreichen Verlag Matthes und Seitz. Der Stand der deutschen Literatur in den Niederlanden "war in den letzten vierzig Jahren nie so schlecht wie heute", stellt FAZler Wil Rouleaux zu Beginn der niederländischen Buchwoche fest, deren Themenschwerpunkt in diesem Jahr Deutschland ist. Für die Literarische Welt trifft Clara Ott den österreichischen Schriftsteller Thomas Glavinic.

Besprochen werden Simone Buchholz' Krimi "Blaue Nacht" (taz), Roland Schimmelpfennigs "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen" (taz), Nis-Momme Stockmanns "Der Fuchs" (taz), Andres Mürys "Zwei Paare ohne Sex im Waldviertel" (Tagesspiegel), die Comicserie "Manifest Destiny" (Jungle World), Irmgard Keuns wiederveröffentlichter Roman "Kind aller Länder" aus dem Jahr 1938 (SZ), Daniela Strigls Biografie über Marie von Ebner-Eschenbach (FAZ) und diverse Kriminalromane, darunter Ross Thomas' wiederveröffentlichter "Porkchoppers" (Leichenberg). Mehr Literatur im Netz in unserem Metablog Lit21.
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Kunst

Mit einer großen Retrospektive bietet das Kunstmuseum Bonn die Möglichkeit, die 2006 im Alter von 43 Jahren gestorbene, Zeit ihres Lebens eher wenig beachtete Malerin Susanne Paesler wiederzuentdecken, freut sich Catrin Lorch in der SZ. Bereits in der Überblicksausstellung "deutsche malerei zweitausenddrei" konnte man auf sie aufmerksam werden, doch "erscheint ihr Werk jetzt in der Gesamtschau in Bonn weniger versponnen und abseitig - dafür zunehmend selbstbewusst. Vor allem die Bilder, in denen sie sich ab Mitte der Neunzigerjahre die Malerei des Abstrakten Expressionismus und des Informel vorknöpft." (Oben: "Dark Flowers", 2005)

In einer von Britta Schmitz kuratierten Schau erinnert der Berliner Gropius-Bau an den Wiener Aktionisten Günter Brus, der sich seinerzeit mit seinen spektakulären, Tabus sprengenden Aktionen neben zahlreichen Verletzungen auch eine Haftstrafe eingefangen hatte, vor der er nach Westberlin floh. Im Tagesspiegel staunt Nicola Kuhn nach Besuch der Ausstellung allerdings, "wie viel Jugendstil, wie viel Klimt darin steckt, umso weiter sich das Werk entwickelt. Arbeitete Brus seit seinen Anfängen an der Akademie nur schwarz-weiß, zunächst im Stil des Informel, schließlich mit dem ganzen Körper auf der Leinwand, zuletzt bei seinen Übermalungen als Teil der Performances, so kommt in Berlin plötzlich die Farbe in sein Werk, eine ziselierte Silhouette-Linie taucht auf, wie man sie auch von den Aktbildern Gustav Klimts kennt." (Bild: Günter Brus, "Ich treibe nur in Störungszonen", 1985. Foto: Samir Novotny)

Besprochen werden Marina Abramovics Projekt "As One" im Benaki Museum in Athen (FR) und Martin Roemers' Fotoausstellung "Relikte des Kalten Kriegs" im Deutschen Historischen Museum (FAZ).
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Bühne

Für den Freitag porträtiert Nina Scholz die aus Tel Aviv stammende, seit drei Jahren in Berlin lebende Regisseurin Yael Ronen, die ihre um Fragen postmigrantischer Realitäten und Identitäten kreisenden Stücke am Maxim Gorki inszeniert: "Inszenierungen wie die von Yael Ronen hat es vorher auf keiner deutschen Bühne gegeben. Sie verbindet Pathos mit Comedy, Politisches mit Privatem, das Große mit dem Kleinen. Sie inszeniert drängende politische Fragen mit einer eindeutigen Haltung, aber ohne eindeutige Antworten, die Theaterstücke sonst oft eng, klein und vorhersehbar machen. Die Biografien und Konflikte, die sie inszeniert, sind im deutschen Theater, Kino und Fernsehen noch immer unterrepräsentiert."

Weiteres: Im Standard unterhält sich Ljubisa Tosic mit Christian Thielemann, der bei den Osterfestspielen Salzburg Verdis "Otello" dirigiert. Besprochen werden Daniel Glattauers "Die Wunderübung" in Frankfurt (FR) und Ragnar Kjartanssons an der Volksbühne in Berlin aufgeführte, einaktige Oper "Krieg", für die der einzige Schauspieler Maximilian Brauer eine Stunde lang auf der Bühne leidet, bevor er sterben darf (Berliner Zeitung).
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Film

Die Filmkritik trauert um den legendären Filmarchitekten Ken Adam. Er "erkannte intuitiv, dass Filmarchitektur den Zeitgeist verdichten und dabei auch die kollektiven Ängste verbildlichen konnte", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. "Der sensationelle Anfangserfolg [der James-Bond-Filme] wäre ohne die gleichsam gleichsam 'adameske' Umsetzung der Drehbücher ins Visuelle wohl nur sehr abgeschwächt ausgefallen", meint Andreas Conrad im Tagesspiegel. Weitere Nachrufe in taz, SZ, Welt, Tages-Anzeiger und FAZ.


Den Zeitgeist verdichten: Ken Adams "War Room"-Set für Stanley Kubricks "Dr. Strangelove"

Mendy Cahan, Schauspieler und Gründer eines jiddischen Buchmuseums in Tel Aviv, war dafür zuständig, den in László Nemes' Holocaust-Film "Son of Saul" zu Wort kommenden Charakteren korrekte jiddische Dialekte zuzuweisen. Im Gespräch mit Judith Poppe berichtet er in der NZZ von dieser Aufgabe, die den meisten Zuschauern entgehen wird: "Von den Zuschauern verstehen vielleicht drei Prozent Jiddisch, ein Prozent dieser drei Prozent versteht, dass dieses oder jenes Wort ein Dialekt ist, dass dieser Jude in einem Cheder gelernt und jener andere sein Jiddisch fast schon vergessen hat. Aber im ganzen Film geht es nicht um Verstehen. Die Charaktere sprechen Griechisch, Jiddisch, Russisch oder Ungarisch; wenn du nicht gerade ein polyglotter Ostjude bist oder aus anderen Gründen all diese Sprachen sprichst, verstehst du nicht alles. Aber das ist Teil dieses Klanguniversums. Du verstehst, dass du nicht verstehst."

Weiteres: Im Tages-Anzeiger stellt Pascal Blum die Regisseurin und Schauspielerin Ida Lupino vor, der das Festival International de Films de Fribourg (Fiff) ab heute eine Retrospektive widmet. In der NZZ gratuliert Jürg Zbinden Liza Minelli zum Siebzigsten. Besprochen werden Vitaly Manskys Dokumentarfilm "Im Strahl der Sonne" (FR), Jay Roachs Biopic "Trumbo" (Welt) und der philippinische Film "Balikbayan #1. Memories of Overdevelopment. Redux III", an dem der Filmemacher Kidlat Tahimik von 1979 bis heute gearbeitet hat (FAZ).
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Musik

In der SZ denkt Michael Stallknecht über den oft wenig guten Leumund nach, den das Virtuosentum am Piano genießt. Das hat seinen Preis: "Keine Fehler machen zu dürfen aber macht unfrei. Es verhindert gerade den Gestus des Überschüssigen und auch Übermütigen, der im Virtuosentum liegt."

Weiteres: Zum heutigen Auftakt des Oster-Festivals in Luzern porträtiert Christian Wildhagen in der NZZ die Dirigenten Jordi Savall und Mariss Jansons. Im Tages-Anzeiger unterhält sich Yann Cherix mit Michael Marco Fitzthum, dem Sänger der österreichischen Band Wanda. Bento führt in die iranische Underground-Musikszene ein. Für die taz spricht Julian Weber mit dem "Tresor"-Gründer Dimitri Hegemann, der derzeit einen neuen Club in Detroit plant. Im Tagesspiegel porträtiert Andreas Hartmann den Musiker Tim Gane von Stereolab, der die Auszeit seiner Band nutzt, um in Berlin Musik zu machen.
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