Efeu - Die Kulturrundschau

Eine dunkle Liebe zum Instinkthaften

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22.03.2016. Die Presse feiert Michel Tabachniks in Lyon uraufgeführte Oper "Benjamin, dernière nuit". Auf blankes Entsetzen stößt dagegen die Berliner Aufführung von Heinrich Marschners Grusical "Der Vampyr". Die SZ blickt bewundernd in das Innere der Miriam Cahn. Der Guardian möchte die Muse in die viktorianische Mottenkiste verbannen. Und die NZZ lernt von Elena Cizova, dass die große Frage in Russland nicht mehr lautet "Was tun?", sondern "Wurde er umgebracht oder hat er jemanden umgebracht?"
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2016 finden Sie hier

Bühne


Walter Benjamin, umgeben von den Dämonen der Geschichte. In Michel Tabachniks Oper in Lyon.

"Intendanten, spielt dieses Werk nach!", ruft Robert Quitta in der Presse voller Begeisterung nach der Uraufführung von Michel Tabachniks Oper "Benjamin, dernière nuit" bei Serge Dornys "Festival pour l'humanité" in Lyon. Einer riesigen Regallandschaft entsteigen Walter Benjamins alte Bekanntschaften und Freunde als Erinnerungen und Wiedergänger: "Anja Lacis, Arthur Koestler, Bert Brecht, Gershom Sholem, André Gide, Max Horkheimer und Hannah Arendt. Die Ausgangssituation, obwohl nicht sehr originell, funktioniert dennoch hervorragend. Die Auseinandersetzung mit diesen Personen seiner Vergangenheit erhellt das Mysterium um Benjamins Suizid beträchtlich. Seine scheinbare Verzweiflungstat stellt sich als Folge des Scheiterns der sozialistischen Idee in all ihren Varianten dar."

In der FAZ ist auch Jörn Florian Fuchs beeindruckt: "Der differenzierte Chor, einstudiert von Philip White, singt phänomenal, wirkungsvoll zumal die Transzendenz der schwebenden, hohen Soprane."

Blankes Entsetzen dagegen in Berlin: Bei seiner als Wiederentdeckung von Heinrich Marschners "Der Vampyr" lancierten Inszenierung an der Komischen Oper in Berlin habe Antú Romero Nunes dem Stück aus dem Jahr 1828 gründlich den Pflock durchs Herz getrieben. Allenfalls Fetzen des Originalstoffs bietet die großzügig gekürzte Fassung, kritisiert Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Der Gentleman-Blutsauger verkomme zur "Witzfigur, einer ekligen, ganzkörperlich weiß geschminkten Made mit überlangem Hitler-Scheitel. ... Als Opfer bleibt am Ende die Oper selber zurück, veralbert, verjuxt, verblödelt." Kaum anders erging es Niklas Hablützel in der taz: Er fand die "Splatterpunk"-Darbietung einfach nur "unendlich langweilig". "Absurd" findet Martin Wilkening von der Berliner Zeitung die Idee, "das Stück zu kürzen, dann aber wieder neue Musik hinzukomponieren zu lassen". "Vielleicht geht es nur so", gibt dagegen in der Welt Tilman Krause zu bedenken.

Weiteres: Manuel Brug verdreht in der Welt die Augen über Daniel Barenboims fixe Idee, noch einen "Ring" in Berlin auf die Bühne zu bringen. Für die SZ spricht Joseph Hanimann mit Regisseur Falk Richter, der nach seinem von der AfD angegangenen Stück "Fear" nun "Je Suis Fassbinder" in Strassburg inszeniert, über Rechtspopulismus.

Besprochen werden Manuel Legris' Ballett "Le Corsaire" an der Wiener Staasoper ( das ganz dem Geist des 19. Jahrunderts treu geblieben sei, wie Helmut Ploebst im Standard ächzt), "Tristan und Isolde" bei den Osterfestspielen Baden-Baden (NZZ), eine Stuttgarter Inszenierung von Jacques Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" (NMZ), Ene-Liis Sempers und Tiit Ojasoos Inszenierung von George Bernhard Shaws "Pygmalion" am Hamburger Thalia (taz) und die Uraufführung von Ania Michaelis' und Nuria Nunez Hierros "Stück vom Himmel" an der Deutschen Oper Berlin (NMZ).
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Literatur

Als "bitteren Klartext" empfiehlt Ilma Rakusa in der NZZ Elena Chizhovas Roman "Die Terrakottafrau", die den Verhältnissen im postsowjtischen Russland nachspürt: "In einem langen Bewusstseinsstrom lässt Chizhova ihre Heldin Vergangenes aufrollen und Gegenwärtiges reflektieren, lässt sie über den Homo sovieticus und den postsowjetischen Menschen, über 'winners' und 'losers' nachdenken, vor allem aber über die russische Literatur, für deren Reichtum sich kaum noch jemand interessiert. Die zentrale Frage ihrer Epoche, so Tatjana, laute weder 'Was tun?' noch 'Wer ist schuld?', sondern: 'Wurde er umgebracht oder hat er jemanden umgebracht?'"

Im Interview mit Thomas David spricht der amerikanische Autor Garth Risk Hallberg in der NZZ über seinen Roman "City on Fire" und das New York der Vergangenheit: "Vor allem die sechziger, aber auch noch die siebziger Jahre waren eine Zeit, in der sich die Menschen noch eine Zukunft vorstellen konnten, die vollkommen anders aussah als unsere Gegenwart."

Besprochen werden Heinrich Gerlachs "Durchbruch bei Stalingrad" (SZ) und Thomas Glavinics "Der Jonas-Komplex" (FAZ, mehr dazu hier). Weiteres im Netz über Literatur in unserem Metablog LIt21.
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Film

Immer mehr US-Blockbuster sind für die dringend benötigten Gewinnmargen auf den chinesischen Markt angewiesen, erklärt Felix Simon in der FAZ. Da die Zahl der Kinostarts ausländischer Filme dort allerdings strikt begrenzt ist und die Zensur dann noch ein Wörtchen mitzureden hat, setzen die Majors zusehends auf Ko-Produktionen, um einen garantierten Kinostart zu ergattern - zur Not auch in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Zensur. Simon sorgt sich: "Was, wenn China nur den Präzedenzfall schafft und andere Märkte nachziehen? Werden dann nur noch Filme entstehen, die möglichst nirgendwo anecken?" Kaum vorstellbar!

Besprochen werden die laut Michael Pilz nicht lustige, aber kluge Komödie "Rock the Kasbah", in der Bill Murray als abhalfteter Musiker nach Kandahar geht (Welt), Lenny Abrahamsons gleichnamige Verfilmung von Emma Donoghues Roman "Raum" (Tagesspiegel) und der Bibelfilm "Auferstanden" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier).
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Musik

Michael Bartle resümiert in der taz das "South by Southwest"-Festival in Austin, Texas, bei dem neben zahlreichen politischen Veranstaltungen und Workshops auch die überschaubare Menge von 2000 Konzerten stattfanden: "Ein Oktoberfest der Musik. Overkill. Kein Durchkommen." Bei der Berliner MaerzMusik lauschte SZler Wolfgang Schreiber dem von Daniel Kötter und Hannes Seidl hervorgebrachten Klang von schmelzendem Eis.

Besprochen werden die Neuauflage von Jon Savages Punkgeschichte "England's Dreaming" (SZ, hier unsere Rezensionsnotizen zur Erstauflage) und das neue Album von Guerilla Toss (taz).
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Kunst


Miriam Cahn, "beschuss", 2008, Öl auf Leinwand, Foto: Helmut Kunde, Kunsthalle Kiel.

Sehr beeindruckt berichtet Till Briegleb von seinem Besuch der Miriam Cahn gewidmeten Retrospektive in der Kunsthalle Kiel: Dieses künstlerische Werk stehe in unmittelbarer Nähe zu Maria Lassnig oder Marlene Dumas, deren gegenständliche Malerei sie "mit einer dunklen Liebe zum Instinkthaften" ergänze, und muss nach Briegleb dringend wiederentdeckt werden: "Wenn Miriam Cahn sich selbst als Flüchtling nackt unter einer vorne offenen Burka porträtiert, und zwar mit grell rot akzentuierten primären Geschlechtsmerkmalen, dann ist das keine billige Provokation, sondern Ausdruck ihres aufwühlenden Hauptthemas: die Verletzlichkeit des Körpers und die Anziehungskraft von Lust und Gewalt. Sowohl inhaltlich wie stilistisch ziehen sich diese Themen durch ihre Bildmotive, so als hätte ihr Unbewusstes alle Tore offen."

Der britische Künstler Jonathan Yeo hat das britische Model Cara Delevingne als seine "perfekte Muse" bezeichnet. Im Guardian plädiert Jonathan Jones aus diesem Anlass vehement dafür, den Begriff der Muse aus dem Kunstdiskurs des 21. Jahrhunderts zu verbannen: "Musenschaft impliziert eine kreative Geschlechterhierarchie. Frauen inspirieren, Männer erschaffen. Die Viktorianer liebten diese Vorstellung. Es reichte ihnen nicht, ein Modell zu begehren, sie musste ihre Lust zu einer mystischen Idee poetischer Inspiration erheben... Wenn Yeo Delevingne toll findet, soll er das sagen. Ein Model eine Muse zu nennen ist so archaisch und lächerlich, wie ein Feigenblatt auf einem Akt." (Bild: Cara Delevingne, gemalt von Jonathan Yeo. Foto: Jonathan Yeo/PA.)

Weiteres: Die nach der Castro-Revolution in Kuba verbliebene und seitdem nicht mehr zugängliche Sammlung Lengyel ist unter Umständen gar nicht so millionenschwer wie angenommen, mutmaßt Stefan Koldehoff in der Zeit.

Besprochen werden eine Biografie über Hildebrand Gurlitt (FR), neue Bücher über Hieronymus Bosch (Tagesspiegel), das neue Buch "Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust" des Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich (taz) und Christoffer Wilhelm Eckersbergs Retrospektive in der Kunsthalle Hamburg (FAZlerin Beate Söntgen entdeckt "einen souveränen Maler, der im Rahmen bürgerlicher Solidität und Nüchternheit ein Fünkchen verpönten Virtuosentums aufblitzen lässt").
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