01.04.2016. Große Trauer um Imre Kertész: Die Feuilletons würdigen den ungarischen Literaturnobelpreisträger als Giganten der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Trauer auch um die Architektin Zaha Hadid, die lange um die Realisierung ihrer kühnen Bauten kämpfen musste. Außerdem: Die SZ begutachtet die neue Pariser Metrostation Châtelet-Les Halles. Die FAZ besucht eine Ausstellung über die russischen Avantgarden. Rüdiger Suchsland feiert auf Artechock den Essayfilm im Allgemeinen und Laurie Andersons "Heart of a Dog" im Besonderen. Die FR staunt über Mara Eibl-Eibesfeldts schwarzweißen Debütfilm "Im Spinnwebhaus".
Literatur, 01.04.2016
Foto: Csaba Segesvári unter CC-Lizenz.
Ein großer Verlust für die Weltliteratur und das Gedächtnis des 20. Jahrhunderts: Der ungarische Autor
Imre Kertész ist tot. Er starb mit 86 Jahren in Budapest. Kertesz wurde 1929 als Kind einer jüdischen Familie in Budapest geboren. Mit fünfzehn Jahren wurde er
nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er überlebte und suchte im Nachkriegsungarn Fuß zu fassen, was er jedoch schnell aufgab. Zehn Jahre arbeitete er an seinem "Roman eines Schicksallosen", einem der wichtigsten Zeugnisse des Holocausts. In dieser Zeit lebte er mit seiner Frau in einer 28 Quadratmeter großen Wohnung in Budapest und verdiente sein Geld mit Theaterstücken und Musicals sowie mit Übersetzungen von Canetti, Hofmannsthal, Freud, Nietzsche und Wittgenstein. Als der Roman 1975 in Ungarn erschien, wurde er
ignoriert. Erst die Neuausgabe 1985 und die zweite Übersetzung ins Deutsche 1996 durch Christina Viragh brachte Kertesz die lange versagte Anerkennung. Seine nachfolgenden
Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2002 erhielt er den
Literaturnobelpreis.
"Das Böse hielt er
für erklärbar, das Gute blieb ihm ein Rätsel",
schreibt Hubert Spiegel im Nachruf in der
FAZ. "Er war ein Gigant der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, der aus jener besonderen Form des Nichts kam, über die er sein Leben lang schreiben sollte. Ein
Gigant der Negation und des gnadenlosen, weil nahezu jeder denkbaren Illusion beraubten Blicks, der jedoch an die Güte glaubte. Nicht als Tugend, sondern als vernunftwidrige Manifestation des
Willens zur Freiheit, einer aufbegehrenden, radikalen Freiheit, die ihren Ausdruck darin findet, 'allem zu trotzen, was ist', wie es der Literaturwissenschaftler Lásló F. Földényi formuliert hat."
In der
SZ schreibt Franziska Augstein über den Autor, der zwei totalitäre Systeme überlebte: "So sehr er das KZ als Vorbereitung für die osteuropäische Lagergesellschaft ansah, so fern lag ihm doch die plumpe Totalitarismustheorie. Der
Nationalsozialismus habe einen hocheffizienten Mördertypus hervorgebracht, schrieb er in einem Essay: 'Ganz unverhohlen stützt er sich auf die in Jahrtausenden von der Kultur zurückgedrängten niederen Instinkte des Menschen.' Die Massenmorde des
Bolschewismus seien hingegen das Ergebnis einer politisch-historischen Sichtweise gewesen, die 'Taktik' über alles stellte, in der 'Taktik' als 'einzige Antriebskraft, als Moral, als 'Leitfaden des Handelns' figurierte."
In der
Welt erinnert sich Tilman Krause: "Nie werde ich vergessen, wie Imre Kertész mich an einem strahlenden Septembertag zu
seinem Budapester Schreibkerker der Sechzigerjahre in der Török-Straße führte und wie der überaus freundliche, rundliche Mann mit dem hinreißenden Marika-Rökk-Akzent, nicht minder strahlend, ja geradezu jubilierend ausrief: 'Schauen Sie nur,
das ist das Kellerloch, in dem der 'Roman des Schicksallosen' entstand, in diesem Dreck, in diesem Lärm, und so ein schmieriger Geselle, wie er uns jetzt auf der Treppe entgegenkommt, war
genau der Typus, der mich damals auch umgab.'"
Als Autor kämpfte Imre Kertész "gegen jede Art von Verkitschung entschieden an",
schreibt Andreas Breitenstein in der
NZZ, "
kulturindustriell betriebene '
Vergangenheitsbewältigung' war ihm ein Greuel. Das Dunkle in lichte Gedanken zu fassen, sah er im Umgang mit 'Auschwitz' als höchstes Gebot. 'Wer aus dem KZ-Stoff literarisch als Sieger hervorgeht,
lügt und betrügt todsicher', so formulierte er seinen fundamentalen Einwand gegen eine Kunst, die angesichts des Unfasslichen nur zu kurz greifen kann."
In seinem letzten
Interview mit der
Paris Review 2013 beschrieb Kertesz die Arbeit an seinem ersten Roman so: "Well, I wrote the entire novel during the Communist period. I had no concept of what I was about to say, but my first challenge was to
create a language,
a form, and finally,
a sujet. I wanted to examine the particular existence, the experience of life within a totalitarian system. It was not at all clear to me how I could go about that stylistically. I had to
forge a language from scratch, one sufficiently strong and precise. I didn't just want to add to all the white noise around the topic."
Weitere Nachrufe im
Deutschlandfunk von Jörg Plath, in der
Berliner Zeitung von Mathias Schnitzler, in der
taz von Dirk Knipphals und in der
Zeit von Fokke Joel. Kertész war in Ungarn
umstritten,
erinnert Tazlerin Anna Frenyo. Ebenfalls für die
taz befragt Klaus Hillenbrand
György Dalos nach seinen Erinnerungen an Kertész.
Mehr auf
Lit21.
Eine
Leseprobe aus Kertesz' "
Dossier K" finden Sie im
Perlentaucher, ebenso ein
Interview, das Eszter Radai mit dem Autor 2006 über "Dossier K" führte. Und hier noch ein
Essay von Kertesz aus der NZZ 2001 in dem er über die
Einigung Europas nachdenkt.
Weiteres: Franz Haas
stellt in der
NZZ die italienische Autorin
Elena Ferrante vor, die international erfolgreiche Romane geschrieben hat, ohne das es jemandem gelungen wäre, ihr Pseudonym aufzudecken. Besprochen werden der Briefwechsel zwischen
Peter Suhrkamp und seiner Gattin
Annemarie Seidel (
online nachgereicht bei der
FAZ),
Antonia Baums "Tony Soprano stirbt nicht" (
SZ) und
Roger Caillois' "Patagonien und weitere Streifzüge" (
FAZ).
Architektur, 01.04.2016
Auch die irakisch-britische Architektin
Zaha Hadid ist tot. Sie starb mit 65 Jahren in Miami an einem Herzinfarkt. Für Roman Hollenstein war sie "die
genialste Architektin unserer Zeit",
schreibt er in der
NZZ. Ihre Entwürfe galten lange als nicht umsetzbar: "Es war der Basler Rolf Fehlbaum, der dem Rockstar des architektonischen Dekonstruktivismus als Erster Gelegenheit zum Bauen gab: das 1993 vollendete
Feuerwehrhaus auf dem Vitra-Campus in Weil am Rhein. Dieses skulpturale, von einer waghalsig auskragenden Betonplatte überdachte Gebäude, dessen Wände zu bersten drohen, bewies, dass Zaha Hadids Entwürfe, die die
kühnsten Träume der russischen Suprematisten fad aussehen ließen, realisierbar waren. Seither gilt es vielen als ein Schlüsselwerk mit der Strahlkraft von Le Corbusiers Villa Savoye."
Weitere Nachrufe
von Nikolaus Bernau in der
Berliner Zeitung,
von Moritz Holfelder in der
Zeit und
von Falk Jaeger im
Tagesspiegel.
Alles so neu licht hier: Für die
SZ hat Joseph Hanimann die von
Patrick Berger und
Jacques Anziutti neu entworfene Pariser Station
Châtelet-
Les Halles besucht, die nächste Woche eingeweiht wird. Insbesondere das neue Blätterdach aus einer Glasdecke imponiert ihm, "die man aus der Tiefe auftauchend hoch über seinem Kopf nicht gleich wahrnimmt, die einen aber sofort in ein
breit flutendes und zugleich gedämpftes Licht hüllt. Diese Lichtqualität aus blassem Gelb ist das Meisterstück dieses Baus. Alles ist Windung und Wölbung an ihm. ... Die Konstruktion, die im nördlichen und südlichen Seitenflügel auf drei Etagen das städtische Musikkonservatorium und andere Kultureinrichtungen beherbergt, sucht großzügig, aber nicht großsprecherisch, urbane Öffentlichkeit, Massendurchlauf, Sammelplatz, Flaniermeile und
Ort des Müßiggangs in einem zu sein."
Kunst, 01.04.2016

Kus'ma Petrow-Wodkin, Phantasie, 1925. St. Petersburg, Staatliches Russisches Museum
FAZlerin Nicole Scheyerer ist das Konzept der Ausstellung "
Chagall bis Malewitsch: Die russischen Avantgarden" der
Albertina in Wien ganz und gar nicht geheuer: Der Versuch, die
russische Avantgarde lediglich anhand von Malereien zu umreißen, muss notwendig scheitern, findet sie. "Die Ausstellung gibt dem
avantgardistischen Zweifel an der Kunstform keinen Raum. Ein Versagen, das auch der vollgestopfte Saal für die Konfrontation von Gemälden El Lissitzkys und Alexander Rodtschenkos mit den Kompositionen Wassily Kandinskys deutlich macht: Bevor man
Rodtschenko ohne seine Fotografien und Collagen präsentiert - und ihn bloß als Maler geometrischer Tektonik um 1918 und von Clowns und Harlekinen von 1930 an zeigt -, hätte man ihn besser ganz ausgespart."
Wir gratulieren: Die Künstlerin
Tracey Emin hat ihre Eheschließung mit einem
Stein bekannt gegeben,
berichtet Katja Kullmann im
Freitag. Besprochen werden die
Lee-
Miller-Fotoausstellung im
Berliner Gropiusbau (
Tagesspiegel) und die Ausstellung "
Dada Afrika" im Zürcher
Museum Rietberg (
NZZ).
Film, 01.04.2016

Mit der Reihe "The Revolution that wasn't" befasst sich das Berliner
Kino Arsenal mit dem
russischen Dokumentarfilm von 1991 bis 2015. Die Reihe beginnt heute Abend mit
Sergei Loznitsas neuem Film "The Event", in dem der Regisseur Archivmaterial zum Putsch gegen
Gorbatschow im Jahr 1991 montiert. Für den
Perlentaucher hat sich Michael Kienzl den Film vorab angesehen, der "seine interessantesten Attraktionen an
Nebenschauplätzen" finde: Der Film setzt mit einem "eher lässigen Ausnahmezustand ein, der einen zwar den Ernst der Lage spüren lässt, zugleich aber von einem
beschwingten Anarchismus geprägt ist, der mitunter wirkt, als würde man sich auf einer Veranstaltung wie der Love Parade befinden." In der
taz schreibt Fabian Tietke allgemein über die Filmreihe.

Daniel Kothenschulte
staunt in der FR:
Mara Eibl-
Eibesfeldt gelingt es mit ihrem schwarzweißen Debütfilm
"Im Spinnwebhaus" an die Glanzzeiten des deutschen unheimlichen Films anzuschließen: "Man hat
viel unechtes Schwarzweiß gesehen in den letzten Jahren, flache Digitalbilder, denen lediglich die Schärfe fehlte. Dies hier ist echtes Schwarzweiß, sind durch feinste Lichtzeichnung modellierte Bildräume. Zugleich werden alle üblichen 'Neo-Noir'-Klischees vermieden, diese Kameraarbeit ist keine leere Expression, sondern bei aller Schönheit eine
funktionale Bilderzählung."
Alle schreiben über das neue Superman-
Ungetüm, aber niemand über
Laurie Andersons Essayfilm "Heart of a Dog",
beklagt Rüdiger Suchsland auf
Artechock. Ganz richtig ist das zwar nicht (Hymische Besprechungen brachten
taz und
FAZ, große Storys mit der Regisseurin gab es in der
Zeit und
im Magazin der
Süddeutschen), doch Suchslands Fürsprache für diesen
Essayfilm im Besonderen ("ein gedankliches Flanieren durch die Gegenwart" und "eine kluge Reflexion der
Natur des Erzählens") sowie für die Gattung im Allgemeinen sind dennoch bedenkenswert. Denn der Essayfilm sei gerade überaus rege und lebendig, schreibt der Kritiker: Den jüngsten Filmen "gemeinsam ist ein Gefühl und eine Haltung: Der Überdruss an den konventionellen Dokumentarfilmen und der
billigen Scheinobjektivität des Reportagekinos, das Wahrheit suggeriert, wo doch jeder weiß, dass es das im Kino so einfach gar nicht geben kann. Und das sich Fragen nach Stil, Gestaltung und ästhetischer Moral kaum noch stellt. Dann doch lieber
die
erklärte Subjektivität des essayistischen Kinos: Voller persönlicher Obsession und individueller Neugier. So wird der Essayfilm gerade zum
zweiten Gehirn des Gegenwartskinos: Getränkt im aufgeklärten Wissen um die eigenen Grenzen."
Besprochen wird außerdem der Mafiathriller "Criminal Activities" mit
John Travolta (
Berliner Zeitung, unsere Kritik
hier). Und ein Schmökerhinweis: Das Filmmagazin
Revolver hat die Texte seiner Ausgabe zum Thema "
Filmkritik" online gestellt - die Wortmeldungen von damals sind auch heute noch - und nicht nur aus historischen Gründen - lesenswert.
Musik, 01.04.2016
Feuilleton und Popkritik begeistern sich gerade ziemlich für den demonstativ schluffigen
Studenten-WG-Rock von
AnnenMayKantereit, die bereits als deutsche Antwort auf Wanda gehandelt werden. Kornelius Friz (
FAZ) mag da mit seinen Kollegen (etwa von
FAS,
Berliner Zeitung und
Welt) allerdings nicht mitgehen, ihn schaudert es angesichts der "erschreckend banalen Texte": "Der
vor Selbstmitleid triefende Habitus der Band stellt die an Spoken Word erinnernden Binnenreime (...) unglücklich aus", stöhnt der Kritiker in der
FAZ und fragt sich: "Sollte ihre irgendwie
laszive Gleichgültigkeit sie tatsächlich schon zum Aushängeschild einer Generation machen?"
Im Münchner Lenbachhaus genießt die
Popmusik unter dem seit 2014 neuen Direktor
Matthias Mühling einen deutlich höheren Stellenwert,
stellt Annette Walter von der
taz nach einem Besuch von
Wolfgang Tillmans' Installation
"Playback Room" begeistert fest. Mühlings Ansatz ist "dezidiert antiobjektbezogen", lobt sie: "Er zelebriert den immateriellen, flüchtigen Moment von Musik. Kurz, die Essenz, eben das, was bleibt, wenn man Image und Style eines Popstars
eliminiert. ... [Es geht um] Popmusik, wie sie sonst nur der Künstler hinter verschlossenen Türen als finale Aufnahme im Studio hört, ein Sound, an dem monatelang getüftelt wurde. Und der wird nun in einem fast schon
demokratischen Prozess einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht."
Weiteres: Für
Das Filter porträtiert Thaddeus Herrmann die
Band Moderat, die gerade ihr drittes Album veröffentlicht hat: "Eine nahezu perfekte Platte der vielleicht aktuell
besten Band der Welt, die trotz aller noch so verlockenden Angebote der Musikindustrie nach wie vor alles selber macht.
" (mehr dazu auf
Pitchfork und
Popmatters)
Thomas Meinecke bringt im
Logbuch Suhrkamp die 30. Lieferung seiner "Clip//Schule ohne Worte". Im
Tagesspiegel wirft Georg Rudiger einen Blick auf die Zukunft des
SWR-
Symphonieorchesters nach seine umstrittenen Fusion. In der
Zeit stellt Ulrich Stockden norwegischen Tubisten
Daniel Herskedal vor. In der NZZ stellt Marco Frei den französischen
Bratscher Antoine Tamestit vor. Für die
SZ unterhält sich Helmut Mauró mit der
Geigerin Janine Jansen.
SZler Thomas Steinfeld
unternimmt einen Ausflug nach Castelfidardo, wo das
Akkordeon herkommt. Corinne Holtz
schreibt in der
NZZ zum 100. Geburtstag des Geigers
Yehudi Menuhin.
Besprochen werden das neue Album des Soulsängers
Charles Bradley (
Pitchfork,
Popmatters, siehe dazu unten auch das tolle, aktuelle Video), das neue Album von
Yeasayer (
taz), ein neues Album von
Weezer (
Welt), das neue Album der
Pet Shop Boys (
Berliner Zeitung,
SZ),
Tacocats Album "Lost Time" (
taz), die sechse Lieferung aus Souljazz' Compilationreihe mit frühem und
Proto-
Punk, diesmal aus Los Angeles (
Popmatters)
und diverse neue Popveröffentlichungen, unter anderem von den
Pet Shop Boys,
Moderat und
Azealia Banks (
ZeitOnline).