Efeu - Die Kulturrundschau

Dass Schönheit überwiegt

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02.04.2016. In der Welt erzählt der ehemalige Lektor der Grove Press Fred Jordan, wie man als Kind seiner Zeit lebt, wenn man wach ist. Durs Grünbein porträtiert in der FAZ Imre Kertesz als existenziellen Außenseiter per se. In Bagdad gibt es derzeit mehr Konzerte als Terroranschläge, erzählt in der taz nicht ohne Stolz der irakische Cellist und Dirigent Karim Wasfi. Wo sind die Frauen in der deutschen Literatur, fragt Katy Derbyshire in 10 nach 8. Im Magazin AnOther unterhalten sich Björk und die Komikerin Julia Davis über ihre Arbeit, Einflüsse und Inspirationen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.04.2016 finden Sie hier

Literatur

In den Fünfziger- und Sechzigerjahren veröffentlichte der kleine amerikanische Verlag Grove Press Autoren wie Henry Miller, die Beat-Poeten, europäische Avantgardisten wie Beckett, Genet, Ionescu, Sartre oder Pinter. Doch zuerst musste Verleger Barney Rosset in einer Reihe spektakulärer Gerichtsprozesse das Recht auf obszöne Sprache durchsetzen. Lektor Fred Jordan versucht im Welt-Interview mit der Berliner Autorin Julia Kissina die Atmosphäre dieser Zeit zu beschreiben: "Die Revolution lief parallel zu meinem Leben ... Die Gegenkultur siegte. Das beeinflusste alle Lebensbereiche, das allgemeine Bewusstsein. Das ist es, was passiert ist! Aber bevor das passierte, herrschte eine viktorianische Moral. All die Jahre über. Ja, wir reden von einer Kulturrevolution! Durch unsere Aktionen hat sich die Kultur verändert. Unsere Art zu sprechen, unser gesamtes Vokabular stand auf den Seiten von Büchern, die es vor uns nicht gegeben hatte. Das war eine absolut neue Erfahrung. Ein enormes Ereignis."

Wie erkennt man sich als Kind seiner Zeit? Vor allem "heute, da die Reproduktionsmedizin die Genetik von der Genealogie abkoppelt", fragt Andrea Köhler in der NZZ. Geantwortet haben mehrere Autoren, die eher zurück als nach vorn gucken: René Scheu schreibt über die Genealogie des modernen Unternehmers, Jochen Hörisch über die Genealogie der Erbschaft, Stephan Wackwitz über die Genealogie des Familienromans, Paul Nizon über die Genealogie des Schriftstellers, Philipp Theisohn über die Genealogie der Außerirdischen und Nora Gomringer über die Genealogie der Dichter-Tochter.

In der FAZ erinnert sich Durs Grünbein an Imre Kertesz als "existenziellen Außenseiter per se. Fremd in der Welt, der bürokratisierten Gesellschaft, der Ehe, der Nation und unter Schriftstellern sowieso. Ein Niemals-Mitläufer, Verächter sämtlicher Ideologien, einer der größten Morallehrer meiner Zeit, ein echtes Vorbild fürs Leben. Seine Form des Widerstands war die kluge Naivität. Skeptisch zu bleiben, wo die meisten Bescheid wissen und die Worte gebrauchen als ein für alle Mal ausgestanzte Formeln. Es war ihm nicht gegeben, sich einzufügen in die bestehenden Ordnungen. Seine Isolation in einer Kultur der allgemeinen Komplizenschaft, der Kontrolle und Konkurrenz war vollkommen."

Warum werden so wenige Bücher von Frauen ins Englische übersetzt? Mit Preisen ausgezeichnet? Verlegt? Besprochen? Die Übersetzerin Katy Derbyshire hat fürs Zeit-Blog 10 nach 8 mal angefangen zu zählen und kommt zu deprimierenden Ergebnissen: "Am Ende einer Woche voller erdrückender Statistiken bringt eine Liste das Fass zum Überlaufen: Der niederländische Europäische Literaturpreis hat gerade seine Longlist bekannt gegeben. Eine Freundin fragt auf Twitter, ob ich sie gesehen habe; meine krankhafte Zählerei hat mir inzwischen einen gewissen Ruf beschert. Die Liste beinhaltet mehr Bücher mit nackten Frauen auf dem Umschlag als Autorinnen. 19 ernst dreinblickende Männer und Katja Petrowskaja."

Weitere Artikel: In der NZZ schildert Wilhelm Droste die Reaktionen in Ungarn auf den Tod von Imre Kertesz. Der Comickünstler Craig Thompson spricht im Interview mit der taz über seinen neuen Comic "Weltraumkrümel" und seine Workshops in Jordanien. Dirk Pilz gratuliert in der FR Rolf Hochhuth zum 85. Geburtstag. In der FAZ erklärt Mona Jaeger Literaturgeografie am Beispiel des Vierwaldstättersee. Die Welt bringt einen Auszug aus Benjamin von Stuckrad-Barres Roman "Panikherz".

Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung zu Thomas Manns "Zauberberg" im Münchner Literaturhaus (NZZ) und Comics von Rodolphe Töpfer (NZZ).
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Architektur

Das Art Magazin stellt eine Ausstellung des Museum of Modern Art in New York über japanische Architektur im Informationszeitalter vor. Zum Tod der Architektin Zaha Hadid schreiben Sophie Jung in der taz, Laura Weißmüller in der SZ und Christian Thomas in der FR.
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Kunst


The diagram of a heart drawn on the outside of a school in Kano, Northern Nigeria. © Glenna Gordon

Im Interview mit LenseCulture erzählt die Reportagefotografin Glenna Gordon von ihrer Arbeit in Nigeria, wo sie zuerst Hochzeiten fotografierte, und erklärt, warum sie lieber Artefakte fotografiert als Fakten. Zum Beispiel anlässlich der Entführung nigerianischer Schulmädchen durch Boko Haram: "A lot of editors were asking me for photos of the protests in solidarity of the 'Bring back our girls' movement, but I knew going in that direction would have distracted me from what I wanted to do. So, I turned down those jobs and used the protests as an opportunity to meet people from Chibok, the town where the girls were kidnapped. At one protest, I met a man who helped me collect the majority of the items belonging to the girls. I then photographed them in a studio in Abuja, the capital."

Besprochen werden die Christoffer Willem Eckersberg gewidmete Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle (FAZ), die Ausstellung "Against Design" zum Werk des Architekten und Designer Josef Frank im Wiener Museum für angewandte Kunst (FAZ), eine Ausstellung mit den Porträts der Malerin Vigée Le Brun im Metropolitan Museum in New York (SZ), die Schau "Nervöse Systeme" im Haus der Kulturen der Welt (taz, NZZ), die Ausstellung "Father Figures Are Hard To Find" in der NGBK in Berlin (taz) und die Ausstellung "One, No One and One Hundred Thousand" in der Kunsthalle Wien (Standard).
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Bühne

Besprochen werden Anne Lenks Inszenierung "Hiob" nach Joseph Roth am Deutschen Theater Berlin (taz, Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Simon Stones Inszenierung des "Peer Gynt" am Schauspielhaus Hamburg (FAZ, Standard) und die Oper "Vampir - Musiktheater nach Heinrich Marschner" an der Komischen Oper Berlin (FAZ).
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Musik

"Wir haben eine neue Konzertreihe, in der wir an verschiedenen Orten improvisieren. Tatsächlich überholen wir gerade mit unseren Konzerten statistisch die Anzahl von Terroranschlägen in Bagdad", erzählt der Dirigent und Cellist des Irakischen Nationalorchesters Bagdad Karim Wasfi in einem schönen Interview mit der taz vom Leben als Musiker in Bagdad. "Diese Mordanschläge schüchtern uns ein. Es gibt Tote. Es ist entsetzlich. Trotzdem: Die Terroristen haben nur einen kurzzeitigen Effekt. Ich will nicht nur ein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, zwischen Schönheit und Brutalität wiederherstellen. Ich will, dass Schönheit überwiegt. ... Unsere Konzerte sind ein Zeichen für Zivilisation. Kultur wird zum Lebensstil. Nicht die Terroristen, sondern wir entscheiden, wie wir leben wollen."

Im Magazin AnOther unterhalten sich Björk und die Komikerin Julia Davis über ihre Arbeit, Einflüsse und Inspirationen. So erzählt Björk: "The best bits are the ones I don't understand. When I was a kid I had a long walk to school, and in the winter it was pitch black in the mornings. It is kind of crazy thinking about it now, letting a six-year-old walk 40 minutes to school. ... I am actually better for it, but me and my mates laugh now, because we would never do it to our kids. So, anyway, just without being conscious of it I'd make up melodies, and it still works for me. I go to my cabin, go for a walk in the mountains, and after 20 minutes you just start humming and then the melodies kind of pop out, you know? I was just listening to my dictaphone from the aeroplane, and it is helpful to record ideas, but actually the best melodies are the ones you remember - they come back to you. You just wake up in the morning and they're there, going in circles."

Weiteres: Eine Reportage im Resident Adviser schildert Amerikas schwulen Techno-Untergrund. Besprochen werden Todd Rundgrens "Com­plete Bearsville Albums Collection" (taz), das neue Album der Pet Shop Boys (FR, SZ), die Zürcher Erstaufführung von Jörg Widmanns Trompetenkonzert "ad absurdum" (NZZ) und ein Liederabend der bulgarischen Sopranistin Krassimira Stoyanova in Zürich (NZZ).
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