Efeu - Die Kulturrundschau

Mein Onkel hat ein Glausauge

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2016. Die NZZ drückt uns mit Lucia Berlins Erzählungen eine raue Drachenschuppe in die Hand. Die SZ beschwört die betörende Schönheit von Itzhak Perlmans Geigenklang. Die Welt bewundert den Mut zum fiesen Klang in der "Macbeth"-Inszenierung von Barrie Kosky und Teodor Currentzis. Der Guardian berichtet, wie säuerlich China auf den Peking-kritischen Film "Ten Years" regaiert, der beim Hongkong Film Festival den Hauptpreis gewann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2016 finden Sie hier

Bühne




Mut zur Finsternis: Macbeth am Opernhaus Zürich

So aufregend und explosiv hört man Verdi nicht mal in Italien, freut sich Christian Wildhagen in der NZZ über die Zürcher "Macbeth"-Inszenierung von Barrie Kosky und Teodor Currentzis: "'Äußerst dunkel' wünschte sich Verdi die Bühne für seinen 'Macbeth'; nachtschwarz bis zur Finsternis ist sie bei Kosky und Grünberg.Wie schärft sich plötzlich der Blick auf die Figuren! Macbeth und die Lady - bei Kosky ist dies alles andere als ein auf masochistische Unterwerfung und Hörigkeit gegründeter Zweckbund; nämlich eine geradezu symbiotisch enge Liebesbeziehung, in der sich die Partner gegenseitig immer weiter in die Verblendung treiben." Auch Manuel Brug ist in der Welt überwältigt vom "Mut zur Hässlichkeit, zum aufgerauten, fiesen Klang": "Diesen Minimalismus des Negativen muss man können."

In der Schweiz hat Philipp Ruchs Aktion "Entköppelt die Schweiz" am Theater Neumarkt böse Reaktionen ausgelöst. Das geht sogar bis zur Forderung, den Subventionsvertrag mit dem Theater zu kündigen. Doch Kritik haben beide verdient, Ruch und das Theater, meint Thomas Ribi in der NZZ angesichts "deplacierter Nazi-Vergleiche und primitivem Gehabe gegen den Weltwoche-Chefredaktor und SVP-Nationalrat Roger Köppel": "Ein Künstler provoziert, die Öffentlichkeit reagiert - und der Künstler ist entsetzt. Denn das hat er ja nun wirklich nicht gewollt. Selbstverständlich, man will wahrgenommen werden. Natürlich, man stellt seine Arbeit zur Diskussion, und, gewiss doch, man will Debatten anstoßen. Aber bitte nur die Debatten, die auch wirklich genehm sind. Und sie sollen bitte nur in den Kreisen stattfinden, die man sich selber ausgesucht hat."

Besprochen werden René Polleschs in Zürich aufgeführtes Stück "Bühne frei für Mick Levčik!" (FAZ, mehr im gestrigen Efeu), Yasmina Rezas im Wiener Akademietheater gezeigte "Bella Figura" (SZ, FAZ, Standard) und eine Aufführung von Pina Bauschs Stück "Für die Kinder von gestern, heute und morgen" am Bayerischen Staatsballett (SZ).
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Musik

Harald Eggebrecht schwelgt in der SZ im Glück: Der Geiger Itzhak Perlman hat nach vielen Jahren endlich wieder ein Konzert in München gegeben. Und "alles war wieder da: die Mühelosigkeit, die betörende Schönheit dieses Geigenklangs, die sinnliche Kraft des Spiels ... Dazu die Wärme seines Auftritts, die sogar den Riesenraum der Münchner Philharmonie erfüllen konnte, die für einen Violinabend eigentlich ganz ungeeignet ist, sein unmittelbarer Humor, der Zauber seiner Persönlichkeit."

Außerdem: Julia Spinola stimmt mit einem Porträt in der NZZ auf den Konzertabend ein, den der Pianist Menahem Pressler heute Abend in Zürich geben wird. Die Zeit hat Ulrich Stocks Porträt des Trompeters Avishai Cohen online nachgereicht. In der SZ porträtiert Jonathan Fischer den Musiker Max Weissenfeldt und dessen pophistorischen Grabungsarbeiten in der Musiktradition Ghanas. Für die taz spricht Katharina Schwirkus mit den Rappern Fatoni und Juse Ju, die sich in ihren Tracks gegen Islamophobie engagieren.

Besprochen werden ein Konzert von Moderat (FR), deren neues Album Nadine Lange im Tagesspiegel bespricht, Christof Meuelers Biografie "Das ZickZack-Prinzip" über den Musikproduzenten Alfred Hilsberg (taz) und das neue Album von Xavier Naidoo (FAZ).
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Literatur

Angela Schader ruft in einem sehr schönen Text in der NZZ dazu auf, die Erzählerin Lucia Berlin zu entdecken, deren Geschichten "Was ich sonst noch verpasst habe" wie "eine raue Drachenschuppe" erst auf den zweiten ihren irisierenden Schimmer offenbarten. Aber bitte wer ist Lucia Berlin? "Die 2004 verstorbene amerikanische Schriftstellerin hat als Putzfrau gearbeitet, als Telefonistin, Spitalhelferin oder Hilfslehrerin, um ihre vier Söhne - meist ohne Unterstützung durch einen Ehepartner - aufzuziehen; das riss eine Lücke von beinah zwei Jahrzehnten in ihre literarische Karriere. Lucia Berlin litt an Skoliose, sie war jahrzehntelang Alkoholikerin, sie war kein Mensch, der sich angenehm zu machen wusste. Schon als kleines Mädchen brüskierte sie ihre Schulkameradinnen: 'Ich wusste nicht, wie man Dinge sagte wie: Fandest du die Stunde über Belgisch-Kongo gut? oder Was sind deine Hobbys?. Ich steuerte auf sie zu und stieß hervor: Mein Onkel hat ein Glasauge.'"

In der FAZ liest der Amerikanist Johannes Völz das in den USA omnipräsente Empfinden von Ungewissheit, Unsicherheit und Gefahr nicht als Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke: "Die Konfrontation mit Unsicherheit erlaubt es den literarischen Helden - die ihrerseits stets für größere Kollektive stehen -, neue Stärken und Fähigkeiten zu entwickeln, in vormals unerlaubte Orte einzudringen, über bestehende gesellschaftliche Grenzen hinweg neue Allianzen zu schmieden und längst verloren geglaubte Lebensformen neu zu entdecken."

Weiteres: Nachrufe auf den auch gestern schon gewürdigten Lars Gustafsson schreiben Judith von Sternburg (FR), Gregor Dotzauer (Tagesspiegel), Tilman Spreckelsen (FAZ) und Marie Luise Knott (Perlentaucher). Dessen letzten Roman "Doktor Wassers Rezept" bespricht Jochen Schimmang in der taz.

Besprochen werden außerdem Peter Stamms "Weit über das Land" (FR), Christian Adams Studie "Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser. Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945" (Tagesspiegel), John Irvings "Straße der Wunder" (SZ) und Paul Hardings "Verlust" (FAZ).
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Kunst

In der taz schreibt Regine Müller über die Arbeiten der 2006 verstorbenen Künstlerin Susanne Paesler, der das Kunstmuseum Bonn derzeit eine Retrospektive widmet. Auf ironische Seitenhiebe in Richtung machistisch auftretender Behauptungen in der Kunst dürfe man sie nicht reduzieren: "Paeslers Kunst befragt die Ambivalenz des 21. Jahrhunderts und hält sie aus, ohne davonzulaufen. Denn sie befragt vielmehr distanziert die lauten Bildwelten der Postmoderne, die geprägt sind von Medialität, Werbung, Produktdesign und von der Ästhetisierung aller Lebensbereiche unter der Dominanz der Pop- und Konsumkultur."

Besprochen wird außerdem Susan Meiselas' Fotoausstellung "Carrying the Past, Forward" im Fotografie Forum Frankfurt (FR).
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Film

Der Episodenfilm "Ten Years" hat zum großen Ärger Pekings beim Hongkong Film Festival (Website) den Hauptpreis gewonnen, berichtet der Guardian. Die Mikro-Produktion von fünf Regisseuren setzt in Szene, wie sich die Hongkonger die politische Zukunft ihrer Stadt im Jahr 2025 ausmalen, und war in den lokalen Kino ein Hit, bevor sie abgesetzt wurde: "Nach der Preisverleihung erklärte der Produzent des Films, Andrew Coi: Der Preis bedeutet, dass Hongkong noch Hoffnung hat. Er erinnert uns daran, dass wir Mut zur Kreativität haben können. Ich möchte jedem danken, der ihn sich angesehen hat.' Die großen chinesischen Fernsehsender haben die Verleihung nicht auf dem Festland übertragen, nach der Nominierung war die Auszeichnung für 'Ten Years' abesehbar." Die tragischerweise nicht mehr unabhängige South China Morning Post kommentiert säuerlich, dass das Festival mit seinen nihilistischen Filmen eh in einer Sackgasse sei.

Gregor Dotzauer hat für den Tagesspiegel Orson Welles' im aktuellen Schreibheft erstmals auf Deutsch veröffentliche Reportage über Nachkriegsdeutschland aus dem Jahr 1950 gelesen: "Die Reportage, wenn man sie so nennen darf, besteht aus einer kruden Mischung von Anschauung, Vorurteil, Meinung und Fantasterei: übergenau in manchen Szenen, völlig vage in anderen. ... Aber in der Mischung aus farbigen Details, saftigen Klischees und großmäuligen Sätzen macht sie eine kaum noch erkennbare Zeit mit ätzendem Spott kenntlich."

Weiteres: Auf ZeitOnline schreibt Sabine Horst über die streng subjektive Point-of-View-Ästhetik, derer sich nicht nur der Spielfilm (aktuelles Beispiel: "Hardcore", ab 14. April im Kino), sondern auch der Porno bedient. Die FAS hat Mariam Schaghaghis Gespräch mit Julianne Moore online nachgereicht. In der Welt jubelt Hannes Stein über Amazons neue Serie über den New Yorker.

Michael Freerix (taz), Fritz Göttler (SZ) und Dietmar Dath (FAZ) gratulieren Roger Corman zum Neunzigsten. Christina Tilmann erinnert in der NZZ an Gregory Peck, der heute hundert Jahre alt geworden wäre: "Integer, sympathisch, glaubwürdig und bis ins hohe Alter beunruhigend gutaussehend, könnte Gregory Peck im Vergleich zu Clark Gable oder Gary Cooper geradezu als Langweiler durchgehen."
Archiv: Film