Efeu - Die Kulturrundschau

Die Trötung trötet nicht genug

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06.04.2016. Zwischen Spott und Entsetzen schwanken die Kritiker beim Anblick des neuen Pariser Zentrum Les Halles: Besser shoppen und überwacht werden kann man nicht einmal am Flughafen, meint die FAZ. Die Berliner Zeitung bleibt bei ihrer Forderung nach Architektur, die über die Stränge schlägt. In der SZ spricht der Comiczeichner Riad Sattouf über den staatlich verordenete Antisemitismus in Syrien. Bei irights.info huldigt Annette Gilbert der Kunst des Abschreibens. Die taz lernt in Athen, der Melancholie von morgen vorzubeugen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2016 finden Sie hier

Architektur


Baumkrone? Tarnkappenbomber? Die neue Canopee im alten Bauch von Paris.

Patrick Berger und Jacques Anziutti haben das alte Hallenviertel von Paris "morphogenetisch" überformt und zum größten Bahnhof Europas ausgebaut, schreibt Marc Zitzmann in der NZZ, auf den der Bau ein bisschen unproportioniert und massiv wirkt: "Canopée bezeichnet eigentlich den Schirm, den die Baumkronen des Waldes bilden. Aber die Bandbreite der Assoziationen, die der Bau bei Betrachtern auslöst, reicht schon jetzt von Bumerang und Tarnkappenflugzeug über Lindenblatt, Mantarochen, Rotzunge, Wasserläufer und Skarabäenpanzer bis hin zu den Wellen, die sich in einer Schüssel Rahm ausbreiten (sic)."

Mit einer gewissen Erschütterung reagiert Niklas Maak in der FAZ auf das neue Pariser Forum: "Diese Airportisierung des Zentrums markiert auch den Übergang vom unübersichtlichen Junk Space der Spätmoderne zur maximal aufgeräumten urbanen Konsum- und Überwachungslandschaft. Die Architekten haben einen Zwitter aus moderner Flughafenarchitektur und Marktromantik geschaffen: Aus einigen Perspektiven wirkt das hängende Dach, als sei es aus den Resten der abmontierten alten Hallen zusammengeschweißt. Das neue Herz von Paris ist eine goldene Abflughalle, in der nichts abfliegt."

In der Welt kann Martina Meister nichts von der behaupteten Leichtigkeit sehen: "7000 Tonnen Stahl sind im Dach verarbeitet. Es wiegt fast so viel wie der Eiffelturm." In Le Monde findet Frédéric Edelmann das Gelb besonders abstoßend: "Ein trübes Gelb, das an die kleinen Plastikteller in Raststätten oder Krankenhaäsern erinnert."

In den Nachrufen auf Zaha Hadid bemerkte Niklaus Bernau in der Berliner Zeitung vor allem den Ruf nach weniger Starkult in der Architektur, dafür mehr Bescheidenheit. Dies aber wäre genau falsch, meint der Architekturkritiker: "So richtig und wichtig die Forderung nach mehr Rücksicht auf die Umwelt in der Architektur ist: Sie ist auch eine Verkürzung der Architektur auf das entweder rein sozial-funktionale oder rein Äußerliche. Architektur aber ist erst dann wichtig für die Gesellschaft, wenn sie das Notwendige mit dem für ihre Zeit künstlerisch Charakteristischen vermittelt." Er fordert daher "bei aller Rationalität eben auch Architektur, die über die Stränge schlägt, Neues wagt."

Für die FAZ hat Andreas Rossmann außerdem das neugestaltete Baptisterium in Köln besucht.
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Kunst

In der taz bringt Ingo Arend einen kurzen Überblick über die Vorbereitungen in Athen zum anstehenden Documenta-Event im nächsten Frühling: Unter anderem gründete sich bereits "das 'Institute for the Management of the Athenian Post-documenta Melancholy (IDAMM)'. Seine Initiatoren misstrauen der Euphorie, dass die griechische Hauptstadt im Gefolge der Documenta quasi im Eilverfahren vom Mauerblümchen der globalen Kunstwelt zu deren Lehrer aufsteigt und den Künstlern dort blühende Landschaften bescheren wird. Vor allem aber sorgen sie sich, was in Athen ab November nächsten Jahres passieren wird, wenn die Documenta ihre Büros dort schließen wird."

Amüsiert bis befremdet nimmt Gerhard Matzig in der SZ zur Kenntnis, dass zur Stressbewältigung lancierte Ausmalbücher für Erwachsene derzeit einen Boom erleben: "Man dachte ja, man hätte mit Tamagotchi, Sudoku, Zauberwürfel oder Seidenmalerei schon alles erlebt im Reich jener kollektiven Verhaltensweisen, die paradoxerweise zugleich Hinweise auf die befeuerte Freizeitfanatisierung beinhalten wie auf die zunehmende Burn-out-Diagnostik. Kann es sein, dass wir zu viel arbeiten - und zugleich zu viel Freizeit haben?"

Weiteres: Für die taz unterhält sich Marion Bergermann mit der Künstlerin und Aktivistin Grada Kilomba, die sich gerade mit ihrem Programm "Decolonizing Knowledge" auf Tour befindet.

Besprochen werden die Ausstellung "Hacking Habitat" im ehemaligen Gefängnis Wolvenplein in Utrecht (taz), die Ausstellung "Father Figures are Hard to Find" in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Picasso - Fenster zur Welt" im Bucerius Kunst Forum in Hamburg (FAZ) und Daniel Martin Feiges Buch "Computerspiele - eine Ästhetik" (FAZ).
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Film

Still aus dem Film "Oriented" mit der Guppe Qambuta.

In der taz stellt Susanne Kaul die Protagonisten aus Jake Witzenfelds Dokumentarfilm "Oriented" über schwule Palästinenser in Israel vor, die wirklich zwischen allen Stühlen sitzen: "Für die drei Freunde ist die Positionierung für ihr Volk gerade als schwule Araber wichtig. 'Die Leute sehen den Film', erklärt Daeem, 'und dann sagen sie: Ach das sind die palästinensischen Schwulen, die leben in Tel Aviv, gehen auf Partys, tanzen, lassen es sich gut gehen, warum also beschweren sie sich?' Gleichzeitig kommt die Kritik aus der eigenen palästinensischen Gesellschaft, die die Schwulen als zu israelisch betrachtet, zu angepasst an die Gesellschaft der Besatzer."

Besprochen werden die Fernsehserie "11.22.63 - Der Anschlag" nach dem gleichnamigen Roman von Stephen King (ZeitOnline) und Ramin Bahranis "99 Homes" (ein "großes Kunstwerk", schwärmt Dietmar Dath in der FAZ).
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Musik

Aller Wucht zum Trotz: So richtig super mag Arno Raffeiner in der Spex das neue Album der Pet Shop Boys "Super" nicht finden: "Am Willen zu einem gemeinsamen Nenner fehlt es diesem Album nicht. Was fehlt, ist der Wille, der Angst vor der eigenen Courage ins Auge zu sehen. Anders gesagt: Die Trötung trötet nicht genug. Es ist jammerschade um all das schöne Gebolze, aber am Ende ist es doch zu geschmackvoll." Für Pitchfork bespricht Chris Randle das Album.

Die umfangreiche, am Jazzinstitut Darmstadt erstellte Studie über die Lebenssituation hiesiger Jazzmusiker zeichne "das Bild eines brillanten Prekariats", seufzt Andrian Kreye in der SZ: "Das Leben als Jazzmusiker ist hart und bitter."

Erinnert sich noch jemand an New Weird America, den großen Popjournalismus-Hype von vor rund zehn Jahren? Mit der großen Vinyl-Box "Parallelogram" lässt sich nun nachvollziehen, welche Entwicklung einige der Protagonisten dieses losen Zusammenhangs bis heute durchgemacht haben, erklärt Holger Adam auf Skug: Es ging "‬von ausufernden experimentell-psychedelischen Improvisationen hin zu songorientierter Americana.‭"

Weiteres: In der taz empfiehlt Jens Uthoff die mittlerweile fünfte Ausgabe des Punkfilmfestivals in Berlin. Besprochen werden die neuen Alben von Moderat (Berliner Zeitung), Bob Mould (Pitchfork), Bernd Begemann (Tagesspiegel), Yeasayer (Pitchfork), Black Mountain (Spex), die neue EP von Com Truise (Pitchfork), ein Konzert von M. Ward (taz) und Phil Collins' wiederveröffentlichte Soloalben (Tagesspiegel).
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Bühne

Brillant und vergnüglich findet Thomas Schacher in der NZZ Laurent Pellys Inszenierung von Charles Gounods musikalischer Komödie "Le médecin malgré lui" an der genfer Oper. Besprochen wird auch Barrie Koskys Züricher "Macbeth"-Inszenierung ("Schwärzer, pessimistischer, ja nihilistischer geht's nimmer", staunt Regine Müller in der taz).
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Literatur

Für die SZ hat sich Alex Rühle mit dem Comiczeichner Riad Sattouf unterhalten, der mit seiner Comicreihe "Der Araber von morgen" (hier unsere Rezensionsnotizen) seine Kindheit im Nahen Osten aufarbeitet. Dass seine europäischen Leser über den darin geschilderten Antisemitismus in Syrien so gestaunt haben, hat ihn überrascht, gesteht er: Es wundert ihn, "dass dieser staatlich verordnete Anti-Israelismus hier so wenig bekannt war. Syrien befand sich im Krieg mit Israel. Der Hass auf das Nachbarland gehörte zum kulturellen Alltag. Wir haben mithilfe von Gedichten, in denen die Vernichtung Israels angekündigt wird, das Lesen gelernt. Dieselben Lesefibeln wurden in Jordanien und Algerien verwendet."

Auf irights.info spricht die Literaturwissenschaftlerin Annette Gilbert über die Kunst des Abschreibens, Kreativität in der digitalen Welt und ihre Anthologie: "Appropriation Literature": "Nicht ohne Grund arbeiten viele Autoren mit Klassikern, also Texten, deren Autoren länger als 70 Jahre tot sind. Obwohl das natürlich nicht der einzige Grund ist - es geht ja auch darum, an der Tradition der Weltliteratur zu partizipieren. Aber nicht selten verwendet man bewusst ältere Ausgaben oder gemeinfreie Übersetzungen als Vorlage. Manchmal fügen die Autoren auch juristische Gutachten über den ungeklärten Status ihres Werks an oder deklarieren ihr Werk vorsichtshalber als 'nicht im Handel erhältlich'."

In der SZ bringt Thomas Steinfeld ein Update zu der in Schweden Debatte um den "Kulturmann", der im Gegensatz zur Kulturfrau nur auf sich selbst fixiert sei und daher keine wahre Bildung hervorbringen könne. An die Wortführerin Ebba Witt-Brattström gerichtet schreibt er: "Hier waltet ein Anspruch auf Macht und Autorität, der es nicht nur mit dem Selbstbewusstsein früherer 'Kulturmänner' aufnehmen kann, sondern diese an Rücksichtslosigkeit und Aggressivität übertrifft."

Weiteres: Für die große Reportage auf Seite Drei der SZ hat Cornelius Pollmer sich eineinhalb Tage an die Fersen von Benjamin von Stuckrad-Barre geheftet, der mit seinem Roman "Panikherz" das Comeback des Frühjahrs darstellt. Der Hans-Christian-Andersen-Preis für Kinder- und Jugendliteratur in der Kategorie Illustration geht in diesem Jahr an Rotraut Susanne Berner, mit dem Astrid-Lindgren-Preis wird unterdessen Meg Rosoff ausgezeichnet: "Eine ausgezeichnete Wahl", findet Tilman Spreckelsen in der FAZ.

Besprochen werden Friedrich Christian Delius' "Die Liebesgeschichtenerzählerin" (FR), Olivier Schrauwens Comic "Arsène Schrauwen" (Tagesspiegel) und Ferdinand Hardekopfs "Berliner Briefe" (FAZ).
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