Efeu - Die Kulturrundschau

Im fernen Echo der Evolution

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2016. Die Berliner Zeitung verteidigt Shakespeare vor dem gesunden Menschenverstand und fordert mehr Mut zum Extremen. Die FR erliegt im Gropius-Bau der Schönheit von Maya-Kunst. Bei Thomas Demand lernt die FAZ, wie Kunst zum Krimi wird. Auch vor der Neuverfilmung des Dschungelbuchs gruselt es ihr. Die taz lauscht PJ Harveys Songs über die Schlechtigkeit der Welt. Und die Welt wühlt in alten Öfen und findet Jacques Offenbach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.04.2016 finden Sie hier

Kunst

Foto: Ballspieler, 600-900 n. Chr. Foto: Museo Nacional de Antropología, Mexiko City

Völlig zurecht trägt die im Berliner Gropiusbau gezeigte Ausstellung "Maya - Sprache der Schönheit" ihren Titel, denn um das Schöne und die Kunst geht es darin tatsächlich, meint Arno Widmann sichtlich beeindruckt in der FR. Ein wenig "altmodisch" sei sie allerdings schon geraten, denn sie zeigt die Fundstücke so, wie die Archäologen sie gefunden haben: "Wer einen Raum betritt, sieht vor allem Schattierungen von Grau. Falscher könnte der Eindruck von Maya-Kunst nicht sein. Es ist, als stünden wir noch schwärmend vor den Statuen von Venus und Apoll - ganz in Weiß. Sie waren aber bunt, knallbunt. Eher noch bunter waren Quetzalcoatl und die jungen Männer aus Campeche oder auch der 'Herr der Unterwelt'. Was wäre verwerflich daran, wenn man denn schon eine 'Kunst'
-Ausstellung macht, einen Saal einzurichten, in dem bemalte Kopien versuchen, eine Vorstellung von dem zu erwecken, wie die Gegenstände damals wirklich aussahen?" Dazu passend schreibt Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel über Teobert Maler, der die Überreste der Maja-Kultur Ende des 19. Jahrhunderts fotografiert hat und dessen Fotografien im Laufe des Jahres in Berlin ausgestellt werden.

Auf nach Mailand, in die Fondazione Prada zur von Thomas Demand kuratierten Ausstellung "The Stolen Image", ruft uns Kolja Reichert in der FAZ zu. Denn diese sei zweifelsfrei ein Highlight des laufenden Jahres. Warum? Weil Demand in der Komposition seiner Ausstellung, die nichts als Kopien und Aneignungen zusammen bringt, gar nicht erst Wert legt auf dezenten Abstand zwischen den Exponaten und deren Unterordnung unter eine Ausstellungsthese: "Demand holt dagegen jedes Werk aus der Komfortzone und lässt es mit anderen zusammenkrachen. Er arbeitet nicht von der abstrakten These her, sondern vom Material; nicht vom Inhalt, sondern von der Form. So entsteht, was so vielen Ausstellungen fehlt: echte Spannung. Ein begehbarer Krimi, der wieder neu die Lust auf Kunst entfacht."

Weiteres: Für den Standard besucht Stefan Weiss die Ausstellung "Im Dienst der Rassenfrage" im Fotoinstitut Bonartes, die sich den NS-Verstrickungen der Fotografenwitwe Anna Koppitz widmet. Michael Huber schreibt im Kurier über die Verstrickungen der Kunstwelt in die Affäre um die Panama Papers.

Besprochen werden die Ausstellung "L'atelier en plein air: Les impressionistes en Normandie" im Musée Jacquemart-André in Paris (FAZ) und der zweite Band von Katharina Sykoras Theoriebuch "Die Tode der Fotografie" (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Für ihr neues Album "The Hope Six Demolition Project" greift PJ Harvey auf die Erfahrungen zurück, die sie bei Reisen um die Welt angesichts des Elends in der globalen Peripherie gemacht hat, erklären uns die Popkritiker. Einen derartig konkreten, mitunter anklägerischen Bezug findet Markus Schneider von der Berliner Zeitung auf den ersten Blick zwar irritierend. "Am Ende erweist sich der vermeintliche neue Realismus aber wohl als ebenso trügerisch, wie es früher die Gedanken zu Sex oder Herzbruch gewesen sind. ... Harvey benutzt sowohl den sachlichen Blick als auch die Musik - in diesem Fall einen hell und leicht hoppelnden Pop und ein zartes Falsett - als Mittel, um sich vom schlichten Eins-zu-eins sofort wieder zu distanzieren." Tazlerin Stephanie Grimm ist merklich unschlüssig, was sie vom Ergebnis halten soll: Dieser "Drahtseilakt, Musik über die Schlechtigkeit der Welt zu komponieren und dabei Empörung und potenzielle Plumpheit klassischer Protestsongs zu vermeiden, funktioniert mal besser, mal weniger gut. ... Auf der Textebene wirken gerade die eher unkonkreten Bilder schlüssig. Zumindest erhellender als das des eingangs erwähnten, von seiner Kultur entfremdeten Native American, dem nur der Griff zur Flasche geblieben ist. Vom Klischee zur Exploitation ist es eben nur ein kleiner Schritt." (Foto: Maria Mochnacz)

Weiteres: Thomas Seedorf berichtet in der FAZ vom Festivalschwerpunkt "Neuland.Lied" des Heidelberger Frühlings. SZler Tobias Kniebe gratuliert Al Green zum Siebzigsten.

Besprochen werden Iggy Pops neues Album "Post Pop Depression" (Skug) und ein Konzert von The Chap (taz, Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Bühne

In der Berliner Zeitung verteidigt Theaterregisseur Jan Bosse Theatralität und die großen Gesten Shakespeares wider einen falsch verstandenen Realismus des gesunden Menschenverstands: "Shakespeare zu machen fordert den Mut zum Extrem, zur überbordenden Leidenschaft, zur hochsentimentalen Sprachlust, zum krachenden Pathos, zur absurden Albernheit, zu düsterstem blutigen Horror. Es geht, ganz künstlerisch und ganz politisch, um Freiheit. Um die Freiheit des Spiels als utopisches Moment."

Welt-Kritiker Manuel Brug freut sich, dass er an der Opera de Lyon den "kitschig-süßen" Glanz von Jacques Offenbachs Operette "Der Karottenkönig" überhaupt erleben kann. Möglich ist das nur dank Jean-Christophe Keck, der mit seinem Lektor Frank Harders die überwiegend unbekannten Notenberge sichtet, so Brug:" Die französischen Verlage kümmerten sich gar nicht um dieses Erbe, Keck durchwühlte immer wieder auf die Straße gekippte (!) Notenladungen, fand Unersetzliches in alten Öfen. Es musste freilich deutsche Gründlichkeit kommen,um diesen Wahnsinnsschatz zu heben und zu ordnen."

Weiteres: Astrid Kaminski spricht für die taz mit dem Choreografen Akram Khan, dem die Lage der Frauen in seinen Stücken Herzenssache ist. Für die SZ porträtiert Eva-Elisabeth Fischer den Choreografen Richard Siegal.

Besprochen werden Lydia Steiers "Fliegender Holländer"-Inszenierung in Heidelberg (FR) und Günther Beelitz' Düsseldorfer Inszenierung von Max Frischs "Biografie-Spiel" (SZ).
Archiv: Bühne

Architektur

In der FAZ berichtet Andreas Kilb vom Richtfest der James-Simon-Galerie auf der Berliner Museumsinsel neben dem Pergamonmuseum. 2018 soll das Gebäuden nach langen Verzögerungen und am Ende doppelt so hohen Kosten wie veranschlagt eröffnen. Es wird "ein Patchwork, kein signature building", schätzt Kilb jetzt schon ab, "ein Sammelsurium, kein Wahrzeichen. Ebendeshalb ist es das richtige Gebäude für die Museumsinsel, denn es bildet im Kleinen ab, was das Ensemble der Kunsttempel im Großen ist."

Archiv: Architektur

Literatur

Besprochen werden Johannes Frieds "Dies Irae"(NZZ), Franzobels "Groschens Grab" (Tagesspiegel), Neal Stephensons SF-Epos "Amalthea" (SZ), Alexandra Kleemans "A wie B und C" (ZeitOnline) und Neel Mukherjees "In anderen Herzen" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Franzobel, Epos

Film

So begeistert ist Tobias Kniebe von "Wild", der dritten Regiearbeit von Nicolette Krebitz, in dem die Filmemacherin die Liebesgeschichte zwischen einer Frau und einem Wolf erzählt, dass er angesichts des mystisch angehauchten Stoffs und dessen Umsetzung selbst ein wenig ins Raunen verfällt. Insbesondere die Intensitäten im Spiel zwischen Hauptdarstellerin und -darsteller brannte sich ihm nachdrücklich ein: "Lilith Stangenberg macht das mit atemberaubender Souveränität, und wenn man sie heute darüber reden hört, war da wirklich etwas zwischen ihr und dem Wolf, eine Chemie, ein Einverständnis. ... [In dem Film] entsteht etwas Unerklärliches, ein nicht ganz auflösbares Rätsel, das seine eigene Wahrheit hat, vielleicht im gemeinsamen Ursprung zweier Lebensformen, im fernen Echo der Evolution." In der FAZ zeigt sich auch Verena Lueken tief beeindruckt von diesem Film.

Bild: Walt Disney Studios

Technisch ist die weitgehend computeranimierte "Dschungelbuch"-Neuverfilmung "unheimlich perfekt", staunt Jürgen Kaube in der FAZ. Doch die Faszination ist nicht nur positiv zu verstehen: "Noch in keiner Fassung des 'Dschungelbuchs' ging das Schicksal Mowglis so ausschließlich im Bedürfnis der Erzähler (hier: Disney und Regisseur Jon Favreau) auf, den Helden für immer haarsträubendere Szenen zu benötigen. Im Grunde handelt es sich um einen Katastrophenfilm in einer Naturgeisterbahn. Darum ist diese Fassung des 'Dschungelbuchs' auch unheimlich, weil sie uns mit äußerster Folgerichtigkeit vorführt, wie technische Überwältigung mit erzählerischer Entkernung einer Geschichte einhergeht. Unter den Begriff 'Literaturverfilmung' wird man sie nicht mehr bringen können." Auch Gunda Bartels vom Tagesspiegel wird es mulmig zumute "angesichts dieser rasanten Entwicklung, die es bald unmöglich machen wird, wirkliche Wesen und Welten von computergenerierten zu unterscheiden."

Außerdem: Berlinale-Pressekonferenzen ohne sie sind schlicht nicht vorstellbar: In der Berliner Zeitung meldet Philipp Bühler den Tod der legendären Berliner Starfotografin Erika Rabau.

Besprochen werden die Ausstellung "Zusammen sammeln" im Deutschen Filmmuseum Frankfurt (NZZ), eine DVD-Box des japanischen Mysteryserien-Klassikers "S.R.I. und die unheimlichen Fälle" aus den 60ern (critic.de) und Gordian Mauggs Spielfilm "Fritz Lang" (taz).
Archiv: Film