Efeu - Die Kulturrundschau

Kontrovers, allesfressend und schillernd

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22.04.2016. Trauer um Prince. Die Welt verabschiedet sich vom größten Popmusiker, den man im Internet nicht hören kann. Außerdem: Die SZ würdigt den biegsamen, süßen Ton Yehudi Menuhins. Die NZZ gruselt sich mit Lorenzo Mattottis Hänsel und Gretl im patagonischen Wald. In der taz würdigt Künstlerin Saskia Groneberg das Swastika als Glücksbringer - solange es vor einem Hauseingang in Bangalore liegt. Dadaismus gabs auch in Russland, erinnert die NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2016 finden Sie hier

Musik

"Purple Rain" - so sieht das Cover des nächsten New Yorker aus. Der New Yorker sammelt einige Stimmen zum Tod von Prince. Aber schwer zu fassen bleibt er auch am Ende, unter anderem weil kaum Videos zu finden sind. Er hasste das Internet. Die New York Times behilft sich mit einer Bilderstrecke zu "Prince's Style, Through the Years". Longreads verlinkt auf einige große Geschichten über Prince, darunter den Nachruf von Jon Pareles in der New York Times. Kevin Fallon fordert in The Daily Beast einen "Moment of Silence": "Princes Kampf gegen die Musikindustrie und sein Kampf um seine Rechte als Künstler sind genau der Grund dafür, dass Sie heute online keine Musik von ihm finden."

Einen ersten Nachruf hat Markus Schneider für die Website der Berliner Zeitung verfasst. Er deutet den Musiker als einen der großen Drei des 80s-Pop: "Wo sich Madonna die Achtzigerjahre über den theoretischen Diskurs eroberte und Jackson über die Absolutheit seines Pops, da besetzte Prince die sumpfigen, schlüpfrigen Zwischenräume, immer etwas zwielichtig, gern kontrovers, allesfressend und schillernd. ... Den Jüngeren, bis in die dunklen, geschlechtsverwirrten Höhlen des derzeitigen Elektrosoul, hat er die Blaupausen geliefert. Den Älteren die Jugend vergoldet. Und bestimmt hätten wir ohne ihn sogar schlechteren Sex." Auf ZeitOnline verabschiedet sich Bodo Mrozek vom vielleicht "letzten Chamäleon des Pop". In der NZZ schreibt Ueli Bernays, im Tagesspiegel schreibt Jörg Wunder. In einem sehr schönen Nachruf im Guardian würdigt Alexis Petridis das Genie und den Nonkonformismus des Musikers.

Der Rolling Stone hatte die gute Idee, Videos von Prince-Songs für andere zu sammeln - zum Beispiel "I Feel for you" von Chaka Khan.



Und natürlich das bis heute umwerfende "Nothing Compares 2 U" mit Sinead O'Connor.



Heute wäre der Geiger Yehudi Menuhin hundert Jahre alt geworden. Eine achtzig CDs und 11 DVDs umfassende Box würdigt dessen musikalisches Schaffen. "Sein Ton konnte ungeahnt süß klingen", schreibt dazu Harald Eggebrecht in einer umfangreichen Würdigung in der SZ, "aber niemals glatt, er war ausdruckshungrig, nie ausdruckssatt, nie indifferent schön, sondern anrührend, manchmal sogar schmerzhaft." Als besonderes Highlight unter den zahlreichen Aufnahmen hat der Kritiker ein Violinkonzert von Elgar aus dem Jahr 1932 identifiziert (siehe dazu auch das unten eingefügte Video): "Menuhin reißt mit Frische und Spontaneität hin, ungemein biegsam in den Phrasierungen, unerschöpflich in der Vielfalt dynamischen Abtönens und dem Finden überraschender Klangfarben, entfaltet er eine zehrende Sehnsucht nach Schönheit." Der WDR erinnert in einem viertelstündigen Radiobeitrag an Menuhin.



Weiteres: Adam Olschewski porträtiert in der NZZ den Musiker und Musikverleger Guido Möbius. In der taz findet Klaus Walter vierzig Gründe, den Ramones zu huldigen, deren Debüt vor ebensovielen Jahren erschien. Für die SZ bringt Johannes Boie in Erfahrung, wie Spotify mittels Künstlicher Intelligenz auf seine User zugeschnittene Mixtapes erstellt.

Besprochen werden Christof Meuelers Biografie über den deutschen Labelbetreiber Alfred Hilsberg (Tagesspiegel), Daniel Haaksmans "African Fabrics" (taz) und Troy von Balthazars "Knights of Something" (taz).
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Literatur

Derzeit wird in der Schweiz überall das Hundert-Jahre-Jubiläum des Dadaismus gefeiert. Dabei wird übersehen wird, dass es Dada längst auch im frühen Sowjetstaat gab, dort hieß er nur anders, schreibt Felix Philipp Ingold in der NZZ: "Beispielhaft dafür sind die Nitschewoken, die ihren Gruppennamen in ironischer Anlehnung an die Bolschewiken gewählt haben, ihn aber bedeutungsmäßig ins Gegenteil verkehrten: Während sich die Bolschewiken (von russisch 'bolsche', d. h. 'mehr') als siegreiche 'Mehrheit' darstellten, bezogen sich die Nitschewoken (von russisch 'nitschewo', d. h. 'nichts' oder 'ist doch egal!') mit ihrem Neologismus wörtlich auf das 'Nichts' und kehrten damit auch ihren wegwerfenden Zynismus heraus - man könnte sie demnach zu deutsch als 'Nullitäter', 'Einerleier' oder 'Nichtsianer' bezeichnen."

Große Erinnerungsrunde heute in den Feuilletons: Reinhard J. Brembeck schreibt in der SZ zum 400. Todestag von Don-Quijote-Erfinder Miguel de Cervantes, der "Überraschungen und Wunder über alles [liebt] - aber nur, wenn sie sich als vollkommen logisch und alltäglich erklären lassen." Heute vor fünfzig Jahren brachte der junge Peter Handke das Wörtchen "Beschreibungsimpotenz" in die Literaturgeschichte, als er in Princeton die "läppische" Literatur der Gruppe 47 rügte, wie Jürgen Kaube in der FAZ erinnert. In der FR schreibt Judith von Sternburg zum 200. Geburtstag der Schriftstellerin Charlotte Brontë. Außerdem: Tomasz Kurianowicz plaudert für die NZZ mit Autorin Ronja von Rönne. Und Bernd Noack unterhält sich mit dem Verleger Jochen Jung über den Islam in der Literatur und die neue Musil-Ausgabe.

Besprochen werden Ross Thomas' Thriller "Porkchoppers" (Freitag), Günter Herburgers "Wildnis, singend" (Zeit), Emmanuel Carrères "Das Reich Gottes" (Tagesspiegel) und Don Winslows "Germany" (SZ). Mehr über Literatur im Netz in unserem Metablog Lit21.
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Kunst


Szene aus Lorenzo Mattottis Zyklus "Oltremai"

Christian Gasser hat beim Comix-Festival Fumetto den Künstler und Comiczeichner Lorenzo Mattotti getroffen, dessen düsterer (und wortloser) Zyklus "Oltremai" dort gerade ausgestellt wird: "Auf einer Reise durch Patagonien vor etwa zwölf Jahren, erzählt er, hätten ihn die vom rauen Klima geschundenen Wälder fasziniert. Die verwitterten Stämme und knorrigen Äste fanden Eingang in seine Skizzenbücher. Als er wenig später um eine Interpretation von 'Hänsel und Gretel' gebeten wurde, lieferten diese Wälder die Kulisse. 'Das Märchen habe ich nicht wieder gelesen, ich wollte vor allem die Angst, die ich als Kind verspürt hatte, sichtbar machen.' Auf zwölf großformatigen Doppelseiten ohne Text gibt Mattotti dieser grausamen Geschichte ihren ursprünglichen Schrecken zurück."

Für die taz begleitet Ingo Arend die Künstlerin Saskia Groneberg bei ihrem vom Goethe-Institut ermöglichten Aufenthalt in Bangalore, das wenig Glam und Komfort, aber viele Impulse für rasch verworfene Ideen bietet: "Dieser unwirtliche Moloch aus Müll, Armut und maroder Infrastruktur ist freilich das ideale Feld für Kreative jeden Genres ... Die Idee, den Zeichentransfer zwischen den Kulturen versuchsweise auf die Spitze zu treiben und das Goethe-Institut mit Hakenkreuzen zu überziehen, verwerfen wir lachend wieder. Den Kontextwechsel würde das Swastika-Symbol vermutlich nicht als der Glücksbringer überstehen, als den wir es beim Spaziergang in der Stadt auf Haustüren und Fußmatten finden."

Weiteres: Im Tagesspiegel gratuliert Bernhard Schulz dem Musée du Quai Branly in Paris zum zehnjährigen Bestehen. FAZlerin Julia Voss spricht mit Marion Ackermann, die als Direktorin von der auf die Klassische Moderne spezialisierten Kunstsammlung NRW zur historisch orientierten Staatlichen Kunstsammlung Dresden wechselt (ein weiteres Gespräch kann man beim Deutschlandradio nachhören).

Besprochen werden die Ausstellung "Plot in Plastilin" im Gewerbemuseum Winterthur (NZZ), eine den Rolling Stones gewidmete Ausstellung in der Londoner Saatchi Gallery (NZZ), Marcel Ruijters' Comic über Hieronymus Bosch (Tagesspiegel) und der historische Rekonstruktionsversuch der 1978 in Beirut organisierten "Internationalen Kunstausstellung für Palästina" im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (SZ).
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Bühne

Mit "War and Peace" von Gob Squad nach Leo Tolstoi kommt die "Schwarze Serie" der Volksbühne Berlin an ihr Ende. Für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung kein allzu ruhmreicher Beschluss: Ihrer Ansicht nach ist diese Stoffaneignung zu vage, da das Künstlerkollektiv fremd vor dem Material geblieben sei. Selbst wenn die Inszenierung "eng an der Vorlage klebt, trifft [sie] sie doch selten genau oder schlägt einen eigenen, souveränen Weg durch die Erzählung."

Weiteres: Für die Nachtkritik wirft Wolfgang Behrens einen Blick in aktuelle Theatermagazine. Beim br zum Nachhören gibt es Christoph Leibolds Feature "Dead Man Talking" über Shakespeare und den Tod. Der SWR lässt unterdessen eine Expertenrunde über die Aktualität Shakespeares diskutieren.
 
Besprochen werden die Uraufführung von Nora Abdel-Maksouds "Sie nannten ihn Tico" in München (eine "Mischung aus kapitalismuskritischer Farce, rührender Männerfreundschaftsballade und späthippieskem Märchen", schreibt Petra Hallmayer in der nachtkritik) und Choreografien beim Zürcher Tanzfestival Steps (NZZ hier und hier).
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Film


In der Tradition des postkolonialen Dritten Kinos: Ciro Guerras "Der Schamane und die Schlange"

Auch Daniel Kothenschulte von der FR staunt über Ciro Guerras Dschungelfilm "Der Schamane und die Schlange" (mehr dazu im gestrigen Efeu): In dessen psychedelischem Ende "entlädt sich eine Sinnlichkeit und Neugier, die den ganzen Film getragen hat, die sich zusehends intensiviert, und das nicht aufdringlich, sondern intuitiv. ... Es gibt zur Zeit eine kleine Gruppe von Filmemachern, die das Medium wieder zur Neugier seiner Anfangszeit zurückführt. Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul gehört dazu, der Portugiese Pedro Costa, und auch Ciro Guerra. Sie entdecken das Kino gerade vollkommen neu."

Für ZeitOnline hat Andreas Busche den Film gesehen. Er sieht den Schwarzweiß-Film mit dem Farbenrausch am Ende auch als Reminiszenz an Kubrick und im Zusammenhang mit dem Acidkino eines Alejandro Jodorowsky. "Mit dieser Gemengelage aus Genremotiven, Kolonialkritik und subalternem, magischem Geheimwissen steht 'Der Schamane und die Schlange' - gemeinsam mit dem philippinischen Guerilla-Filmemacher Lav Diaz - in der postkolonialen Tradition des Dritten Kinos der sechziger Jahre. Dessen ästhetische Radikalität bleibt unter den Bedingungen eines globalisierten Arthouse-Marktes heute unerreicht. Die bewusstseinserweiternde Wirkung von Guerras Bildern ist dennoch einmalig."

Weiteres: In der SZ schreibt Tobias Kniebe zum Tod des Bond-Regisseurs Guy Hamilton. Dietmar Dath gratuliert in der FAZ John Waters zum Siebzigsten.

Besprochen werden Thomas Vinterbergs "Die Kommune" (FR, FAZ, mehr dazu hier), Athina Rachel Tsangaris "Chevalier" (Artechock, Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Alex Proyas' Fantasyepos "Gods of Egypt" (Tagesspiegel, FAZ, unsere Kritik hier) und die Serienadaption von Stephen Kings Roman "Der Anschlag" mit James Franco in der Hauptrolle (FAZ).
Archiv: Film