Efeu - Die Kulturrundschau

Ein persönliches, besonderes, großes Nein

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2016. Die NZZ bringt Peter Esterhazys Grabrede auf Imre Kertesz. Der Standard fragt anlässlich der Wiener "L'Exposition Imaginaire", wie analog Kunst heute noch sein kann. Die SZ fürchtet die Stadt, in der es für Arbeiter keine Jobs mehr gibt. Die Popkritik steht ganz im Bann von Beyoncé. Und Dezeen bringt die Poster, mit denen Wolfgang Tillmans der Remain-Campaign auf die Sprünge helfen will.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2016 finden Sie hier

Kunst



Fotograf Wolfgang Tillmans findet die Kampagne gegen den Brexit zu lahm, meldet Dezeen. Deswegen unterstützt der Fotograf, der als erster Nicht-Brite den Turner Prize gewonnen hat, die Remain-Kampagne mit einer Reihe von Postern. Man kann sie sich auch von seiner Website herunterladen. Im Guardian gefällt Jonathan Jones sehr die Kombination aus lyrischen Bildern und kräftigen Worten.

Im Standard stimmt Anne Katrin Fessler auf die "L'Exposition Imaginaire" der Kunsthalle Wien ein, die mit etlichen Diskussionen und Vorträgen grundsätzliche Fragen zum Kunstwerk im digitalen Zeitalter stellen will: "Vielleicht wird die Qualität des 'Hier und Jetzt' eines Kunstwerks, dessen Aura im Sinne Walter Benjamins heutzutage aber auch gar nicht mehr vermisst? Man schaue sich um in den Museen! Groß und Klein tippen dort mehr auf interaktiven Monitoren oder der Museumsapp am Smartphone herum, als den eigenen Augen am Original zu vertrauen. Die Sehgewohnheiten haben sich radikal verändert. Ganz analog und ohne Netz geht es freilich heute nicht mehr. Die verpönten Artflipper hypen ihre heißen Kunstaktien auf Instagram, wo die Künstler ihre Arbeiten mit der Hoffnung auf Follower auch selbst promoten."

Weiteres: Für die SZ unterhält sich Thomas Steinfeld mit Peter Aufreiter, dem neuen Museumschef von Urbino. Besprochen wird Wolfgang Ullrichs Essay "Siegerkunst: Neuer Adel, teure Lust" (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Die NZZ bringt Peter Esterhazys bewegende Grabrede auf Imre Kertesz, der am vergangenen Freitag in Budapest beerdigt wurde: "Ich fange mit einigen Neins an, und nein ist vielleicht auch das zentrale Wort bei Imre Kertész. Sein Leben, sein Tod, sein Werk setzten sich aus Neins zusammen. Er lebte und arbeitete von diesen Neins ausgehend. Und es fügt sich leider nicht so schön, dass er aus diesen Neins etwa eine Ja-Kathedrale erbaut hätte. Er baute aus den Neins ein weiteres Nein, aber sein persönliches, besonderes, großes Nein."

Weitere Artikel: Für den Freitag ist Alf Mayer nach Australien gereist, wo er die aktuelle Kriminalliteratur genauer betrachtet. Sein Fazit: "In der australischen Crime fiction ist die Krise des Systems mit Händen zu greifen: Autoritätsverlust, allgegenwärtige Korruption, Rückkehr der Faustrechtzeiten." Dirk Schümer kann in Welt enthüllen, dass für die jüdische Heldin in Giorgio Bassanis Roman "Die Gärten der Finzi-Contini" die rote Gräfin Teresa Foscari Foscolo Vorbild war.

Besprochen werden Paul Masons "Postkapitalismus" (NZZ), Paul Veynes Rquiem auf "Palmyra" (NZZ), Philipp Schönthalers Essay "Survival in den 80er Jahren: Der dünne Pelz der Zivilisation" (ZeitOnline), Christian Adams Studie "Der Traum vom Jahre Null: Autoren, Bestseller, Leser" (Tagesspiegel), "Pfingstrosenrot - Ein Fall für Milena Lukin" des Autorenduos Schünemann & Volic (Freitag) und Clarice Lispectors "Der große Augenblick" (SZ). Mehr im Netz über Literatur finden sie in Lit21, unserem fortlaufend aktualisiertem Metablog.
Archiv: Literatur

Bühne


Nur das Lamm, das die Sünden hinwegnimmt, war nicht echt: Matthäus-Passion in Hamburg. Foto: Bernd Uhlig

Romeo Castellucci will kein Komödienspiel auf der Bühne, sondern nichts als Wahrhaftigkeit, erklärt Reinhard J. Brembeck in der SZ. Deswegen lässt der Regisseur für seine in Hamburg gezeigte "Matthäus-Passion" tatsächlich das Blut des Jesus-Darstellers anzapfen, holt eine vom Glauben abgefallene Nonne auf die Bühne und präsentiert den Schädel eines echten Schwerverbrechers. "All diese naheliegenden Assoziationen wirken in der Beschreibung banal. Zusammen mit Bachs Musik aber entwickeln sie einen ruhigen Sog, der, alles andere als banal, konsequent zum Nachdenken über diese Leidensgeschichte und ihre Beziehung zum Heute herausfordert. ... Der Regisseur will keinen Kunstgenuss, sondern Lebensbefragung. Das wirkt hier enorm befreiend."

Und: In der SZ porträtiert Till Briegleb den Regisseur Ersan Mondtag, in seinen Augen ein erfreulicher "Fall von Systemrenitenz".

Besprochen werden Ute M. Engelhardts Frankfurter Inszenierung von Leoš Janáceks "Das schlaue Füchslein" (FR), Nicola Hümpels Stuttgarter Inszenierung von Philippe Boesmans Schnitzler-Oper "Reigen" in Stuttgart (FR), die auf Kampnagel in Hamburg gezeigte "Geisterbahn" der Gruppe Kommando Himmelfahrt (taz) und Peter Konwitschnys Augsburger Inszenierung von Schostakowitschs "Lady Macbeth" ("stringent geraten, nicht zuletzt durch das Ineins von naturalistischer Direktheit und Abstraktion", bescheinigt Gerhard R. Koch in der FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

"Lemonade", das neue, von einem einstündigen HBO-Musikvideo begleitete, derzeit nur via Streaming erhältliche Album von Beyoncé schlägt die Popkritik in Bann - und das nicht nur, weil es eine Abrechnung mit Beyoncés Partner Jay Z darstellt. Christian Bos von der FR etwa sieht alle Erwartungen mehr als übertroffen: "Es ist persönlicher, politischer, experimenteller, gewagter und aufregender als alles, was die Perfektionistin aus Houston zuvor in ihrer illustren Karriere veröffentlicht hat." In der FAZ verweist Julia Bähr auf den politischen Charakter des Albums: Die Musikerin "zeigt als schwarzes Role Model eine Stärke und Unabhängigkeit, die an Madonna in den Achtzigern erinnert." In der Welt sieht Michael Pilz das Album auch als Einladung, Beynocés neue Ivy-Park-Gymnastikanzüge zu kaufen. Auf Pitchfork schreibt Jillian Mapes sehr begeistert über das Album. Nur auf Gawker bekennt Rich Juzwiak - wenn auch reichlich gewunden - sein Missfallen.

Weiterhin auch große Begeisterung für Drangsal, das Musikprojekt von Max Gruber, der gerade mit seinem Album "Harieschaim" debütiert (siehe dazu bereits den gestrigen Efeu). Für FAZ.net hat Tamara Marszalkowsi die Veröffentlichung zum "Album der Woche" auserkoren. Sie bestaunt in der Musik "eine unheimliche Verdichtung, der Sound ist orchestral, teilweise hymnisch." Auch Daniel Gerhardt von ZeitOnline hat viel übrig für diesen Sound, der hemmungslos in den allerspätesten Siebzigern und frühesten Achtzigern auf Plündertour geht: "Indem das Album alle derzeit gültigen Geschmacksgrenzen hinter sich lässt, macht es Drangsal angreifbar, eröffnet aber auch Entfaltungsmöglichkeiten auf einem Feld, das Gruber weitgehend allein beackern kann. Als Gedankenspiel klingt 'Joy Division fürs Kirmeszelt' furchtbar. Auf Platte erstaunlich mitreißend. In der taz sieht Jens Uthoff von diesem "poshen Typ, neoexistenzialistischer Style" eine jüngere Szene repräsentiert, "die Postpunk und Wave in die Popgegenwart übersetzt".

Auf The Quietus ärgert sich Neil Kulkarni in einem umfangreichen Essay darüber, wie die Geschichte der Reggaemusik im Zuge der Kanonisierung auf ein paar wenige Alben - und zwar in der Regel auf zwei von Bob Marley - eingedampft wird: "Was in Jamaika im Jahr 1976 entstanden ist, sollte als einer der Glanzpunkte der Musik der 70er Jahre betrachtet werden, nicht als Fußnote, sondern als so wichtig und einflussreich wie Punk, Disco und HipHop."

Weiteres: In der Welt berichtet Manuel Brug von Anna Netrebkos spektakulärer Ankündigung, in London doch nicht die Norma zu singen. Beim WDR gibt es "Hexensucht", das neue Hörspiel des Hamburger Punkmusikers Jens Rachut, als Download.

Besprochen werden eine CD-Box mit Aufnahmen von André Watts (SZ), neue HipHop-Veröffentlichungen (The Quietus) und Beatrix Borchards Biografie über die Komponistin Pauline Viardot-Garcia" (FAZ).
Archiv: Musik

Architektur

Denkbar schlecht orientiert taumeln Stadtplanung und Architektur dem Faktum hinterher, dass in absehbarer Zeit der überwältigende Teil der Menschheit in Metropolen leben wird, ärgert sich Laura Weißmüller in der SZ. Balsam bietet da die Rotterdamer Architekturbiennale mit einigen Gegenvorschlägen. Sehr einig ist sich die Kritikern mit den Veranstaltern, dass "Schluss sein muss mit dem Dogma der postindustriellen Stadt, wie London sie derzeit in Reinform verkörpert. Wo es fast keine Arbeitsplätze für einfache und mittlere Angestellte mehr gibt, dafür viele für die Finanzindustrie. Und der Wohnraum dem Gehaltszettel letzterer entspricht. 'Eine moderne Stadt muss produktiv bleiben', sagt (Kurator) Declerck. 'Sonst isst sie sich selbst auf.' In Brüssel hat ein Team untersucht, was der Boom der Wohnungsindustrie für die Stadt bedeutet. Fabriken verschwinden, Schlachthöfe werden ausgelagert, Jobs für Arbeiter kommen auf dem Stadtplan so gut wie nicht vor."

Weiteres: Bernhard Schulz bespricht im Tagesspiegel eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors über das Nürnberger Reichsparteitagsgelände.
Archiv: Architektur

Film


Solide im Sand: Hollywoodstar in gefühliger Beckett/Kafka-Mische.

Auch wenn Kinos in Saudi-Arabien verboten sind, will das Land im Filmgeschäft gern dabei sein. Für Tom Tykwers Filmadaption von Dave Eggers' Roman "Ein Hologramm für den König" hat sich jetzt Tom Hanks in die Wüste begeben, wo er als glückloser Mittelständler in der Midlife-Crisis einem arabischen König eine neue Holografie-Technologie andrehen will. Richtig Gefallen scheint kaum ein Kritiker daran gefunden zu haben - selbst die Verrisse bleiben matt und saftlos. Anke Westphals Fazit in der Berliner Zeitung klingt sehr verhalten: Immerhin "eine solide Mainstream-Produktion für den Weltmarkt" sei bei all dem Aufwand herausgesprungen. Christiane Peitz vom Tagesspiegel winkt ab. Und für Faz-Kritiker Tilman Spreckelsens Geschmack ist manche Passage "allzu gefühlig" geraten. Lediglich Susan Vahabzadeh von der SZ lobt gut gelaunt: Der Film "ist absurd komisch", gerade so "als hätte man Beckett mit Kafka gemischt".
Archiv: Film