Efeu - Die Kulturrundschau

Der Dichter kann beweisen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.05.2016. Die NZZ erlebt in neu entdeckten Briefen Robert Walser als fleißig-pünktlichen Angestellten kennen. Die SZ freut sich über neue Freiheiten beim Filmfestival in Teheran. Pitchfork vermisst die Anthologie-Alben. Der Tagesspiegel besucht Claus Peymanns gegen jede Wirklichkeit geschütztes Bühnenmuseum. Und der Guardian feiert den Typografen Willem Sandberg, der allen Glanz und Überfluss verschmähte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2016 finden Sie hier

Kunst


Giorgiones wunderbar zwartes Porträt eines junges Mannes. Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.

Je intensiver man sich mit Giorgione befasst, umso rätselhafter wird er, meint Alexander Menden in der SZ nach seinem Besuch der Ausstellung, die die London Royal Academy dem Renaissancemaler und seinem Kreis widmet: "Giorgione, der langsam arbeitete und 1510 mit erst 32 Jahren in Venedig starb (vermutlich an der Pest), ist von allen großen Malern der italienischen Renaissance der am schwersten fassbare: Giorgio Vasari spricht von einer 'geistigen Lebendigkeit' und einer 'schrecklichen Beweglichkeit der Dinge' in Giorgiones Bildern. Was die ihm zugeschriebenen Porträts vor allem vereint, ist jedoch eine träumerische, verschattete, zuweilen melancholische Verinnerlichung des Ausdrucks."

Weiteres: Verstörend schön findet Philippe Meier in der NZZ vor allem ein neues Video des französischen Künstlers Pierre Huyghe, das in der Ausstellung "Accrochage" in Venedigs Punta della Dogana gezeigt wird. Für den Tagesspiegel hat Bernhard Schulz die nach Sanierung umgebaute Hamburger Kunsthalle besucht. Im Tagesspiegel resümiert Christiane Meixner das Berliner Gallery Weekend.

Besprochen werden die Schau des japanischen Künstlers Yasumasa Morimura in Wien (Standard), eine Ausstellung des Genremalers Hubert Robert im Louvre in Paris (Welt), eine Schau der Berliner Künstlerin Hannah Höch in der Kunsthalle Mannheim (taz), eine Schau von Adbusting-Projekten der Experimentalband Negativland im Schweriner Kunstverein (taz), die Ausstellung "Rita McBride - Gesellschaft" in der Kunsthalle Düsseldorf (FAZ), die Ausstellung "Rotraut - Bilder und Skulpturen" im Alten Straßenbahndepot Jena (FAZ) und die Giorgione-Ausstellung in der Royal Academy of Arts in London (SZ).
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Literatur

Man hätte auch schon früher drauf kommen können, meint Roman Bucheli in der NZZ, dennoch feiert er die Briefe Robert Walsers als bedeutenden Schatz, die jetzt in der Solothurner Zentralbibliothek geborgen wurden: "Zu den spektakulärsten Zeugnissen zählt ein Brief vom 5. Oktober 1917. Walser zeichnet darin auf Wunsch Emil Wiedmers seinen Lebensweg nach. Konsequent spricht er von sich in der dritten Person. Über seine Zeit als kaufmännischer Angestellter heißt es: 'Der Dichter kann beweisen, dass man ihn auf den Büreau's sehr schätzte, weil er sehr fleißig und pünktlich war. Walser macht aus sich in seinen Büchern eine wesentlich leichtsinnigere Figur, als er je war.'"

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel erinnert sich der Autor Hans Christoph Buch an Peter Weiss. In der FAZ Claus Leggewie berichtet von einem Treffen deutscher und irischer Schriftsteller auf Achill Island.

Besprochen werden u.a. Thea Dorns "Die Unglückseligen" (SZ) und Julia Decks "Winterdreieck" (FAZ).
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Musik

Auf der Kölner Tagung "Pop Sub Hoch Gegen" diskutierten vor allem die Granden der deutschen Poptheorie, moniert Du Pham in der taz: " Soll die Tagung ein sich Gegenseitiges-auf-die-Schulter-Klopfen sein? Wollen die fast ausschließlich älteren Herren unter sich bleiben? Oder sollen sie?"

Weiteres: Auf Pitchfork trauert Stephen Thomas Erlewine um die Kultur der Anthologie-Alben, die heute verloren gegangen sei: Entsprechende Veröffentlichungen hätten früher erst das Verständnis einer bestimmten Musikrichtung und ihrer Zusammenhänge geformt. In der Welt ergründet Felix Zwinzscher das unerschütterliche Unglück, das der kanadische Rap-Star Drake wie eine Monstranz vor sich herträgt. Außerdem erinnert Andy Beta an die Veröffentlichung von Steve Reichs "Come Out" vor 50 Jahren.

Besprochen werden Brian Enos "The Ship" (Das Filter), das neue Album von Drake (Pitchfork), das von Antonello Manacorda dirigierte Museumskonzert in der Alten Oper in Frankfurt (FR). Und die Kritiker von The Quietus küren die besten Veröffentlichungen des zurückliegenden Monats.
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Film

Im Teheraner Straßenbild zeichnet sich eine vorsichtige Liberalisierung ab, beobachtet in der SZ Amin Farzanefar bei der Reise zum örtlichen Filmfestival. Auch die gezeigten Filme öffnen sich heiklen Themen: "Noch vor wenigen Jahren wurden solch harte Themen im iranischen Kino ausschließlich aus sozialrealistischer Warte verhandelt. Nun gibt es die vom ideologisch gegängelten Publikum ersehnten Tabubrüche ... Dass im diesjährigen Jahrgang die Werke der ganz großen Namen fehlten, liegt vor allem an der Landesflucht während der Ära Ahmadinedschad: Große Regisseure - Mohsen Makhmalbaf, Bahram Beyzai, Rafi Pitts und Bahman Ghobadi - sind fort. Doch die Zensur ist nicht allein dafür verantwortlich, dass vieles nicht in Fajr lief: 'The Salesman' etwa, der neue Film von Oscargewinner Asghar Farhadi, feiert seine Premiere nicht zu Hause in Teheran, sondern erst im Wettbewerb von Cannes."

Weiteres: Eine vergnügliche, sehr schonungslose Lektüre: Das Tour-Tagebuch des Filmemachers Lutz Dammbeck, der gerade mit seinem Film "Overgames" durch die Programmkinos des Landes zieht. Beim Deutschlandfunk kann man Josef Schnelles "Lange Nacht" über Aki Kaurismäki nachhören. Und Dirk Peitz resümiert auf ZeitOnline die zweite Folge der neuen "Game of Thrones"-Staffel, die die literarische Vorlage überholt hat und nun auf eigene Faust (wenn auch in Absprache mit dem Autor George R.R. Martin) weiterfabulieren muss: "Das scheint ihr wahrhaftig Drachenflügel zu verleihen."
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Bühne


Christopher Nell und Meret Becker in Peter Handkes "Die Unschuldigen, Ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße" am Berliner Ensemble. Foto: Monika Rittershaus

Der Umzug von Claus Peymanns in Wien uraufgeführter Handke-Inszenierung "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße" nach Berlin hat der wenig gelobten Arbeit auch nicht geholfen, meint Christine Wahl im Tagesspiegel: Mit Ausnahme von Meret Becker, die für die erkrankte Regina Fritsch eingesprang, ist alles so wie in Wien, räumlich noch beengter, aber genauso bildungsbürgersattelfest: "Eine seltsam oberflächenversiegelte Theaterhandwerksdarbietung, bei der man nie auf den Gedanken käme, sie könnte irgendetwas mit dem Leben außerhalb jenes praktizierenden Bühnenmuseums zu tun haben, in dem sie stattfindet."

Rosamund Gilmores "Ring"-Inszenierung in Leipzig wirkt schlanker als manch andere überfrachtete Wagner-Inszenierung, meint Helmut Mauró in der SZ: Vieles trete "klarer zutage, was sonst untergeht im Gewitter der Geistesblitze. Zum Beispiel die Übergeschlechtlichkeit der Helden."

Besprochen werden Bernhard Langs in Mannheim uraufgeführte Oper "Der Golem" nach Gustav Meyrink (FR), Amélie Niermeyers bei den Schwetzinger Festspielen gezeigte Inszenierung von Francesco Cavallis "Veremonda" (FAZ) und Joël Pommerats in Wien gezeigte "Wiedervereinigung der beiden Koreas" (SZ).
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Architektur


220 Tausend Tonnen Getreide werden in dem gigantischen Silo verarbeitet. Bild: Architekturbüro Harder Haas.

Der Swissmill Tower ist schön!, ruft Roman Hollenstein in der NZZ all jenen entgegen, die in Zürich Einwände gegen den 118 Meter hohen Beton-Zweckbau des Architekturbüros Harder Haas erheben: "Vielleicht hätten Stars wie Herzog & de Meuron eine raffiniertere Fassade hingezaubert. Aber ist nicht das Unprätentiöse die Stärke dieses Zweckbaus, der sich selbstbewusst wie eine minimalistische Skulptur über die Stadt erhebt? Seine Fassaden zeugen von der Kunst des Bauens mit Beton, die nirgends - ausser in Japan - so meisterlich beherrscht wird wie hierzulande. In ihrer kühlen Zurückhaltung ist die Betonhülle aber auch Ausdruck jenes protestantisch-nüchternen Formensinns, der in Zürich stets höher geschätzt wurde als schöner Schein."
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Design

Im Guardian preist Simon Garfield den Gestalter und Typografen Willem Sandberg, der auch Direktor des Amsterdamer Stedelijk Museums war. Der De La Warr Pavilion in Bexhill-on-Sea widmet ihm eine große Retrospektive, die zeigt, wie ungeheuer fortschrittlich Sandberg dachte. Er lehnte alles Formale und Ehrfurchtsvolle ab, er bevorzugte das Spielerische, Mutige und Verstörende. Sein Credo verfasst er allerdings in Versform:

"i believe
in warm printing…
… I don't like
luxury in typography
the use of gold
or brilliant paper
i prefer the rough
in contour and surface
torn forms
and wrapping paper."
(Bild: Poster des Stedeiljk Museum Amsterdam, 1949)
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