Efeu - Die Kulturrundschau

Völlig ernste Fragen über das Leben

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19.05.2016. In Cannes erholen sich die Kritiker von anstrengenden Kunstfilmen mit einem Ausflug in Mario Bavas popbunten Horrorklassiker "Planet der Vampire". In der FAZ erklärt der Karlsruher Museumsdirektor Eckart Köhne seine Pläne für ein "Mitmachmuseum". Die Literaturkritiker berichten erregt von einem erotischen Roman Rudolf Borchardts, der ein Meisterwerk sein soll, das niemand lesen darf. Die taz hört in Moers Jazz zwischen expressiver Emotionalität und reflexiver Implosionsfähigkeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.05.2016 finden Sie hier

Film


Poppig rot: Mario Bavas keineswegs nostalgischer "Planet der Vampire". (Bild: Cannes Classics)

Neues aus Cannes, wo Thierry Frémaux die Nase über die Proteste brasilianischer Filmemacher rümpft (mehr dazu weiter unten) und Brillante Mendoza mit "Ma'Rosa" über eine Frau in Manila, die sich zu Drogenverkäufen gezwungen sieht, "raue Sozialkritik" präsentiert, wie Tim Caspar Boehme schreibt. Danach steht dem taz-Kritiker der Sinn jedoch nach "ein bisschen Spuk und Schabernack", den in diesem Jahr die Sektion Cannes Classics mit einer aufwändig restaurierten Fassung von Mario Bavas Low-Budget-Horrorklassiker "Planet der Vampire" aus dem Jahr 1965 bietet: Der Film "leuchtete in schönstem Pop-Rot und -Grün. Wichtiger als die Handlung sind bei dieser verhängnisvollen Weltraumexpedition nämlich die abstrakten Formen in kräftigen Elementarfarben, mit denen Bava weniger Schrecken verbreitet als opulente bewegte Gemälde schafft. Man kann sich kaum daran sattsehen - und -hören: Der elektronische Soundtrack ist in seinem freizügigen Gebrauch von Synthesizern ebenfalls sehr erfreulich. Nostalgisch sind solche Erfahrungen keinesfalls." Präsentiert wurde der Film im übrigen von Nicolas Winding Refn, der bei dieser Gelegenheit besonders hervorkehrte, wie großzügig Ridley Scott sich für seinen "Alien" bei Bavas' Film bedient hatte, berichtet Nick Vivarelli in Variety.

Auf critic.de denkt Till Kadritzke unterdessen noch über die Politik der bewegten Handkamera in Mendozas "Ma'Rosa" nach. Joachim Kurz von Kino-Zeit schätzt zwar die formale Gestaltung des Films, stößt sich aber daran, dass "das Drehbuch nicht wirklich durchdacht und zu Ende geführt" wirkt. Für die SZ hat Tobias Kniebe neue Filme von Pedro Almodóvar, Olivier Assayas und Jim Jarmusch gesehen. Daniel Kothenschulte von der FR sieht in den neuen Filmen von Almodóvar und Jarmusch lediglich "Nebenwerke". Im FAZ-Blog berichtet Verena Lueken von den Protestaktionen des Teams des brasilianischen Films "Aquarius", die sich damit gegen die Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff aussprechen. Weiteres dazu auch von Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel. Zahlreiche weitere Besprechungen auf den Websites von critic.de und Kino-Zeit. Internationale Pressespiegel stellt David Hudson für KeyframeDaily zusammen.

Anlässlich einer Retrospektive in Zürich stellt Martin Girod im Gespräch mit dem Tages-Anzeiger die Schauspielerin und Regisseurin Ida Lupino vor: "Ida Lupino spielte oft Rollen, in denen die Spannung zwischen aktiver Lebensgestaltung und passivem Erdulden spürbar wird. Das hatte auch mit dem traditionellen passiven Frauenbild zu tun, das damals vorherrschte. In 'High Sierra' sucht die Figur von Bogart ja ein braves Mädchen für sich. Aber Lupino spielte keine solchen Frauen. Sie nahm das Thema auch in ihren Regiearbeiten auf: In 'The Hitch-Hiker' wird der Aspekt des erzwungenen Erduldens noch brisanter, weil es nun zwei Männer trifft, die von einem Anhalter terrorisiert werden. In 'Never Fear' erzählt sie von einer Tänzerin, die an Kinderlähmung erkrankt. Das Thema der Passivitätserfahrung zieht sich durch Lupinos Werk."

Weiteres: In der taz empfiehlt Carolin Weidner das Xposed International Queer Film Festival in Berlin. Im Standard annonciert Bert Rebhandl einen Schwerpunkt zum Filmschaffen Susan Sontags bei den Wiener Festwochen.

Besprochen werden Robert Eggers Hexen-Kunstfilm "The Witch" ("Black-Metal-Fans kommen ... auf ihre Kosten", freut sich Andreas Busche in der taz), Bryan Singers neuer "X-Men"-Film (Tagesspiegel, ZeitOnline, SZ), Josef von Sternbergs auf DVD erschienener "The Last Command" von 1928 (taz),Omer Fasts "Remainder" (Freitag), Micah Magees "Petting Zoo" (taz) und Roschdy Zems "Monsieur Chocolat" (Tagesspiegel, FAZ).
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Kunst

Die Zahl der Abiturienten und Akademiker steigt zwar seit Jahrzehnten kontinuierlich, doch die Zahl der Museumsbesucher stagniert seit langem. Im FAZ-Gespräch mit Julia Voss legt Eckart Köhne, Direktor des Badischen Landesmuseums Karlsruhe und Präsidenten des Deutschen Museumsbundes, daher seine Pläne dar, wie man größere Teile der Bevölkerung in die Museen bringt. Ihm schwebt ein "Mitmachmuseum" vor: Man wolle "Museumsbesucher zu Nutzern zu machen. Wir meinen damit, dass es möglich sein soll, in einem Museum, wie in einer Bibliothek oder in einem Archiv, grundsätzlich alle Objekte zu Gesicht zu bekommen, viele davon vielleicht auch in Händen zu halten. Ich hoffe, dass wir dann in nicht allzu ferner Zeit keine Eintrittskarten mehr verkaufen, sondern Nutzerausweise ausgeben. Man muss es wagen."

Weiteres: Im Art Magazin würdigt Barbara Hein das Bauhaus, das 2019 100. Geburtstag feiert. Willibald Sauerländer schreibt in der SZ zum Tod des Kunsthistorikers Frank Büttner. Ronald Düker besucht für die Zeit Künstler in Saudi-Arabien, die an einer "Remodellierung" des unterdrückerischen Systems arbeiten. Besprochen wird Johannes Grützkes Aktbilder-Ausstellung in der Villa Schöningen (Tagesspiegel).

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Literatur

In Heidelberg wurden Fragmente eines bislang unveröffentlichten Berlinromans aus dem Nachlass von Rudolf Borchardt vorgestellt, der eine kleine Sensation in den Feuilletons auslöste: "In einem furiosen Aufstand der Sinne auch gegen die häusliche Autorität des Vaters wirft sich der 24-Jährige im Herbst 1901 für Wochen und Monate ins Berliner Nachtleben", erzählt Volker Breidecker, "und bekennt freimütig: 'Dies waren die leichtsinnigsten Tage der leichtsinnigsten und libertinsten Periode meines Lebens. Die Erregung, die EIN Mädchen mir verursacht hatte, stillte mir das nächste.' Nach den wenigen Kostproben aus dem amourösen Reigen zu urteilen, ist hier ein ganz anderer Rudolf Borchardt zu entdecken. Zwar geizt er nicht mit offenbar auch drastischen pornografischen Schilderungen, doch Gerhard Schuster zufolge ist der Text dennoch nicht mit einer 'Penis-Operette' zu verwechseln: Es handle sich vielmehr um einen 'ganz großen Berlinroman'"

Wer nun nach dem auf 1200 Druckseiten geschätzten Wälzer giert, muss sich allerdings im Verzicht üben: Mehr als die von Borchardt-Kommentator Gerhard Schuster vorgestellten Passagen rücken die Erben nämlich nicht raus, erfahren wir von Jan Wiele in der FAZ: "Die Borchardt-Editoren wollen alles Sensationsheischende vermeiden - es handele sich bei dem unterdrückten Werk nicht um eine 'Penisoperette' -, geben dem aber selbst Nahrung, indem sie von einem wahnsinnigen Stück Prosa sprechen, das womöglich noch Döblins 'Berlin Alexanderplatz' in den Schatten stelle und den Blick auf die Literaturgeschichte verändern werde."

Weiteres: Für den Freitag liest Florian Schmid neue Weltall-Romane von Mark von Schlegell, Kim Stanley Robinson und Dietmar Dath, wobei ihn "Venus siegt" des letzteren davon überzeugt, dass "die unendlichen Weiten nicht an den Kapitalismus verloren" seien: "In der Literatur schlummern die Utopien weiter."

Besprochen werden Lydie Salvayres "Weine nicht" (FR), Saša Stanišićs Erzählband "Fallensteller" (ZeitOnline) sowie das das neue, bisher nur auf Französisch erschienene Buch von Luz, "Ô vous, frères humains. D'après l'œuvre d'Albert Cohen" (NZZ).
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Bühne

Tazlerin Katrin Bettina Müller hat sich auf dem Stückemarkt des Theatertreffens umgesehen. Die in szenischen Lesungen dargebotenen Arbeiten hält sie nicht nur wegen der "Nähe zu den SchauspielerInnen [für] ein Vergnügen": "Dass etwas noch nicht fertig ist, offene Baustelle, birgt auch Entlastung. Nicht zuletzt wegen dieser verführerischen Offenheit der Form ist man froh um den Stückemarkt beim Theater­treffen."

Weiteres Artikel: In der Berliner Zeitung schwärmt Dirk Pilz, der auch in diesem Jahr das Theatertreffen-Blog betreut, von den Möglichkeiten des Internets für die Kritik: Das Netz sei hervorragend dafür geeignet, "sich begründet angreifbar zu machen." Sarah Bioly porträtiert in der taz die Romni-Schauspielerin Mihaela Drăgan, die mit der von ihr begründeten Theatergruppe Giuvlipen Aufklärungsarbeit gegen Vorurteile leistet. In der taz wirft Kathrin Granzin vorab einen Blick ins Programm des Performing Arts Festivals in Berlin.

Besprochen wird Philipp Himmelmanns Inszenierung von Arrigo Boitos Goethe-Oper "Mefistofele" bei den Festspielen in Baden-Baden ("musikalisch ist die Aufführung tatsächlich der Himmel auf Erden", schwärmt Michael Stallknecht in der NZZ.
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Stichwörter: Theatertreffen, Boito, Arrigo

Musik

Ein erotischer Genuss ist es, wenn man beim Jazzfestival in Moers die Musiker ihre Instrumente spielen sieht, schwärmt Philipp Rhensius in der taz. Überhaupt fällt die "Bestandsaufnahme" hervorragend aus: "Jazz ist 2016 so offen und hybrid wie nie zuvor. Das lässt sich gut anhand der Musiker-Physiognomien studieren. Am Schlagzeug gibt es nicht nur die von polyrhythmischer Rechenleistung gezeichnete Schnappatmung im Art-Blakey-Stil wie beim Belgier Teun Verbruggen, sondern auch die immer etwas peinlich wirkenden Zähneblecker wie Matthias Bossi. ... Die Vielfalt des Jazz ließ sich auch an den Spielweisen ablesen. Was für die einen expressive Emotionalität ist, erscheint anderen als Mangel an reflexiver Implosionsfähigkeit." Auch Norbert Krampf freut sich in der FAZ über die "ungewöhnliche Spannweite" des Festivals.

Nichts ist sicher in der Musik, sie ist immer wieder fremd, so oft man sie spielt - und genau das möge er, erklärt der Pianist Igor Levit im Zeit-Interview mit Moritz von Uslar. Eine seiner liebsten Sonaten ist Beethovens op. 10/3: "Ich habe sie kürzlich zum ersten Mal gespielt. Man sagt bei Beet­hoven immer: Im ersten Satz geht der Gestus von innen nach außen. Er ist unheimlich mitreißend. Auch nicht ohne Schwärze, ohne Dunkelheit. Dann kommt dieser bis dahin ungekannt intensive langsame Satz. Ich kenne keinen langsamen Satz, weder bei Beet­hoven noch vorher, der so in die Tiefe schürft wie dieser: keinen. Es gibt bis zum dritten Satz der Hammerklaviersonate nichts Vergleichbares. Der Satz wird abgelöst von einem Menuett, voller Humor, voller Andacht. Und dann passiert etwas Unglaubliches: So extrovertiert der erste Satz war, das Finale geht von außen nach innen. Es ist totale Innerlichkeit. Wenn ein Finale mit einer Frage beginnt! Stille."



Weitere Artikel: Auf The Quietus spricht Kamasi Washington über seine Lieblingsalben. Für die Zeit spricht Christoph Dallach mit Rufus Wainwright. Christian Schröder schreibt zum Tod des Countrymusikers Guy Clark. Fazlerin Kerstin Holm besucht das Curtis-Musikinstitut in Philadelphia.

Besprochen werden Eric Claptons "I Still Do" (SZ) und der Abschluss von Bob van Asperens Zyklus mit Froberger-Aufnahmen (SZ).
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