Efeu - Die Kulturrundschau

Gott ist unsere Arbeitshypothese

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01.08.2016. In Salzburg schwärmt die SZ von der metaphysischen Heiterkeit, mit der Dieter Dorn Becketts "Endspiel" inszeniert hat. Die Presse wird ganz melancholisch beim Oratorium von Péter Eötvös und Péter Ésterhazy: "Bald bleibt von Ha-ha-halleluja nur noch das Ha-ha-ha." Die Welt fragt sich, ob Joseph Beuys nicht doch mehr war als nur kapitalismuskritisch. Flavourwire stellt eine 30 Filme umfassende Box vor über das frühe afro-amerikanische Kino.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.08.2016 finden Sie hier

Bühne


Metaphysische Heiterkeit und körperliches Unbehagen: Szene aus Dieter Dorns "Endspiel"-Inszenierung. Bild: Bernd Uhlig.

Unter den Augen von Angela Merkel samt Ehemann (wie alle Feuilletons berichten) haben die Salzburger Festspiele Dieter Dorns Inszenierung von Samuel Becketts "Endspiel" auf die Bühne gebracht. Dorn, der hier erstmals seit 2011 ein Stück bearbeitet, bringe "Beckett in astreiner Textwiedergabe", erfahren wir von Christine Dössel in der SZ: Geboten werden "Werktreue, Präzisionsregie, großartige Schauspiel- und - auch das! - Sprechkunst. Dorn nimmt den Text als Partitur. Und so, wie die Bühnenvirtuosen Nicholas Ofczarek und Michael Maertens ihn zum Klingen und Schwingen bringen, hört man tatsächlich wieder wie neu hin. Auch wenn alles beim Alten ist. ... . Zurück bleibt weniger ein Schrecken als eine metaphysische Heiterkeit."

Im Standard schreibt Ronald Pohl hochbeglückt: "Wollte man Dorns Herangehensweise an diesen großen Theaterabend beschreiben, man müsste sagen: So wie er seinen Beckett, so las früher vielleicht Nikolaus Harnoncourt seinen Beethoven. 'Werktreue', dieser hermeneutisch so hochproblematische Begriff, ist etwas für Meister. Man verfolgt den Text bis in alle Winkel, und er beschenkt einen mit Leichtigkeit."

Weitere Kritiken im Deutschlandfunk, bei der nachtkritik und in der Presse.

Für die FAS spricht Eleonore Büning mit dem kurzfristig in Bayreuth eingesprungenen "Parsifal"-Dirigenten Hartmut Haenchen, der bei dieser Gelegenheit nochmals die Unterschiede seines Materials im Vergleich zu den in Bayreuth für gewöhnlich gespielten Noten betont: Er zählt "allein 72 Änderungen, nur in den ersten Violinen, nur im ersten Aufzug." Der Aufwand, diese Änderungen umzusetzen, lohne sich unbedingt, meint er: "Ändern Sie in vielen Einzelheiten Artikulation und Dynamik, so, wie Wagner sich das vorgestellt hat, dann ändert sich das Gesamtklangbild, das Profil, die Struktur. Der Mitschnitt meines Pariser 'Parsifals' steht immer noch im Netz. Sicher hören Sie nicht jede Winzigkeit heraus, das wäre Unsinn. Aber dass eine andere Klarheit entstanden ist, ich hoffe, das hören Sie!"

Besprochen werden die Produktion "Meguri" der Butô-Compagnie Sankai Juku beim Impulstanz in Wien (Standard), der neue, in London auf der Bühne uraufgeführte "Harry Potter"-Teil (online nachgereicht von der FAZ) und Thomas Adès' bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte Oper "The Exterminating Angel" (taz, SZ, mehr dazu im Efeu vom Samstag).
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Kunst

Weniger ökonomie- und theorienlastig hätte sich Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller die Beuys-Ausstellung "Das Kapital - Schuld - Territorium - Utopie" im Hamburger Bahnhof in Berlin gewünscht. Und vielleicht mit einer eigenen Idee zum Material? So stehe Joseph Beuys da wie die langweilige Bestätigung der Occupy-Theorien: "Auferstanden von den Toten. Ein bisschen bleich noch, hager, eingefallen wie immer. Der Hut hat eine Delle. Die Weste ein wenig zerknittert. Aber er ist's, unser alter Kunstlehrer Joseph Beuys, den sie spät noch einmal aus der Unterwelt gelockt haben. Und jetzt steht er im Hamburger Bahnhof und hat sie noch immer drauf, seine schönen Sprüche, mit denen er eine grau gewordene Generation verzückt hatte: 'Kunst = Kapital'. Und wieder lauschen die Leute und nicken dazu, und niemand, der kurz überlegte, ob der Kehrsatz nicht doch viel provozierend wahrheitsnäher wäre."

Weiteres: Für den Tagesspiegel trifft sich Simone Reber mit Philipp Demandt, der als Direktor von der Alten Nationalgalerie in Berlin an die Schirn nach Frankfurt wechselt.

Besprochen werden Reinhard Kaisers Biografie über Vivant Denon, den ersten Direktor des Louvre (Zeit) und die Foto-Ausstellung "Gehaltene Zeit: Ursula Arnold, Arno Fischer, Evelyn Richter" im Museum der bildenden Künste in Leipzig (FAZ).
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Musik


Peter Eötvös, Peter Esterhazy: Halleluja - Oratorium balbulum in Salzburg. Mit Peter Simonischek, Iris Vermillion, Daniel Harding, Topi Lehtipuu. Foto: © Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik

Die Salzburger Festspiele haben das von Péter Eötvös komponierte und vom kürzlich verstorbenen Péter Ésterhazy betextete "Halleluja-Oratorium Balbulum" uraufgeführt. Ein Oratorium heute? Wo doch eh keiner mehr an Gott glaubt? "Der Engel ist ein alter Saufkumpan von Friedrich Nietzsche", erkennt Standard-Kritikerin Heidemarie Klabacher. "Sonst ist er auch nicht der Feinste: Den Chor fordert er zwar zum Halleluja-Weitersingen auf, aber nur, weil ihm geistloses Geschwätz noch mehr auf die Nerven geht als kritikloser Jubel. Trotz der vielen Halleluja-Zitate behauptet der Engel, das Halleluja könne nicht vertont werden. Immerhin leugnet er Gott nicht: 'Gott ist unsere Arbeitshypothese.'"

In der Presse wurde Wilhelm Sinkovicz beim Hören sehr melancholisch: "Der ungarische Rundfunkchor absolviert dergleichen Herausforderungen durchwegs mit Schönklang, wie auch die Wiener Philharmoniker unter Daniel Harding Eötvös' grandios aufgefächerte Partitur realisieren, als wäre die eine Art Musterkatalog höchster Instrumentationskunst und orchestraler Klangkultur. Iris Vermillion leiht ihren herrlich tiefen Alt nachdenklichen Betrachtungen ebenso wie kabarettistischen Einwürfen; und Topi Lehtipuu stottert als mittelalterlicher Philosoph (Notker, der Stammler), um vor allem nachzuweisen, was passiert, wenn aus einem geistlichen Jubelruf ein Fall für die Logopädie zu werden droht: Bald bleibt von Ha-ha-halleluja nur noch das Ha-ha-ha."

Jan Brachmann von der FAZ hörte vor allem "fortwährend Kunst, die sich selbst kommentiert" und sich selbst etikettiert, was er nicht gerade für eine Stärke hält. Stark wird das Stück aber doch, wenn gegen Ende der 11. September referenziert wird: "Eötvös hat dazu ein kalkuliertes Delirium komponiert. Die Streicher der Wiener Philharmoniker (...) zerdehnen den Moment. Die Zeit gerät ins Taumeln. Es ist die Musik selbst, die alle Kraft aufbietet, um Zukunft zu verhindern, um Vollendung zu verweigern. Der finale Knall bleibt aus. Stattdessen nimmt das Klavier jenes Stück wieder auf, das in einer Orchesterbearbeitung bereits am Anfang gestanden hatte: Robert Schumanns 'Vogel als Prophet' - eine groteske, grausige Pointe." Weitere Besprechungen in Tagesspiegel und Deutschlandfunk. Hintergründe zur Entstehung des Oratoriums gibt es hier in unserer Magazinrundschau.

Weiteres: In der taz stellt Kristof Schreuf den Musiker David Grubbs vor, dessen neues Album "Prismrose" gerade erschienen ist. In der NZZ schreibt Marco Frei zum Tod des finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara. Stefan Schickhaus (FR) und Reinhard Brembeck (SZ) schreiben zum Tode Peter Sadlos.

Besprochen werden ein Konzert von Peter Brötzmann und Heather Leigh in Berlin (Tagesspiegel),die Ausstellung "Luther, Bach - und die Juden" im Bachhaus Eisenach (Zeit), Gert Möbius' Biografie über seinen Bruder Rio Reiser (SZ, mehr dazu hier), Beyoncès Frankfurter Konzert (taz, FAZ) und Pop von Pure Instinct und Nite Jewel (NZZ).
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Literatur

Besprochen werden Hubert Fichtes "Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart - Briefe an Leonore Mau" (taz), Mosche Ya'akov Ben-Gavriêls "Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße" (Tagesspiegel, FAZ), Tilman Rammstedts "Morgen mehr" (ZeitOnline), Fiston Mwanza Mujilas "Tram 83" (Tagesspiegel), Martin Schults "Flokati" (Tagesspiegel) und eine Neuübersetzung von Panait Istratis 1924 erschienenem Roman "Kyra Kyralina" (SZ). Mehr auf Lit21, unserem literarischen Meta-Blog.

In der Welt empfiehlt Thomas Schmid die Lektüre der Gedichte Robert Frosts. In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Michael Braun ebenfalls über Frost, konkret über dessen Gedicht "Innehaltend inmitten der Wälder an einem Schnee-Abend":

"Wes diese Wälder sind, das weiß ich recht genau.
Allein im Dorf erst, drüben, steht sein Haus.
Der Schnee füllt ihm den Wald - steh ich und schau,
..."
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Film



Bereits vor einigen Monaten ist in den USA eine interessante BluRay-Box erschienen, die das frühe, in keinem Kanon auftauchende afro-amerikanische Kino in Erinnerung ruft. Für Flavorwire hat jetzt Will Sloan die 30 Filme unterschiedlicher Genres umfassende Box ausführlich besprochen. Insbesondere die Filme von Oscar Micheaux sind ihm dabei ins Auge gesprungen: Dessen "beste Filme sind die aufwühlendsten, schmerzhafteten und ambitioniertesten Filme dieser Sammlung und allesamt künden sie von der Präsenz ihres Autors. Ihre Hauptfigur ist meist ein Stellvertreter von Micheaux - ein erfolgreicher, schwarzer Unternehmer, der im Angesicht der Widrigkeiten triumphiert. Sie drehen sich obsessiv um das Thema der Mischehen: Üblicherweise geht es um die verbotene Liebe zwischen einem schwarzen Mann und einer weißen Frau, die sich dergestalt auflöst, dass sie entdeckt, selbst gemischt zu sein. Sie attackieren in einem fort die schwarzen Kirchenführer dafür, Komplizen in der Unterdrückung der Schwarzen zu sein." Hier sind weitere Besprechungen der Box gesammelt. Außerdem gibt es ein Video, das sich mit der Restaurierung der Filme befasst und hier ein Filmporträt Oscar Micheaux'.



Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Elisabeth Wagner von ihrer Begegnung mit der Schauspielerin Sandra Hüller, die gerade in "Toni Erdmann" zu sehen ist. Dessen Regisseurin Maren Ade träumt unterdessen im ZeitMagazin. In der Welt stellt Marie-Luise Goldmann die britische Serie "Fleabag" vor, mit der ersten "Ekel-Feministin" als Hauptperson. Diverse taz-Autoren verabschieden sich von der VHS-Videokassette, nachdem vor wenigen Tagen auch der letzte Hersteller von Abspielgeräten seine Produktion eingestellt hat. Mehr dazu auch in diesem Interview auf Slate mit der Filmwissenschaftlerin Caetlin Benson-Allott. Der Deutschlandfunk wiederholt unterdessen Raphael Smarzochs 2013 urgesendetes, sehr aufschlussreiches Feature über die Ästhetik von Musik und Geräusch im Horrorfilm.

Besprochen werden der polnische Arthaus-Horrorfilm "Dibbuk - Eine Hochzeit in Polen" von Marcin Wrona (taz) und Stephen Hopkins Film "Zeit für Legenden" über den Triumph des Leichtathleten Jesse Owens bei den Olympischen Spielen 1936 (Welt).
Archiv: Film