Efeu - Die Kulturrundschau

Noch ein wenig samtiger

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03.08.2016. Was das Christentum fürs Mittelalter und der Fortschrittsgedanke für die Moderne war, ist in der Kunst des 21. Jahrhunderts der Markt. Und niemand verkörpert diese Idee so vollkommen wie Jeff Koons, meint László F. Földényi in der NZZ. Er habe keine Lust mehr, nur Material zu sein, erklärt der Schauspieler Shenja Lacher in der FAZ und verlässt die Bühne. In der DDR wurde noch an einem Gutachten zum Abriss des Berliner Stadtschlosses gebastelt, als der schon in vollem Gange war, lernt die SZ. Zeit online freut sich über weibliche Ghostbuster.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.08.2016 finden Sie hier

Kunst

"Die einende Kraft des Marktes hält heute die Welt zusammen", auch die Kultur, bemerkt László F. Földényi in einem Essay für die NZZ mit Blick auf die Vermarktungskunst von Jeff Koons. Der Markt "ist die einzige Idee, die auf ihre Weise genauso unanzweifelbar ist, wie es im Mittelalter das Christentum oder in den vergangenen beiden Jahrhunderten die Idee des Fortschritts gewesen sind. Koons spürt das genau: Diese Epoche hat aufgehört ästhetisch zu sein, und somit lässt sich auch ihre Kunst nicht auf der Grundlage der Ästhetik bewerten. Auf derjenigen der Ethik aber auch nicht, denn auch sie wurde von der Logik des Marktes aufgehoben. Es fällt schwer, diese Entblößung der Welt hinzunehmen. Manche sind der Ansicht, dass Koons viel raffinierter ist, als es den Anschein hat: Er sei nicht nur ein Komplize des heutigen Zeitgeistes, sondern auch dessen Kritiker. Ich bin anderer Meinung."

Besprochen werden die Ausstellung "Gegenstimmen - Kunst in der DDR 1976-1989" im Martin-Gropius-Bau in Berlin (Freitag), die Ausstellung "daHEIM: Einsichten in flüchtige Leben" im Museum Europäischer Kulturen in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Auguste Rodin und Madame Hanako" im Kolbe-Museum in Berlin (taz) und die Ausstellung "Kunst und Illusion" im Schloss Wilhelmshöhe in Kassel (FAZ).
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Bühne

In Salzburg hörte Barbara Petsch gerührt einer szenischen Lesung von Friederike Mayröckers "Requiem für Ernst Jandl" zu. Mayröckers Stimme kam vom Band, dazu gab es Musik von Lesch Schmidt: "'Requiem für Ernst Jandl' ist ein Theatererlebnis der etwas anderen Art, bei dem der Zuschauer mit seinen Erinnerungen zum Akteur werden kann, wenn er will", schreibt Petsch in der Presse. "Die liebevoll gestaltete, zuweilen etwas penetrante Show darf man dabei manchmal ruhig ausblenden. Viele Paare, die gar nicht wissen, wie sehr sie einander noch lieben, machen diese Erfahrung. Der Tod klärt sie auf."

SZ-Kritikerin Christine Dössel konnte die Musik von Lesch Schmidt leider nicht ausblenden: "Die laute, nicht sonderlich variantenreiche Musik passt mit ihrer Easy-going-Gelöstheit kaum zur schmerzerfüllten Verlustanzeige des Textes."

Der Schauspieler Shenja Lacher verlässt das Münchner Residenztheater und kehrt dem ganzen Bühnenbetrieb bis auf weiteres den Rücken zu. Ihm sind die Strukturen im Betrieb "zu autokratisch, fast noch feudalistisch", gesteht er gegenüber Jörg Seewald im FAZ-Gespräch. Insbesondere mit der privilegierten Rolle von Intendanten und Regisseuren im künstlerischen Schaffungsprozess hat er seine Probleme: "Warum hat ein einzelner Intendant das Recht, sich über alle beteiligten Künstler hinwegzusetzen und nur seine künstlerischen Interessen durchzusetzen? ... Nur Material zu sein, das ist mir zu wenig. Ich habe auch was zu erzählen." Ähnlich klangen bereits seine Äußerungen in dem Interview, das er 2015 dem Münchner Merkur gab.

Weiteres: Die Bayreuther Festspiele sind in der Krise, meint Barbara Möller in der Welt: dieses Jahr gab es sogar noch Karten für Kurzentschlossene. Im Standard berichtet Daniel Ender von den Bregenzer Festspielen, wo Otto M. Zykans "Staatsoperette" uraufgeführt wurde.

Besprochen werden drei Aufführungen in Salzburg: Dieter Dorns Inszenierung von Becketts "Endspiel" (Welt), Deborah Warners Inszenierung des "Sturm" mit Peter Simonischek als Prospero (Standard) und eine konzertante Aufführung von Giacomo Puccinis Oper "Manon Lescaut" mit Anna Netrebko ("Die atemberaubenden Höhe, die kraftvolle Mittellage, die elegante Tiefe von Anna Netrebkos Jahrhundertstimme entwickelt, zusätzlich zum goldenen Sopranglanz, mit der Reife eine bronzene Altqualität, die den Klang immer noch ein wenig samtiger, opulenter und zugleich facettenreicher wirken lässt", schwärmt Heidemarie Klabacher im Standard, Wilhelm Sinkovicz ist in der Presse nicht weniger begeistert).
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Literatur

Nachrufe auf die 88-jährig in Berlin verstorbene Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff schreiben Gerrit Bartels (Tagesspiegel), Sabine Vogel (FR), Brigitte Werneburg (taz) und Jörg Bremer (FAZ).

Besprochen werden unter anderem Matthieu Bonhommes neues "Lucky Luke"-Album (Tagesspiegel), die ungekürzte Neuauflage von Hans Falladas "Kleiner Mann - was nun?" (SZ), Bernt Ture von zur Mühlens Biografie über Gustav Freytag (online nachgereicht von der Zeit) und Sofia Andruchowytschs "Der Papierjunge" (FAZ).
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Stichwörter: Luke, Lucky, Fallada, Hans

Architektur

Mit sichtlicher Aufregung präsentiert Alex Rühle in der SZ einen privaten Zufallsfund: Ein Dokument, das besagt, dass die DDR ein Gutachten in Auftrag gegeben hat, um zu ermitteln, was ein Wiederaufbau des vom Krieg beschädigten Berliner Stadtschlosses kosten würde. Rätselhaft ist nicht nur, dass dieses Gutachten in der historischen Literatur keine Erwähnung findet, sondern auch der Zeitpunkt des Erstellens: Da war der Abriss nämlich schon voll im Gang und "das war nun kein diskretes Abtragen. ... Der Gutachter muss mitten durch diese Zerstörungsorgie gelaufen sein: Am 19. Oktober wurde die Südostecke der Schlossfassade gesprengt, am 23. das Portal I., am 4. November der Schlüterhof vernichtet. Im Gutachten findet sich von alledem kein Wort, ja es klingt so, als sei das Gebäude seit Kriegsende nicht angetastet worden."
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Stichwörter: Berliner Stadtschloss

Musik

In Israel greift eine junge Generation von Musikerinnen und Musikern die arabischen Lieder ihrer Großelterngeneration wieder auf, berichtet Lissy Kaufmann in der taz. Marcel Anders (SZ) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren dem Jazzsänger Tony Benett zum 90. Geburtstag. Mit ihm zusammen genießen wir das gute Leben:



Besprochen wird ein Konzert des Pianisten Daniil Trifonov, der beim Verbier Festival sein eigenes Klavierkonzert spielte (NZZ).
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Design

Raf Simons wird neuer Chefdesigner von Calvin Klein, berichtet Jennifer Wiebking in der FAZ. Besprochen werden drei Ausstellungen im Lausanner Designmuseum Mudac (NZZ).
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Stichwörter: Calvin Klein, Simons, RAF

Film


Durchgeknalltes Lichtdesign: Die Ghostbusters erleben exaltierte Bibi-Blocksberg-Abenteuer.

"Die Fanboys werden diesen Film hassen", schreibt Andreas Busche auf ZeitOnline über Paul Feigs im Vorfeld wegen seines komplett weiblichen Hauptrollen-Casts von männlichen Fans im Netz geschmähtes "Ghostbusters"-Remake. Und dass sie ihn hassen, findet er soweit sehr gut, da er demütigen Fanservice verabscheut und an den Performances insbesondere von Melissa McCarthy und Kristen Wiig viel Freude hat. Außerdem sei der Film "technisch auf der Höhe der Zeit. Die giftgrünen 3-D-Ektoplasma-Sturzbäche, die lichtdramaturgisch ausgeklügelten Interferenzen von transparent-luziden Geistererscheinungen und gleißenden Protonenstrahlen sowie die schillernden Lichtpilze über Manhattan gehören zum Ästhetischsten, was das Blockbusterkino in jüngster Zeit zu bieten hatte. Das durchgeknallte Lichtdesign entspricht im Wesentlichen der entkernten Dramaturgie des Films; im entfesselten Spiel der Formen, Farben, Komödienkörper und Gesichtsausdrücke streift 'Ghostbusters' das narrative Korsett aus Plot und Geschichte ab."

Lukas Stern von der Berliner Zeitung drehen sich angesichts dieses "exaltierten Bibi-Blocksberg-Abenteuers" allerdings die Zehennägel hoch: "Diese zweistündige Hysterie, dieses pausenlose Gegacker, schrill und penetrant, als hätten die Protagonistinnen zu viel Koffein erwischt, ist jedenfalls weit von gelingender Komik entfernt."

Weiteres: Urs Bühler unterhält sich für die NZZ mit der Schauspielerin Clotilde Courau über deren neuen Film "L'Ombre des Femmes". Ebenfalls in der NZZ berichtet Susanne Ostwald vom Filmfestival in Locarno, das mit Colm McCarthys Dystopie "The Girl with All the Gifts" eröffnet wurde. Im Berliner Kino Arsenal hat gestern die Hommage an die japanische Schauspielerin Setsuko Hara begonnen - Michael Kienzl (critic.de) und Lukas Foerster (Filmdienst) schreiben dazu Würdigungen.

Besprochen werden Alberto Rodríguez' "La Isla Minima - Mörderland" (ZeitOnline) und Rebecca Millers "Maggies Plan" (Standard).
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