Efeu - Die Kulturrundschau

Raumsonde aus Abstraktistan

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2016. Die NZZ ruft der Politik zu: Lernt Utopie von der jungen Lyrik! Außerdem streift sie durch die Architektur des Silicon Valley. Die Feuilletons umjubeln den Tenor Piotr Beczala bei den Salzburger Festspielen: Ein Faust, der Herzen schmelzen lässt! Viel Applaus gibt es auch für Angela Schanelecs poetischen Film "Der traumhafte Weg" in Locarno. arteshock schaut derweil lieber Anti-Nazipathos-Kino. Die taz lernt von dem Musiker David Toop wie freie Rhythmen die Gesellschaft befreien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.08.2016 finden Sie hier

Film



Beim Filmfestival in Locarno ist Angela Schanelecs neuer Film "Der traumhafte Weg" (mehr zum Film hier) uraufgeführt worden. Die Erzählung des Films tritt sehr in den Hintergrund, erfahren wir aus allen Kritiken. Auf Cargo erklärt Lukas Foerster, dass er nur die erste halbe Minute des Films verpasst habe, den Film aber nicht mehr eingeholt habe. Was aber nichts mache, denn der Film fällt auch so faszinierend und eindrücklich genug aus: "Der Film [ist] gerade in seiner Ökonomieverweigerung toll, darin, wie er Handlungsmacht und Bildraum nicht hierarchisch ordnet, sondern sich von der sinnlichen Evidenz einzelner Momente leiten lässt. Nicht nur behalten die nominellen Protagonisten jede Menge Geheimnisse; vor allem schenkt der Film einige seiner schönsten Bilder Figuren, die nur ein-, zweimal auftauchen." Und die Kamera von Reinhold Vorschneider besteche "durch poetische Reduktionen, die den Film visuell deutlich von älteren Schanelec-Filmen, insbesondere von 'Orly', abheben."

Schanelec "konturiert [die Handlungsstränge] wenig", schreibt auch Frédéric Jaeger auf critic.de, "sondern sucht den collagenhaften Zusammenhang aller Bewegungen und Perspektiven. Das ist ein ungemein ambitioniertes und herausforderndes Vorhaben."

Vergnüglich zu lesen ist Rüdiger Suchslands Bericht seines allgemeinen Missvergnügens in Locarno, wo ihn die Piazza Grande so sehr nervt wie die schlechte Gastronomie und die Berichterstattung seiner Kollegen. Seinen Frieden findet er in der dem BRD-Kino der 50er Jahre gewidmeten Retrospektive: Hier könne man "auch einen frischen, ganz unpa­the­ti­schen west­deut­schen Realismus entdecken - Anti-Nazi­pa­thos-Kino. Neben bekannten Namen laufen hier auch besonders viele unbe­kannte Filme, die erst überhaupt wieder wahr­zu­nehmen sind. Ob Helmut Käutners großar­tiger 'Schwarzer Kies', oder der Panzer­kna­cker­film 'Bank­tresor 713' von Werner Klingler, oder auch ein Film wie 'Rosen blühen auf dem Heidegrab' von Hans Heinz König - dieser Titel ist Programm: Unter der Rosen-Schönheit liegen kaum verdeckt die Gräber des Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs der Nazis. Und immer wieder kehrt in solchen Filmen das Verdrängte zurück." Über diese wiederentdeckte Rarität schrieb zuvor auch Silvia Szymanski einen schönen Text auf ihrem Blog Hard Sensations.

Zurück zum hiesigen Kinobetrieb: In einem online nachgereichten Zeit-Artikel geht Georg Seeßlen auf die Knie vor Miguel Gomes' "1001 Nacht"-Trilogie, deren zweiter Teil diese Woche in die Kinos kommt: So großartig ist dieses Filmprojekt, das es den Kritiker vor kaum zu bewältigende Herausforderungen stellt: "Wie soll man, auf 130 Zeilen, einen Film zugleich beschreiben und erfassen, der eben davon handelt, dass man der Wahrheit nur näher kommen kann, wenn man beherzt auf die Illusion einer kohärenten Erzählung verzichtet, um ein schönes, vielstimmiges und multiperspektivisches Durcheinander anzurichten, das gleichwohl beständig offenbart, wie eines mit dem anderen zusammenhängt? Wie also eine Kritik über einen Film beginnen, der sich genau von dem frei gemacht hat, was man die übliche Grammatik der Filmerzählung oder die gängige Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Erfundenen nennen könnte?"

Weiteres: Für Das Filter berichtet Henrike Meyer vom Filmfest in Marseille. In der taz empfiehlt Thomas Groh Filme vom Fantasy Filmfest, das kommende Woche beginnt.

Besprochen wird Eric Lavaines "Willkommen im Hotel Mama" (FR).
Archiv: Film

Musik

Ein schönes Gespräch hat Steffen Greiner für die taz mit dem Impro-Historiker und Musiker David Toop geführt, der sich nach vielen Jahren wieder dazu entschlossen hat, ein Album aufzunehmen. Unter anderem geht es in dem Interview um Fragen der Perfektion, die sich vor allem im digitalen Zeitalter eskalierter Zugriffsmöglichkeiten auf das Klangmaterial mit neuer Dringlichkeit stellen: "Neulich entdeckte ich im Netz einen Clip von 'Round Midnight' des Jazzpianisten Thelonious Monk - und in den Kommentaren bemerkte jemand: Das Klavier ist völlig verstimmt, jemand antwortete: Gut, dass wir Digitalpianos haben. Ich dachte: Hoffnungslos, jemals so ein Gefühl zu entwickeln wie Thelonious Monk bei dieser Aufnahme. Das Klavier zu stimmen, wäre perfekt, aber es wäre unfassbar langweilig. Perfektionismus hat soziale Implikationen. Es gibt unglaublichen Konformitätsdruck. Freierer Rhythmus schlägt eine freiere Gesellschaft vor. Daher entwickelt mein Album ein vergleichbares Gefühl, wie ich es in einer Improvisation machen würde."

Weiteres: Für die taz hört sich Stephanie Grimm durch das neue Sample-Opus "Wildflower" der Avalanches, die damit ihr erstes Album seit 16 Jahren vorlegen: Die Band führe darauf mit ihrer Sample-Methode "noch einmal vor Augen, wie sich Zeitebenen in den kulturellen Praxen unserer Gegenwart immer mehr vermischen und damit auch obsolet werden." In der Jungle World spricht Jonas Engelmann mit der Band Deerhoof.

Besprochen werden Christiane Tewinkels Buch "Muss ich das Programmheft lesen?" (Tagesspiegel), der Dokumentarfilm "El Viaje" mit dem "Ärzte"-Bassisten Rodrigo Gonzáles durchs musikalische Chile (Tagesspiegel, Freitag), Marconi Unions "Ghost Stations" (The Quietus), eine Neuauflage von Elvis Presleys "Way Down in the Jungle Room" (Pitchfork), neue Alben von Aaron Neville, Allen Toussaint und Michael Kiwanuka (FR) sowie von letzterem das Frankfurter Konzert (FAZ).
Archiv: Musik

Bühne

Bei Reinhard von der Thannens in Salzburg gezeigter Inszenierung von Charles Gounods Oper "Faust" sind die Kritiker ganz Ohr: Tenor Piotr Beczala lässt Münder offenstehen und Herzen dahinschmelzen. Auch wenn man mitunter sehr gezielt hinhören muss, wie Egbert Tholl in der SZ schreibt: "Beczala trifft hinreißend den eleganten Ton der Innerlichkeit, braucht weder laut noch exaltiert zu werden, um zu rühren. Doch während er im Mezzoforte seiner Figur die Fähigkeit zu einem - zwischenzeitlich - echten Liebesgefühl verleiht, lässt [Dirigent Alejo] Pérez im Graben so herzhaft die Geigen schluchzen, dass Beczalas Stimmglanz in einer klebrigen Soße unterzugehen droht."

Das international beliebte, in Salzburg jedoch zum ersten Mal gegebene Stück lande im Programm der Festspiele "wie eine Raumsonde aus Abstraktistan", schreibt Eleonore Büning in der FAZ, was mit dem Bühnenbild zu tun hat, das aus der Inszenierung "einen weiß leuchtenden, keimfrei funkelnden, fremdartigen Solitär [macht], ohne jeden Bezug zu irgendeiner der anderen Neuproduktionen." Auch sie verfällt dem Star des Abends: "Beczała kommt, Beczała siegt. Dieser junge Herr Faust ist nicht nur in Bestform in seinen Selbstgesprächen. Er überstrahlt auch alle im Ensemble und steht, als ein wahrer Held, selbst dann noch im Fokus, wenn er nur mit halber Stimme singt, sich zart schmeichelnd aus der Chormasse herauslösend, um dem schönen Fräulein, das da vorübergeht, sein Geleit anzutragen. Wie könnte sie widerstehen!" Weitere Besprechungen auf DeutschlandradioKultur und bei den Salzburger Nachrichten.

Weiteres: Im Tagesspiegel stellt Sandra Luzina die Arbeit der Choreografin Eszter Salamon, deren eigens für die deutlich über 70, bzw. 80 Jahre alten Tänzer Gus Solomon Jr. und Valda Setterfield konzipierte Choreografie "Monument 0.1: Valda & Gus" den Berliner Tanz im August eröffnen wird. Für die SZ reist Thomas Hahn zu den krisengeschüttelten Bühnen in Mecklenburg-Vorpommern. Wohlwollend berichtet Manuel Brug in der Welt vom englischen Glyndebourne Festival, wo die erste Saison unter Sebastian Schwarz gerade mit der Berlioz-Shakespeare-Oper "Béatrice et Bénédict" endet.

Besprochen wird eine in zahlreichen Botanischen Gärten gezeigte Ausstellung über Pflanzen in Shakespeares Werken (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Im art-magazin schaut sich Amelia Wischnewski Streetstyle-Fotos des Fotografen Ari Seth Cohen an, der modebewusste Frauen ab 60 fotografiert und entdeckt "anarchische Coolness": "Seidig schimmern ihre langen, korallenroten Echthaar-Wimpern, während Ilona Royce Smithkin das Hörgerät justiert. Die Künstlerin fertigt die Wimpern seit Jahren aus Locken ihrer eigenen Haare. Ohne die verführerischen Accessoires geht die 95-Jährige nicht aus dem Haus. Isiphorah Salomon, 62, braucht schon mal bis zu sieben Jahren, bis ein Outfit sitzt. Als sie endlich die passenden Ohrringe fand, konnte sie das Gesamtkunstwerk anziehen: 'Ist ein Gemälde unvollendet, trage ich es nicht raus in die Welt.'" (Bild:© Ari Seth Cohen / powerHouse Books)

Martin Kämpchen stellt in der FAZ Künstler aus Sri Lanka vor, die ihre Arbeit in den Dienst des Versöhnungsprozesses zwischen der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit und der tamilischen Minderheit stellen. Christiane Meixner (Tagesspiegel) und Walter Grasskamp (FAZ) gratulieren Hans Haacke zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Kaspar Hausers im Markgrafenmuseum Ansbach erstmals öffentliche ausgestellte Aquarelle (Tagesspiegel), Timm Rauterts Ausstellung "Bildanalytische Photographie 1968-1974" im Kupferstich-Kabinett in Dresden (SZ) und die Ausstellung "Von Schönheit und Größe - Römische Porträts und ihre barocke Aneignung" im Albertinum in Dresden (FAZ).
Archiv: Kunst

Architektur





(Bild: Museum of Modern Art, San Franciso. Henrik Kam)

Die im Silicon Valley für die Digitalisierung geltende Maxime einer Synergie von Selbstoptimierung, Innovationsgeist, Wagemut und Fantasie erreicht nun auch die Architektur, schreibt Sarah Pines in der NZZ. Die mit weißem Westküstensand von den Snohetta Architekten entworfene Erweiterung des MoMA in San Francisco erinnert Pines etwa an "schräg gestalpelte Laptops": "Nichts von der alten Angst des Verschwindens der Welt hinter Virtuellem, sondern eher ein Eindruck von Zuversicht und natürlicher Notwendigkeit: Technologie ist vielleicht so etwas wie die DNA des menschlichen Geistes, teils berechenbarer Algorithmus, teils epigenetischer, unvorhersehbarer Prozess. Sie materialisiert sich in konkreten, neuen, aber auch vertrauten Formen, hält der nüchternen Perspektive auf die Welt eine zweite, erweiternde Sicht vor, so etwas wie die visuelle Kehrseite der Dinge."
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Literatur

Der Politik fehlt die Vision, die Kreativität, der "Möglichkeitssinn", klagt Björn Hayer in der NZZ. Stattdessen Pragmatismus und "satyrhaftes Gipfelhopping". Sie sollte sich nicht nur ein Beispiel am Film, sondern auch an der jüngsten, die Utopie feiernden Lyrik nehmen, so Hayer. Silke Scheuermann oder Marion Poschmann machen es vor: "Möglichkeitsdenken ist in Literatur und Film so präsent wie selten zuvor. Vorbei die Jahre des mageren Realismus, vorbei das Gerede vom Ende der Geschichte. Blumen, Ströme, neue Paradiesträume und bunteste Innenwelten zeugen von einem erfrischenden Aufbruch. Wir nehmen teil an einem wunderschönen Werden. Kunst besetzt selbstbewusst die Leerstelle einer Zukunft, die wir politisch aus den Augen verloren haben, und motiviert dazu, unsere Freiheit wieder produktiv zu nutzen."

Aus Washington schreibt Ronald D. Gerste für die NZZ über den Verkauf von Thomas Manns kalifornischer Villa. Die Angst vor dem Abriss ist berechtigt, so Gerste: "Ein Objekt von 1942 ist in Los Angeles, der Hochburg von Jugendkult und plastischer Chirurgie, fast unattraktiv alt. Auf dem exzellent gelegenen Grundstück ließe sich etwas Neues erbauen, was man dann für ein Mehrfaches auf den Markt werfen könnte."
Archiv: Literatur