Efeu - Die Kulturrundschau

Blick durch Raum und Zeit

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13.08.2016. In der NZZ erklärt Boris Groys, wie uns das Internet alle zu Museumswächtern macht. Die SZ staunt, dass sich jetzt auch dieiranischen Mullas mit dem Glamour der Kunstwelt schmücken möchte. Der Tagesspiegel hört "Piano Heros" bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Der Humanistische Pressedienst erinnert an Gottfried Wagners großen Bruch mit Bayreuth. In der FR spricht die Krimi-Autorin Patricia Melo über Literatur und Verbrechen in Brasilien. Bei Spiegel Online fordert der Regisseur Jonas Mekas die Abschaffung des experimentellen Films.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.08.2016 finden Sie hier

Kunst

In einem großen Essay in der NZZ denkt Boris Groys über die Kunst nach: Ist sie noch immer das Medium der Wahrheit? Kann sie die Welt verändern? Und was macht das Internet mit der Kunst? "Im Internet operiert die Kunst in der Tat im selben Raum wie militärische Planung, Tourismus-Geschäft, Kapitalströme usw.: Google zeigt wie vieles andere, dass der Raum des Internets keine Wände hat. Der Internetnutzer wechselt nicht zwischen dem Alltagsgebrauch der Dinge zu ihrer interesselosen Kontemplation. Der Internetnutzer benutzt Informationen über Kunst auf die gleiche Weise wie Informationen über alle anderen Dinge der Welt. Es ist, als wären wir alle zu Museums- oder Galeriepersonal geworden - Kunst wird explizit dokumentiert als etwas, das im einheitlichen Raum der profanen Aktivitäten stattfindet."

In Teheran lagert mit den Archiven der Schah-Gattin Farah Diba die größte Sammlung moderner Kunst außerhalb der USA und Europas. Bevor die Sammlung Farah Diba erstmals nach Europa, genauer: nach Berlin kommt, hat Tomas Avenarius dem iranischen Kunst-Hochsicherheitslager, das eine Islamische Revolution und die Auseinandersetzungen mit dem Irak überlebt hat, einen Besuch abgestattet. In der SZ schreibt er nicht nur die Geschichte dieser Sammlung: "Nach der Bewunderung und Imitation durch den Schah und seine Frau, nach der Ablehnung alles Westlichen durch die Revolutionäre deutet sich mit der Reise nach Berlin die dritte Phase im Verhältnis Irans zur westlichen Kunst an: die eines halbwegs interessierten Nebeneinanders oder sogar der gegenseitigen Akzeptanz. .. Für das iranische Regime ist die Ausstellung jedoch ein gewagtes Unterfangen. Der Glamour der Schah-Zeit lässt ihren Gottesstaat eher trist aussehen. Die Ausstellung wird ungewollt zeigen, dass die Chomeini-Revolution kulturell nichts vergleichbar Überzeugendes hervorgebracht hat."

Dazu passend schreibt Bahareh Ebrahimi in der SZ zur Lage der Kunst im Iran: Kunst habe keinen hohen Stellenwert, dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen zeigt sich die junge Generation kunsthungrig. Vorschriften werden den angehenden Künstler auch gemacht: "Nacktheit, egal ob männlich oder weiblich, ist nicht erlaubt. Unverschleierte Frauen ebenso wenig. Alles Vulgäre ist verboten, wie auch Erotik. Manchmal. Denn die Urteile sind durchaus willkürlich. ... Deswegen ist das Geschlecht vieler Figuren auf Gemälden oder Zeichnungen, aber auch Skulpturen, häufig nur wenig ausgeprägt. Und wo jemand es wagt, eine weibliche Figur darzustellen, ist diese oft grotesk haarlos oder manchmal sogar körperlos. Viele Künstler ziehen es daher vor, abstrakt zu arbeiten."

Weiteres: In der FR porträtiert Ingeborg Ruthe die Berliner Künstlerin Paula Müller.

Besprochen werden Ausstellungen von Katharina Grosse und Andreas Achenbach in Baden-Baden (FR) und die Ausstellung "Holmead 1889-1975 - Ein Maler zwischen den Welten" in der Kunsthalle Schweinfurt (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Seit siebzig Jahren gibt es die Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, für eine Tagesspiegel-Reportage von Barbara Eckle besucht diesen Hort der letzten Konsequenz: "Die Ferienkurs-Tradition ist in diesem Jahr mit 450 Teilnehmern aus aller Welt lebendiger denn je. Längst werden hier keine allgemeingültigen Regelwerke mehr postuliert. Der Kompositionsbegriff, ja, der ganze Neue-Musik-Begriff streckt sich immer weiter nach anderen Stilrichtungen und Kunstgattungen aus. Unter dem Motto 'Music in the expanded field' stellt Thomas Schäfer, Leiter der Ferienkurse, diese Tendenz zur Raumerweiterung in den Fokus. Die Idee an sich ist nicht neu. Neu ist aber die Dringlichkeit, sich damit auf die Realität zu beziehen. Der junge belgische Komponist Stefan Prins macht es am Klavier vor: In seinem Zyklus 'Piano Hero' erweitert er das Instrument multimedial so weit, dass es zusehends zum Spiegel der Verunsicherung unserer medial kontrollierten Gesellschaft wird."




Weiteres: Für die taz besucht Ulrich Gutmair Avri Levitans "Musethica"-Projekt, bei dem Klassikmusiker das Konzert in sozialen Einrichtungen üben.

Besprochen werden das neue Album der Avalanches ("ausgefuchst komponiert", stellt Stefan Michalzik in der FR fest), das neue Album des Jazztrios Vorwärts Rückwärts (taz), ein Filmmusikkonzert in Mainz (FR) und Paul McCartneys Werkschau "Pure McCartney" (FAZ).

Außerdem: Daniel Barenboin macht jetzt Musikvermittlung auf Youtube. In einem ersten Video plaudert er fünf Minuten über Brahms' Klavierkonzert Nr. 1.

Archiv: Musik

Bühne

Jüngst machte die Meldung von wiedergefundenen Hitler-Filmen in Bayreuth von sich reden (Christine Lemke-Matwey berichtete in der Zeit, unser Resümee). Hannelore Brenner erinnert beim Humanistischen Pressedienst daran, das der abtrünnige Wolfgang-Wagner-Sohn Gottfried Wagner schon längst in seinen Memoiren von diesen Filmen berichtet hatte, und sie macht darauf aufmerksam, wie wenig Gottfried Wagners Bruch mit Bayreuth gewürdigt wurde: "Gottfried Wagner brach ein Tabu, das ist gewiss. Er musste es brechen, musste aus der Welt seiner Kindheit ausbrechen und der Atmosphäre entkommen, an der er zu ersticken drohte. Er brach mit seinem Vater. Und das bedeutete auch, er brach mit der gesamten Lobby der deutschen Finanz- Politik- Kultur und Medienwelt, die an der Renaissance des Bayreuther Nachkriegs-Festspielhaus kräftig mitwirkte und die er nun gegen sich hatte. Der Bruch war total. Gottfried verließ Deutschland.

Für die SZ trifft sich Christine Dössel in Salzburg mit David Bennent, der dort in Julian Crouchs Inszenierung von Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" den Mammon spielt. Für den literarischen Wochenend-Essay der FAZ hat Katharina Laszlo eine Brecht-Tagung in Oxford besucht.

Besprochen wird die Aufführung von Gottfried von Einems Myterienspiels "Jesu Hochzeit" Stift Ossiach bei Villach (NZZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Welt-Gespräch mit Hannah Lühmann spricht der israelische Schriftsteller Tomer Gardi über das Aufwachsen im Kibbuz, seinen beim diesjährigen Bachmann-Wettbewerb vorgetragenen Roman "Broken German" und über die Legitimation nicht standardisierter Sprache: "Jeder Mensch hat seine Sprache und innerhalb dieser Sprache trifft er seine Entscheidungen. Ich habe dieses Wort gewählt und kein anderes. Es ist gleichzeitig meine Sprache und eine künstliche Sprache. Ich glaube, es gibt echt viele Leute, die dachten, ich kann eigentlich perfekt Deutsch und tue nur so."

In der FR spricht Sylvia Staude mit der brasilianischen Krimiautorin Patrícia Melo. Unter anderem geht es dabei auch darum, warum sich Noir in Brasilien schwer tut: "Der Roman Noir ist abhängig von einer städtischen Kultur. Und die Urbanisierung Brasiliens passierte sehr spät, in den Sechzigern. Bis zum Ende der Fünfziger war Brasilien im Grunde ländlich geprägt. Erst seit den Sechzigern entstand langsam eine Kriminal-Literatur. Heute gibt es viele gute Autoren, denn es gibt auch die Realität der Verbrechen, es gibt eine bestimmte soziale Realität." Melos aktuellen Krimi "Trügerisches Licht" bespricht Kathrin Granzin in der taz.

In der FAZ macht Andreas Platthaus mit einer ausführlichen Vorschau Lust auf das Herbstprogramm der Verlage: Ausführliche Erwähnungen sind ihm Philipp Winklers "Hool", Ottessa Moshfeghs "McGlue", Sibylle Lewitscharoffs "Das Pfingstwunder", Bodo Kirchhoffs "Widerfahrnis", Elena Ferrantes "Meine geniale Freundin" und insbesondere Christoph Ransmayrs "Cox oder Der Lauf der Zeit" wert: "Ransmayr bietet einen Blick durch Raum und Zeit auf eine in jeder Hinsicht ferne Welt und macht sie uns mit dem staunenden Blick seines Mecanicus verständlich. Und wie als Spiegelbild des nur scheinbar Exotischen sehen wir uns selbst, in unserem Raum, in unserer Zeit. Was für eine Kunst!"

Weiteres: Für die SZ trifft sich Peter Münch mit der israelischen Schriftstellerin Dorit Rabinyan, deren Roman "Wir sehen uns am Meer" über eine Liebesbeziehung zwischen einer Israelin und einem Palästinenser in Israel einen handfesten Skandal nach sich zog und also zum Bestseller wurde. Andreas Kilcher hofft in der NZZ, dass mit der Entscheidung des Obersten Gerichts in Israel, der epische Streit um Kafkas Nachlass endlich sein Ende nimmt. Das Gericht hatte die Schriften der Hebräischen Nationalbibliothek zugesprochen und nicht den Erbinnen von Max Brods Sekreträrin.

Besprochen werden Klaus Bittermanns Punkroman "Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie" (taz), Eva Schmidts Roman "Ein langes Jahr" (Standard), Fabien Nurys und Brünos Comic "Tyler Cross. Band 1: Black Rock" (taz), Marjana Gaponenkos "Das letzte Rennen" (FR), Christopher Eckers "Der Bahnhof von Plön" (ZeitOnline) und Lee Lockwoods Reportagen "Castros Kuba" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Piazza, Forum und Agora sind zum Inbegriff der europäischen Stadt, der Demokratie und des öffentlichen Raums geworden. In der NZZ möchte Brigitte Sölch das pittoreske Narrativ um die Stadtplätze ergänzen: "Dabei ist die architektonische Gestalt dieser Stadträume nicht unabhängig davon, dass hier auch das Militär durch Triumphbögen einzog, Hinrichtungen vollzogen und Schandbilder der rechtlich Verfolgten dem allgemeinen Spott ausgesetzt wurden, dass nicht alle sozialen Gruppen und Geschlechter jederzeit Zutritt hatten, dass es Vorformen der Gentrifizierung gab und dass die Anwohner die Kosten für die Stadtverschönerungen oftmals selbst mitzutragen hatten."

Ebenfalls in der NZZ schreibt André Bideau über die neue Renaissance städtischer Uferzonen.
Archiv: Architektur

Film

Für SpiegelOnline hat sich Frédéric Jaeger in Locarno mit dem auch mit 93 Jahren noch quicklebendigen und wendigen New Yorker Filmemacher Jonas Mekas zu einem vergnüglichen Gespräch zusammengesetzt. Warum Mekas nicht als Experimentalfilmemacher gelten will, erfahren wir dabei auch: "Der schädlichste, dümmste Name ist experimentell. Jeder Filmemacher, den ich kenne, geht los und macht Filme. Ob Douglas Gordon oder Stan Brakhage oder Kenneth Anger oder Peter Kubelka, sie machen einfach, was sie machen wollen, wie in jeder Kunstsparte. Arbeiten experimentell zu nennen, nur weil sie nicht in die akzeptierten Kategorien von Inhalt, Form oder Technik fallen, das heißt sie herabzustufen. Das wäre, wie wenn wir Rilke einen experimentellen Autor nennen würden. Nein, er ist ein Dichter, mit einer anderen Form, einer anderen Intensität, einer anderen Sprache. Lyrik ist keine Prosa. Das gleiche gilt fürs Kino. Experimentell sollte als Begriff eliminiert werden."

Mehr aus Locarno: Im Podcast von critic.de resümieren Frédéric Jaeger und Lukas Foerster das Filmfestival. In der FAZ zieht Marco Schmidt Festivalbilanz. Außerdem bespricht Verena Lueken in der FAZ den Katalog zur Locarno-Retrospektive über das BRD-Kino der 50er, die wiederum Daniel Kothenschulte in der FR Revue passieren lässt: Die Schau verzichte auf heitere Revuefilme und seinerzeit ähnlich gelagerte, kommerziell erfolgreiche Filme. Vielmehr zeichne sie "ein finsteres Bild. ... Hinter den Aufbruchsutopien des Wirtschaftswunders schwelt eine Angst vor Kontrollverlust und Untergang."

Weiteres: In einem Außenlager der Deutschen Kinemathek in Berlin-Marienfelde wird die Filmsammlung Bertolt Brechts restauriert und digitalisiert, berichtet Gunda Bartels in einer Tagesspiegel-Reportage. Für Das Filter berichtet Henrike Meyer vom Filmfest in Marseille.

Besprochen werden Baz Luhrmanns Netflix-Serie "The Get Down" über die Ursprünge der New Yorker HipHop-Szene (ZeitOnline) und Ed Herzogs "Schweinskopf Al Dente" (Artechock).
Archiv: Film