Efeu - Die Kulturrundschau

Pure Pracht und Herrlichkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2016. Die NZZ freut sich über den Goldenen Leoparden für die bulgarische Regisseurin Ralitza Petrova. Mit Christoph Willibald Glucks "Alceste" wurde die Ruhrtriennale eröffnet: Die FAZ sah sich Affekstürmen in schillerndsten Farben ausgesetzt. Der Tagesspiegel erlebte pulsierende Empfindsamkeit. Der Standard lernt mit Ivo Andric, die Realität der Vielfalt auszuhalten. Die Welt und andere schreiben zum Tod des DDR-Schriftstellers Hermann Kant, der so talentiert war wie bereit, die Parteilinie zu exekutieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.08.2016 finden Sie hier

Film


Still aus Ralitza Petrovas Gewinnerfilm "Godless"

Beim Filmfestival in Locarno gewann die bulgarische Regisseurin Ralitza Petrova für ihren Debütfilm "Godless" den Goldenen Leoparden. In der NZZ findet Susanne Ostwald das nach dem starken Auftritt der Osteuropäer ganz richtig: "Die seelische Verrohung, gesellschaftliche Verwahrlosung und vergebliche Heilssuche im Glauben rückt immer wieder in den Fokus der Filmschaffenden aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Es ist freilich traurig, dass sich die enorme Vitalität der Filmszene Osteuropas nicht zuletzt sozialen Missständen verdankt, die es zu beschreiben gilt. Doch fernab einer westlichen Saturiertheit entstehen hier meisterhafte Werke von luzider Erzählkunst, die sich immer wieder an Festivals durchzusetzen vermögen. So wie jetzt in Locarno, wo verdientermaßen neben dem Hauptpreis auch der Spezialpreis der Jury sowie die Darstellerpreise nach Osteuropa gingen." Hier alle Preisträger.

Für die taz resümiert Barbara Wurm die Retrospektive des Filmfestivals Locarno, die in diesem Jahr dem BRD-Kino der 50er gewidmet war. Cargo bringt die dritten Locarno-Notizen von Lukas Foerster. Im Tagesspiegel zieht Anke Leweke Festivalbilanz.

Weiteres: Für den Freitag unterhält sich Isabella Reicher mit der einflussreichen Filmtheoretikerin Laura Mulvey, die dieser Tage ihren 75. Geburtstag feiert. Der WDR spricht mit Elfi Mikesch über deren neuen Film "Fieber". In der Berliner Zeitung spricht Patrick Heidmann mit Baz Luhrmann über dessen Netflix-Serie "The Get Down", die sich mit der Entstehung von HipHop befasst.
Archiv: Film

Bühne

Mit Christoph Willibald Glucks "Alceste" wurde die Ruhrtriennale eröffnet: Zu erleben gab es in der in der Bochumer Jahrhunderthalle in der Regie Johan Simons und unter der musikalischen Leitung von René Jacobs ein spartanisches Bühnenbild aus 100 Plastikstühlen und viele spurtende Sängerinnen und Sänger, die auf der breiten Bühne einige Distanzen zu bewältigen hatten, erfahren wir aus den Kritiken. In der FAZ hält Eleonore Büning die Inszenierung für "verhungert, verstolpert". Überdies ist ihr Sitzplatz nicht gerade ideal: Sie hört von allem ein bisschen was und vieles versetzt, weshalb sie in der Pause den Sitzplatz wechselt: Und schon ist die Musik "pure Pracht und Herrlichkeit, bis zur letzten, dem Finale angeklebten Chaconne. Die von Jacobs handverlesenen Musiker des B'Rock Orchestra tauchen die Affektstürme, in denen König und Königin schier vergehen, in die buntesten, schillerndsten Farben."

Auch Regine Müller vom Tagesspiegel hält die Inszenierung für "eher defensiv": Was der Abend wolle, wird ihr nicht klar, "auch die Dialektik der Plastikstühle leuchtet nicht mehr ein". Doch schon rein wegen der Musik hat sich die Reise gelohnt: "Der Klang ist transparent, zart, pulsiert in bebender Empfindsamkeit. Ein Mirakel ist der Chor, der sich oft weit im Raum verteilt, seine cremige, schlackenlose Homogenität dabei nie verliert und noch dazu mitreißend agiert. Brigitte Christensen meistert die horrende, abwechselnd grabestief und extrem hoch liegende Partie mit seraphisch leuchtendem Sopran, Georg Nigl beherrscht bei jedem seiner hinreißenden Auftritte die Riesenbühne mit magnetischer Präsenz."

In der FAZ greift Alexandra Albrecht Dorion Weickmanns kürzlich in der SZ aufgestellte Forderung nach mehr Diversität im Ballett auf, widerspricht aber deren Andeutungen, es könnte im Ballett rassistische Mechanismen geben: Dass es weniger Schwarze im Ballett gibt, liege auch daran, dass es in den afrikanischen Ländern kaum Ballettschulen gebe, da man lieber eigene Tanztraditionen pflege.

Weiteres: Irene Bazinger resümiert in der Berliner Zeitung die Salzburger Festspiele. Die FAZ hat Katharina Laszlos Bericht von ihrem Besuch bei einer Brecht-Tagung in Oxford online gestellt.

Besprochen wird der Auftakt zum Berliner Tanz im August mit Emanuel Gat und Eszter Salamon (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).
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Architektur

Vor neun Monaten wurde die Zeche Auguste Victoria in Marl geschlossen, jetzt nutzt die Ruhrtriennale sie als Spielort, während unter Tage noch der Rückbau vonstatten geht: "So schnell wurde wohl noch nie ein Relikt der Montanindustrie von der Kultur in Besitz genommen und umdefiniert", schreibt dazu Andreas Rossmann in der FAZ. Die vergangenes Jahr übernommene Zeche Lohberg in Dinslaken etwa war zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre außer Betrieb. "Die Halle in Marl, eine gewaltige Satteldachkonstruktion, deren Stirnseite offen ist, misst mit 245 noch einmal 35 Meter mehr in der Länge als jene in Dinslaken, ist mit 63,5 Metern fast genauso breit und mit zweiunddreißig Metern nur geringfügig niedriger. Ein riesiger, rauher Raum, in dem es die Kunst schwerhaben wird, sich zu behaupten."

In der taz freut sich der Wiener Architekt und Stadtplaner Reinhard Seiß über das 40-jährige Bestehen der von Harry Glück konzipierten Wiener Wohnparkanlage Alt Erlaa, die wie eine Stadt in der Stadt funktioniert, beim Erstbezug schwer gescholten wurde, aber offenbar mehr als zufriedene Bewohner beherbergt.
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Kunst

Für den Tagesspiegel besucht Christiane Meixner das neue Privatmuseum, das sich Gil Bronner für seine Sammlung Philara in Düsseldorf gegönnt hat. ZeitOnline bringt eine Strecke mit Fotografien von Daniel Josefsohn, der am Wochenende gestorben ist.

Besprochen werden Philipp Fürhofers Kunstinstallation "Reflexzone" im Kunstverein Augsburg (taz), die Ausstellung "Im Spiel der Formen" in der Berliner Galerie "Die Möwe" mit Arbeiten von Curt Lahs und Heinrich Wildemann (Tagesspiegel), die Ausstellung "Chapeau! Eine Sozialgeschichte des bedeckten Kopfes" im Wien Museum (FAZ) und eine Juan Sánchez Cotán gewidmete Schau im andalusischen Granada (FAZ).
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Stichwörter: Wien-Museum

Musik

Christian Wildhagen hörte in der NZZ zur Eröffnung des Lucerne-Festival erst einen leisen, aber nachhallenden Auftritt der kanadischen Primadonna Barbara Hannigan, dann Mahlers gewaltige "Sinfonie der Tausend" unter Riccardo Chailly: "Die Salle blanche im KKL kommt hierbei entschieden an ihre Grenzen. Die Dichte des Schalls durchkreuzt jedes analytische Hören, das doch gerade in den komplexen polyfonen Passagen des ersten Teils von besonderem Reiz wäre. Aber auch ein Klangrausch, durchaus Teil von Mahlers Überwältigungskonzept, stellt sich nicht ein, da der Klang zu wenig atmen und ausschwingen kann. So ertappt man sich spätestens an der zentralen Tutti-Stelle 'Accende lumen sensibus' bei dem Wunsch, es möchte doch irgendeine höhere Macht die Türen aufreißen und gleich noch die Saaldecke ein wenig anheben, um Mahlers Anrufung des Schöpfergeistes den gebührenden Raum zu verschaffen."

In der FR berichtet Bernhard Uske von den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, auf deren 70-jährige Geschichte Volker Hagedorn in der Zeit zurückblickt.

Besprochen werden eine arte-Punkdoku mit Campino (FR, hier in der Mediathek), ein Konzert von Martha Argerich, Daniel Barenboim und dem West-Eastern Divan Orchestra (Tagesspiegel), eine Paul-McCartney-Box (online nachgereicht von der FAZ), ein Cro-Konzert (Tagesspiegel) und von Reinhard Goebel dirigierte Aufnahmen von Leopold Mozarts Kompositionen (FAZ).
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Literatur

Zum Tod des DDR-Schriftstellers und SED-Funktionärs Hermann Kant blickt Barbara Möller auf eine sehr deutsche Karriere zurück: "Dieser eine war ja der Beweis, dass die DDR-Literatur nicht nur Seghers-rot oder Strittmatter-grau sein konnte, sondern auch Kant-mokant. Komisch, ironisch. Kant, der 1978 zum Vorsitzenden des DDR-Schriftstellerverbands aufstieg und im ZK der SED saß, war eine Figur, wie sie das Dritte Reich auch hervorgebracht hatte: aufs Höchste talentiert, brennend ehrgeizig und entschlossen, die Chance zu nutzen, die das Regime ihm bot. Und dabei durchaus bereit, sich die Hände schmutzig zu machen: Es war Kant, der im Verband die Parteilinie exekutierte."

Nachrufe schreiben außerdem Dietmar Dath (FAZ), Michael Bartsch (taz), Jürgen Verdofsky (FR), Cornelia Geißler (Berliner Zeitung) und Hannes Schwenger (Tagesspiegel).

Während die Welt um Ivo Andric zusammenbrach, schrieb der jugoslawische Diplomat die grandiosesten Werke, bemerkt im Standard fasziniert und ein wenig bestürzt zugleich Karl Markus Gauß, der in einem sehr schönen Essay Andrics großen Bosnien-Roman "Wesire und Konsuln" huldigt: "Das Land der realen Vielfalt bleibt immer eine Zone des Konflikts, des alltäglichen Kampfes um Vorherrschaft, der Kriege um Hegemonie, der Feindschaft, die, nach Zeiten des scheinbar ungetrübt friedlichen Zusammenlebens, eruptiv wieder ausbricht. Andererseits verwirft Andric die bosnische Vielfalt nicht, geht er doch davon aus, dass sie nichts anderes ist als die unaufhebbare Realität dieses geopolitischen Raumes. Alle mochten sie sich etwas Besseres von ihrem Schicksal erhofft haben, die Muslime, Katholiken, Orthodoxen und die Juden, aber sie sind nun einmal hier gelandet oder gestrandet."

Weiteres: Die Zeit hat Alexander Cammanns Bericht von seiner Begegnung mit der Schriftstellerin Julia Kissina online nachgereicht. Ebenfalls online steht jetzt Andreas Platthaus FAZ-Vorschau auf den literarischen Herbst. Für die FR unterhält sich Frank Junghänel mit dem Schriftsteller John von Düffel unter anderem über Schwimmen und Olympia.

Besprochen werden Katja Lange-Müllers "Drehtür" (Tagesspiegel) und Thierry Smolderens und Alexandre Clérisse' Comic "Ein diabolischer Sommer" (Tagesspiegel). Mehr aus dem literarischen Leben im Netz in unserem Metablog Lit21.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marion Titze über Bertha Pappenheims "Mir ward die Liebe nicht":

"Mir ward die Liebe nicht -
Drum leb ich wie die Pflanze,
Im Keller ohne Licht.
..."
Archiv: Literatur