Efeu - Die Kulturrundschau

Das feine Schweigen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2016. Die NZZ sehnt sich in Zeiten von rosa Kaninchen auf großen Bühnen nach der Magie der wahren Primadonnen. Die Zeit findet mit Mirga Gražinytė-Tyla den nächsten Star am DirigentInnenfirmament. Die FAZ vermisst bei einem Schubert-Konzert, bei dem Ian Bostridge beleidigt wurde, Zivilcourage im Publikum. Die FAS sieht schwarz für Hollywoods Blockbuster. Die Künstler haben die Macht im Museum übernommen, meldet die SZ nach einem Besuch im Museum Ludwig. Publishers Weekly plaudert mit dem Comicautor Alan Moore über Sterblichkeit und Ewigkeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2016 finden Sie hier

Kunst


(Bild: Guerrilla Girls, Do Women Have to Be Naked to Get into the Met. Museum?, 1989, Museum Ludwig, Köln © Guerrilla Girls. Courtesy guerrillagirls.com, Foto: Rheinisches Bildarchiv)

"Im Museum regieren die Künstler", fällt es SZlerin Catrin Lorch wie Schuppen von Augen, während sie das Museum Ludwig in Köln besucht, das sich zum 40-jährigen Bestehen mit einer Sonderausstellung beschenkt. Diese wird von eigens eingeladenen Künstlern gestaltet, was in den Augen der Kritikerin deren neue Machtposition unterstreicht. "War jahrhundertelang das Museum der Torwächter zu den Hallen der Kunstgeschichte, können viele Häuser heute froh sein, wenn sie die international ausgebuchten Künstler-Stars für Ausstellungen verpflichten können. Für Ankäufe reicht das Geld ohnehin schon lange nicht mehr. Das schafft neue Verhältnisse - doch zu lange hat man sich nur auf die Sammler konzentriert, die auf dem Kunstmarkt regieren und in ihren Privatmuseen ihre Preziosen ausbreiten."

Andreas Rossmann besichtigt für die FAZ die von James Rizzi gestalteten, neuen Fenster der Kreuzeskirche in Essen, die ihren Besucher jetzt mit knallbunten PopArt-artigen den Blick nach außen gestattet, was Rossmann als "Abschied von Gewohntem" deutet: "Die Basilika war 1953 betont schlicht, ohne die barockisierende Originalausstattung, mit weißen Wänden und farblosem Glas wieder aufgebaut worden, nur die fünf Fenster in der Apsis wurden abstrakt gestaltet. Der Rückgriff auf Figürliches ist ästhetisch ein Rückfall."

Weiteres: Eva Karcher schreibt im Tagesspiegel über die Terra Foundation for American Art, die weltweit Kunst verleiht.

Besprochen werden Henning Albrechts Biografie Horst Janssens (online nachgereicht von der Zeit) und Horst Antes' derzeit im St.Annen-Museum in Lübeck gezeigte Sammlung von Aklama (online nachgereicht von der Zeit).
Archiv: Kunst

Film

Die sonst so ertragreiche Sommersaison bringt Hollywood nicht nur wegen der Hitze mächtig ins Schwitzen, erklärt Peter Körte in der FAS: Rund 55 Blockbuster kommen dieses Jahr in die Kinos und kaum einer hat die Erwartungen erfüllt. Die Umsätze fallen bislang katastrophale 20 Prozent geringer aus als im Vorjahr, zu allem Unglück waren auch noch die meisten Kritiken miserabel. Ein Grund, sich von Superhelden- und Franchise-Filmen zu verabschieden? Mitnichten, schreibt Körte: "Um zu sehen, wie falsch eine solche Prognose wäre, dafür reicht ein Blick auf das Programm für 2017. Hollywood ist, trotz Kontrolle durch große Konglomerate und ausländisches Konzerne, ein Geschäft, in dem man der Angst vor einem Flop mit noch mehr Geld begegnet, aber nicht mit Sparsamkeit. Und es kennt kein anderes Geschäftsmodell mehr als das 'First Weekend Business'."

In der NZZ entdeckt Claudia Schwartz in den TV-Serien wie Homeland oder Marcella die modernen Heldinnen: "Die neuen Protagonistinnen setzen der harmlosen Verklärung von Weiblichkeit andere Rollenbilder entgegen und spielen sich damit im Mainstream des Kulturbetriebs gerade weit nach vorn. Das ist ein ehrenvolles Unterfangen, wenn man sich vor Augen führt, dass die historischen Vorläuferinnen der 'Soaps' zwar ganz auf ein weibliches Publikum zugeschnitten waren, dabei aber die tradierten Rollenmuster untermauerten."

Für die Jungle World berichtet Martin Hoefig vom Filmfestival in Sarajevo, wo sich ihm auch die Möglichkeit bot, mit dem mexikanischen Regisseur Amat Escalante zu sprechen.
Archiv: Film

Bühne

In einer Zeit des "Wohlklangschreiens" in Opernhäusern, in der die wahren Primadonnen am Regiepult sitzen, sehnt sich Gerhard Stadelmaier in der NZZ zurück nach der Magie der echten geheimnisvollen Primadonna: "Und auch den medial gerade hoch gehandelten Sängern und Sängerinnen, selbstverständlich alle ganz 'prima', die in den Festivals von Aix über Baden-Baden bis hin nach Salzburg glänzen, fehlt bei allem Star-Anbetungsgetue um sie herum dann ja doch die selt- und wundersam aufgeladene Luft um die Töne, die uns in ein Geheimes, persönlich Überpersönliches hinüberziehen könnte. Man hört kurrenten Magiern auf Abruf und schnellen Verbrauch zu, die lauter hysterisch akklamierte und mit schamlos überhöhten Kartenpreisen versehene rosa Kaninchen aus ihren technisch mehr oder weniger perfekt präsentierten Glitzerzylindern ziehen."
(Bild: Maria Callas bei der Aufnahme zu Ponchiellis "La Gioconda" im Jahr 1959. Foto: Erio Piccagliani/Warner)

Keinen besonders bleibenden Eindruck haben die diesjährigen Salzburger Festspiele bei Manuel Brug in der Welt hinterlassen: "Es war ein ganz und gar mittelmäßiger Jahrgang. Nichts wollte hier so recht zünden, allen gesellschaftspolitischen Sprengstoff hatte man vorher sorgfältig aus den Werken herausgekratzt."

Im Tagesspiegel empfiehlt Sandra Luzina die Tanznacht Berlin in den Uferstudios. Besprochen wird Bernhard Mikeskas in Weimar gezeigte Performance "Goethe: Vom Verschwinden" ("verzaubernd", schwärmt Egbert Tholl in der SZ).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Primadonnen, Callas, Maria

Musik

Patrick Bahners berichtet in der FAZ von einem Eklat in Schwarzenberg, wo sich beim Schubert-Konzert des englischen Tenors Ian Bostridge ein älterer Herr mit dem flegelhaften Zwischenruf "Deutsch lernen!" hervorgetan hat. Fast erschütternder findet Bahners allerdings die mangelnde Courage des in seiner Überforderung offenbar gelähmten Publikums. Erst Bostridge selbst stellte den Zwischenrufer nach dem Konzert zur Rede, holte ihn auf die Bühne, wo sich dieser mangels Argumente blamierte. "Der Muttersprachrichter hatte offenkundig geglaubt, solcher Gründe gerade nicht zu bedürfen und ein für jeden im Saal oder doch jeden Deutschen evidentes Urteil auszusprechen. Und gab unser Schweigen ihm nicht recht?" Bahners' Fazit: "Dass dem Zuruf (...) jeder Anhalt fehlte, was jeder von uns Zuhörern wusste, aber keiner aussprach, steigerte das Unheimliche des Vorfalls. Fritz Stern, der kürzlich verstorbene Historiker, hat aus einem Wort Nietzsches über Goethe einen Begriff geprägt für das in der deutschen Geschichte wiederkehrende Phänomen der Passivität von Zuschauern, denen Zivilcourage abgeht: das feine Schweigen."

In einem online nachgereichten Zeit-Artikel porträtiert Christine Lemke-Matwey die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die gute Aussichten darauf hat, als nächster Star am Dirigentenfirmament aufzusteigen: "Ob sie es will oder nicht: Gražinytė-Tyla ist die Galionsfigur eines Paradigmenwechsels, der Dirigentinnen nicht nur brav im Unter- und Mittelbau des Musikbetriebs werkeln lässt, sondern endlich auch in Spitzenämter katapultiert."

Die Popexperten von Pitchfork entdecken die 70er wieder: Neben den handverlesenen 200 besten Songs der 70er, präsentiert das Online-Magazin auch die 25 besten Musikvideos der Dekade und bietet einen Überblick über die technologischen Errungenschaften des Jahrzehnts aus popmusikalischer Perspektive. Dazu schreibt Jason Heller über das Jahr 1976 als wichtigstes Popjahr dieses Jahrzehnts.

Weiteres: Tazler Andreas Hartmann spricht mit Michael Aniser und Anton Teichmann, die sich mit dem Berliner Festival Off-Kultur gegen das vom Senat finanzierte Pop-Kultur-Festival positionieren wollen. Die Spex lässt Fatih Akin und die Beginner aufeinander treffen. In der Berliner Zeitung resümiert Jens Balzer das Festival Berlin Atonal. Thomas Stillbauer erinnert in der FR an das letzte Beatles-Konzert, das vor 50 Jahren über die Bühne ging. FAZler Jan Brachmann berichtet vom Husumer Festival "Raritäten der Klaviermusik". Und für Skug führt Curt Cuisine durch aktuelle Veröffentlichungen aus dem Bereich Noise, Impro und Experimentalmusik.

Besprochen werden der Saisonauftakt der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel), das Open-Air-Konzert der Berliner Philharmoniker am Kulturforum (Tagesspiegel), das Album "Con-Struct" von Pyrolator und Conrad Schnitzler (taz), der Abschluss des Rheingau-Festivals mit einem Mahler-Abend (FR) und das neue Album von Britney Spears (FR).
Archiv: Musik

Literatur



Für Publishers Weekly plaudert Heidi MacDonald mit dem Comicautor Alan Moore über dessen monumentalen Roman "Jerusalem", den der Experte für durchgeknallte Erzählkonzepte seiner englischen Heimatstadt Northampton gewidmet hat: "Die Ursprünge des Romans liegen in Moores Meditationen über seine eigene Sterblichkeit. Die verschiedenen Jenseits-Konzepte weisen seiner Meinung nach erhebliche Mängel auf. Die übliche christliche Vorstellung 'klingt nicht gar so sehr nach einem Lebensstil, den ich für den Rest der Ewigkeit pflegen möchte', sagt er. 'All dieser goldene Marmor, das hat für mich eher was von einem Badezimmer aus den Achtzigern.' Dabei wurde ihm klar, was ihm am liebsten wäre: 'Mein schönes, unordentliches Haus, all meine Bücher, meine Frau, meine Kinder, meine Freunde, meine Kindheit und all meine Erlebnisse - nur eben für immer.' Moore fand für sich eine 'aufregend einfache' Lösung. Er schrieb einen voluminösen Roman, der all seine Gefühle für sein Zuhause und seine Familie umfasste. Und während er das tat, sagt er, schuf er ganz ohne es zu wissen Einsteins Konzeption von Zeit und Raum neu."

Weiteres: Exklusiv online findet sich die dreistündige Fassung des letzte Nacht im ZDF gekürzt ausgestrahlten Gesprächs zwischen Thea Dorn und Martin Walser (hier der Sendehinweis aus der FAZ). Veronika Kracher berichtet in der Jungle World, wie der SF-Autor Chuck Tingle rechtsnational-maskulinistische Lobbyisten, die den renommierten, für Science Fiction vergebenen Hugo Award kapern wollen (mehr dazu hier), mit Dinosaurier-Pornos gefoppt hat. Im Tagesspiegel erinnert Andreas Rehnolt daran, dass vor 65 Jahren die erste deutsche Micky Maus erschienen ist.

Besprochen werden Gerhard Falkners "Apollokalypse" (Freitag), André Kubiczeks "Skizze eines Sommers" (Berliner Zeitung), Martin Mosebachs "Mogador" (Tagesspiegel), Petina Gappahs "Die Farben des Nachtfalters" (Tagesspiegel) und Han Kangs "Die Vegetarierin" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gerhard Stadelmaier über Hermann Hesses "September":

"Der Garten trauert,
Kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
..."
Archiv: Literatur