01.09.2016. Die Feuilletons umjubeln Eiichi Yamamotos restaurierten Animationsfilm "Die Tragödie der Belladonna": Die FAZ tanzt zwischen Erotik und Ausgezehrtheit zu unirdischen Stimmen, die Welt feiert den stilistischen Exzess und zählt Phallussymbole und die taz ist bei so viel Sex und Gewalt ganz verstört. Das Logbuch Suhrkamp liest postdigitale Gegenwartsliteratur und bemerkt: Die digitale Revolution ist vorbei. nachtkritik reist zur Wiesbadener Biennale und sucht das "Asyl des müden Europäers". In der taz will Punk-Urgestein Richard Hell nicht über "Jewishness" sprechen. Und die Zeit befragt Christian Kracht zum "kulturell Eigenen".
Film, 01.09.2016

Die Filmkritiker gehen auf die Knie vor
Eiichi Yamamotos Animationsfilm
"Die Tragödie der Belladonna" aus dem Jahr 1973, der nun in einer aufwändig restaurierten Fassung wieder ins Kino kommt: Zu sehen gebe es nichts weniger als ein wiederzuentdeckendes Meisterwerk. Die Verfilmung einer Abhandlung über mittelalterlichen europäischen Hexenglaube liege ganz im Zeitgeist der Pop-60s und biete eine Vielzahl ästhetisch eigenwilliger Strategien. Dietmar Dath
schreibt dem Film in einem online nachgereichten
FAZ-Text einen glühenden Liebesbrief: "Der
gravitätische Tanz der Linien und Farben (...) entfaltet gerade in unserer bis zur Ohnmacht des Erzählens vor vielerlei Technik beschleunigten Gegenwart eine Wirkung von beachtlicher Macht: Fast alle Körper hier sind schlaksig wie zwischen Erotik und Ausgezehrtheit eingekeilte Zeichnungen von Schiele oder Vigeland; Fett oder Fülle wären da Fehler,
asketisch-
angespannter Kitsch schlägt um in skrupulöse Sachlichkeit und zurück..."
Tazler Fabian Tietke
wurde es zumindest ab und an mulmig - der Film hält nicht gerade hinter dem Berg, was Gewalt gegen Frauen betrifft: "Yamamoto und der Zeichner des Films, Kuni Fukai, finden für die Gewaltexzesse Bilder, die das Geschehen abstrahieren, dadurch aber nur
noch mehr verstören." Dennoch: "Seine Bildgewalt und die Mischung aus Experimentalfilm und sexuell explizitem Animationsfilm machen 'Belladonna of Sadness'
einzigartig in der Filmgeschichte. Die Bilder, die Yamamoto und Fukai für die Gewalt gegen Frauen in patriarchalen, sexistisch strukturierte Gesellschaften gefunden haben, verstören noch heute, das feministische Ende des Films wirkt
zunächst irritierend."
Und in der
Welt zählt Hanns-Georg Rodek nicht nur
mehr Phallussymbole als bei Bunuel, sondern erlebt auch einen kunsthistorischen "stilistischen Exzess": "Zuweilen schwebt Jeanne wie die Nixen in Klimts 'Fischblut' durch die Szenerie, dann entfalten sich
Kohlezeichnungen
à la Hieronymus Bosch, dann fließt allmählich Farbe in Linien-Kunst, dann übernehmen die Impressionisten für fünf Minuten, dann wähnt man sich in einem Modemagazin, dann in der Pop Art, dann in einem Tarot-Kartenspiel und schließlich versinkt alles in einem
psychedelischen Rausch - bis zur Ausnüchterung mit Delacroix 'Die Freiheit führt das Volk' als Schlussbild."

Unterdessen in
Venedig: Dort haben gestern die
Filmfestspiele begonnen. Die Kritiker freuen sich darüber, dass die seit Jahren zu bewundernde Baugrube am Lido verschwunden und dort jetzt tatsächlich ein Kino steht. Und viel Freude haben sie auch am Eröffnungsfilm,
Damien Chazelles glamourös-nostalgisches Musical "La la Land" mit
Emma Stone und
Ryan Gosling. Der Film ist "auf interessante Weise altmodisch, gar nicht verkehrt für den Anfang",
schreibt dazu Tim Caspar Boehme in der
taz. "Ein Knalleffekt", dieser Film,
lobt Susan Vahabzadeh in der
SZ und staunt darüber, wie es dem Festival in den letzten Jahren gelungen ist, dem zeitnah stattfindenden Festival den Rang abzulaufen, was
heiße Oscarware betrifft. Auch
FAZler Andreas Kilb schnalzt genüsslich mit der Zunge: "Ein Film aus Hollywood. Und doch kein Hollywoodfilm. Dafür ist 'La La Land'
zu schlau, zu selbstbewusst, auch
zu frech gegenüber der Industrie, die ihn ermöglicht hat."
Weiteres: Anke Sterneborg
unterhält sich für
epdFilm mit dem neuseeländischen Regisseur
Lee Tamahori über dessen Maori-Epos "Mahana" und über die Situation des Kinos seiner Heimat. Im
Filmdienst macht sich Holger Twele darüber Gedanken, wie sich Europa mit
europäischen Co-
Produktionen vor dem Zerfall bewahren lassen könnte. Im
Freitag blickt Lukas Foerster auf die Retrospektive des Festivals von
Locarno zurück, die neue Perspektiven auf das
BRD-Kino der 50er gestattet hat. Bevor
Netflix im November die ersten neue Episoden der
Gilmore Girls seit zehn Jahren ausstrahlt, hat Hanna Bochmann sich für den
Freitag nochmal die alten Staffeln
angesehen. Silvia Hallensleben
wirft in der
taz einen Blick aufs Programm der
dokfilmwoche in Berlin.
Tazlerin Carolin Weidner
freut sich auf eine Hommage
im Berliner Kino Arsenal an
Chantal Akkerman. Gerhard Midding
verabschiedet sich im
epdFilm-Blog von
Volker Baer, dem vor kurzem gestorbenen, langjährigen Filmredakteur des
Tagesspiegel.
Besprochen werden
Timur Bekmambetows "Ben-Hur"-Neuverfilmung (
Freitag,
taz,
FAZ),
Alex Gibneys Cyberkriegs-Dokumentarfilm "Zero Days" (
SZ, mehr dazu in
dieser Kulturrundschau),
Laurent Tirards "Mein ziemlich kleiner Freund" (
taz) und
Lee Tamahoris "Mahana" (
SZ).
Musik, 01.09.2016
Autsch, bei seinem
taz-Interview mit New Yorker Punk-Urgestein
Richard Hell über dessen Autobiografie
hat Klaus Walter ganz schön auf Granit gebissen. Insbesondere die Kunstfigur Theresa Stern, unter der Hell mitunter auftritt, interessiert Walter - und was Hell davon hält, dass Steven Lee Beeber sie als das jüdisch Fremdes interpretiert. Hell dazu: "Das ist eine der verrücktesten Fragen, die mir je gestellt wurde. Sorry, ich akzeptiere Ihre Vorstellungen nicht, auch nicht die von Beeber. Er hat meine Aussagen falsch interpretiert oder bewusst verfälscht. Die Frage nach meiner Jewishness scheint vor allem
Antisemiten zu interessieren, und Kulturen mit einschlägiger Geschichte,
wie die Deutschen. Ihre Fixierung auf das Jüdische meiner Arbeit interessiert mich nicht, das ist Ihre Angelegenheit." Morgen
liest Hell in Berlin aus
seinem Buch.
Weiteres: In der
taz empfiehlt Franziska Buhre das
Berliner Festival mikromusik für experimentelle Musik und Sound Art. Das
Zeit-Magazin reicht ein drei Wochen altes
Interview mit der Komponistin
Olga Neuwirth über neurologische Probleme online nach.
Besprochen werden
Gert Möbius' Bearbeitung der Tagebücher von
Rio Reiser (
Freitag), ein Auftritt der
Eagles of Death Metal in Frankfurt (
FR), das Konzert des
Arab Youth Philharmonic Orchestra bei Young Euro Classic (
Tagesspiegel), ein Konzert von
L7 (
Tagesspiegel,
taz), ein Konzert des Mussorgski-Konservatoriums aus Jekaterinburg bei Young Euro Classic (
Tagesspiegel) und die Compilation "Electri_City 2" (
Freitag).
Bühne, 01.09.2016
Auf der diesjährigen Wiesbadener Biennale
findet Wolfgang Behrens auf
nachtkritik "Glanz und Elend" des Kuratorenwesens vor, das
Teilprogramm "Asyl des müden Europäers" überzeugt ihn allerdings, wie etwa
Thomas Bellincks "Museum der europäischen Geschichte im Exil": "Hier wird mit den distanzierten Augen einer fernen Nachwelt die
Geschichte der EU ausgestellt, als sei sie bereits eine archäologisch zu behandelnde Epoche. In Esperanto beschriftet, findet man in angestaubten Vitrinen skurrile oder auch
erschreckende Objekte, bei denen man sich oft genug fragt, ob sie echt sind oder ob man von Bellinck genarrt wird. Ein Wahlkampfplakat der FPÖ, das in
Stürmer-Karikatur-Manier die Griechen diffamiert ('Unser Geld für unsre Leut'), erweist sich natürlich als echt. Das Perfide an Bellincks Museum ist, dass es die Geschichte über die Gegenwart hinaus erzählt und dabei - gerade
durch die verschrobene Art der
gelehrten Präsentation - völlig plausibel wirkt."
Anne Linsel
bringt in der
SZ Updates zum geplanten
Pina-
Bausch-Zentrum in Wuppertal. In der
FAZ gratuliert Hubert Spiegel dem Regisseur
Johan Simons zum 70. Geburtstag.
Architektur, 01.09.2016
Literatur, 01.09.2016
Ijoma Mangold hat sich für die
Zeit mit
Christian Kracht getroffen, dessen neuer
Roman "Die Toten" in einer Woche erscheint. Der Roman spielt
in den 30ern, zwischen Berlin, Tokio und Hollywood. Thema ist - am Beispiel des Kinos - das "
kulturell Eigene", so Mangold. "Wenn die Gretchenfrage an Krachts Werk lautet:
Ist das rechts?, dann muss die Antwort lauten: Nein, wenn mit 'rechts' eine Apologie des Faschismus gemeint ist. Ja, wenn man damit eine bestimmte Tradition der Moderne-Kritik verbindet, des romantischen Glaubens an eine metaphysische Wahrheit in sämtlichen Kulturen."
Kracht selbst formuliert das im Gespräch so: "Das Handwerkliche ist auch das Japanische. Der Irrweg ist die Kunst, der richtige Weg ist das Handwerk. Das anonym Geschnitzte ist das Ideal. Die Christus-Figur, allein hergestellt zum Ruhme Gottes.
Der Einzelne -
forget about him."
Das Internet hat seinen exotischen Charakter als neuartigen Publikationsortfür die
Gegenwartsliteratur verloren - im Post-Internet-Zeitalter ist es völlig in den Alltag integriert, bildet zu diesem keine Gegenwelt mehr und ist somit selbstverständlicher Gegenstand von Literatur geworden,
stellt der Literaturwissenschaftler
Elias Kreuzmair in einem Essay im
Logbuch Suhrkamp fest, für den er zahlreiche jüngere Romane darauf abgeklopft hat, wie sie es mit dem Netz halten. Sein Fazit: "Die
digitale Revolution ist vorbei und sie hat Spuren hinterlassen. Ein Teil der postdigitalen Gegenwartsliteratur zeichnet sich nicht nur durch eine beiläufige Integration der digitalen Alltagswelt aus, sondern schöpft aus diesen Bezügen und Anschlüssen auch die Möglichkeit neuer erzählerischer Räume. Die damit einhergehenden Imitationsbewegungen, Überspitzungen und Umdeutungen machen nicht nur die Potentiale dieser intermedialen Bezüge deutlich. Sie verweisen im Vergleich auch darauf, dass es weder das Internet noch das Digitale gibt, sondern viele verschiedene Versionen und entsprechend viele
Aneignungsformen."
Besprochen werden
Raymond Queneaus "Stilübungen" (
Tagesspiegel),
André Kubiczeks "Skizze eines Sommers" (
FAZ),
Klaus Bittermanns "Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück" (
Freitag),
Eugen Ruges "Follower" (
SZ) und Thomas Melles "Die Welt im Rücken" (
FAZ). Außerdem gibt es die
KirmiZeit-Bestenliste für September.
Kunst, 01.09.2016
Freddy Langer
schreibt in der
FAZ zum Tod des Fotografen
Marc Riboud.