Efeu - Die Kulturrundschau

Als wär's ein Witz

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15.09.2016. In der FAZ spricht Dirigent Andris Nelsons über Schostakowitschs Neunte. Die SZ erlebt bei Antonio Pappanos "Norma" in London ein Dirigentenwunder. Der Tagesspiegel versinkt bereits in den Licht- und Klangwogen der Elbphilharmonie. In der taz erzählt Regisseurin Serpil Turhan von ihrem Besuch bei Rudolf Thome seinem Brandenburger Bauernhof. In der NZZ geißelt Ivan Vladislavic die Ironie in der Gegenwartskunst. Und auch Claus Peymann enttäuscht die Theaterkritiker nicht und liefert ihnen einen schönen Wutausbruch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.09.2016 finden Sie hier

Film



Heute startet Serpil Turhans Porträtfilm "Rudolf Thome - Überall Blumen" in den Kinos (hier unsere Berlinale-Kritik). Für die taz hat Toby Ashraf ein Gespräch mit der Regisseurin geführt, die den großen Regisseur auf seinem brandenburgischen Bauernhof beobachtete: "Ich wollte mich im Hier und Jetzt bewegen, um den Alltag im Mittelpunkt zu haben", sagt sie. "Und wenn wir dann in dieser Scheune stehen und diese Requisiten sehen, dann liegt die Vergangenheit auch irgendwie da und ist Teil vom Leben: verstaubt und doch irgendwie ganz wertvoll ... Gleichzeitig habe ich bei den Dreharbeiten gemerkt, dass er auf dem Bauernhof wieder ganz neu angekommen ist und es anders weitergeht - auch ohne Filmemachen. Trotzdem gibt es immer wieder auch ein Gefühl von Sehnsucht, ein Sich-vergessen-und-nicht-beachtet-Fühlen. Thome hat ja immer schon eine Außenseiterrolle gespielt." Für die SZ hat David Steinitz Thome auf dessen Bauernhof in Brandenburg besucht.

Der Suchteffekt, der sich durch Länge einstellt, ist kein Privileg der Fernsehserie, betont Katja Nicodemus und freut sich jetzt auch in der Zeit über den Goldenen Löwen für Lav Diaz' vierstündigen Film "The Woman Who Left": Ähnlich wie in einer Serie wird man mit Heldin und Nebenfiguren vertraut, entwickelt geradezu familiäre Gefühle. Aber die Verortung in deren Welt funktioniert auf faszinierende Weise anders: nicht durch die Wiederkehr von Schauplätzen und Motiven, sondern durch die Ruhe und Dauer der einzelnen Einstellungen."

Weiteres: In der taz empfiehlt Dennis Vetter eine Reihe zur Slowakischen Neuen Welle im Berliner Zeughaus. Nina Pauer fragt sich in der Zeit, ob Jugendliche Fatih Akins "Tschick"-Verfilmung mögen werden. Peter Körte schreibt in der FAZ zum 70. Geburtstag von Oliver Stone.

Besprochen werden Baz Luhrmanns Netflix-Serie "The Get Down" (Freitag), Ron Howards Beatles-Doku "Eight Days A Week" (NZZ), Fatih Akins Herrndorf-Verfilmung "Tschick" (NZZ), die Obama-Schmonzette "My First Lady" (Welt)
 Rick Alversons "Entertainment" (taz) sowie die Schmonzette "My First Lady" über Barack und Michelle Obama (taz, Tagesspiegel, Welt).
Archiv: Film

Musik

Andris Nelsons will mit seinem Boston Symphony Orchestra sämtliche fünfzehn Sinfonien von Schostakowitsch aufführen. Im FAZ-Interview spricht der Dirigent über die Bedeutung von Schostakowitsch und dessen unfassbar tragisches Verhältnis zu Stalin: "Die Neunte, von 1945, ist für mich jene, die am meisten schockieren kann. Nachdem der Krieg gewonnen war, musste man ein Stück erwarten, das den Sieg zelebrierte, in welcher Weise auch immer. Natürlich stand auch eine Totenehrung an, aber als Teil der Siegesfeier. Schostakowitsch versprach, er werde etwas mit Gesangssolisten und Chor schreiben. Die Neun hat eine besondere Bedeutung wegen der Vorgänger: Beethoven, Schubert, Bruckner. So gab es ungeheuer hohe Erwartungen. Und dann schrieb er diese kleine Symphonie, als wär's ein Witz. Fast eine Kränkung. Sehr mutig und immer noch schockierend."

Im deutschen Indiepop kennt das neue, opulent geschichtete Album "Welt in Klammern" von Max Riegers Soloprojekt All diese Gewalt nicht seinesgleichen, freut sich Juliane Liebert in der SZ und erklärt auch, woran dies liegt: "Charakteristisch ist das langsame Verschieben der Songstrukturen. Es ist Kompositionsprinzip, das in der elektronischen Musik verbreiteter ist als im Pop. Rieger probiert also, die Dramaturgie von Minimal Techno in Gitarrenmusik zu übertragen. Möglich ist das natürlich nur deshalb, weil man mit der heutigen Computertechnik Hunderte von Spuren allein in seinem Zimmer übereinander schichten kann." Für die Spex hat sich Steffen Kolberg mit Rieger unterhalten.

Family 5, die vom Soul beeinflusste Postpunkband mit Peter Hein und Xaõ Seffcheque ist nach vierzehn Jahren Pause wieder da, jubelt Sven Sakowitz in der taz: "Die Songs von Seffcheque und Türk besitzen eine hinreißende Lässigkeit und sind dennoch fetzig, vor allem durch den Einsatz der Bläser. Die Stücke klingen bisweilen fast roh, im guten Sinne unvollkommen." Der Gesang von Peter Hein steche besonders heraus: "Hein giftet, ätzt, schäumt - und analysiert auch mal mit kühlem Kopf. In wenigen Zeilen entwirft er ganze Welten- und Gedankengebäude." Zuvor besprach Ulrich Gutmair das Album in der Spex. Hier gibt es Hörproben.

Besprochen werden das neue Album von Teenage Fanclub (Freitag), Noura Mint Seymalis "Arbina" (Spex), Nick Caves "Skeleton Tree" (Pitchfork) und Messiaens beim Musikfest Berlin von Gustavo Dudamel dirigierte "Turangalîla"-Sinfonie, die Frederik Hanssen im Tagesspiegel wie der Gefühlsorkan eines Teenagers vorkam: "Wild und leidenschaftlich, aber vor allem nicht geradlinig."
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Bühne

Peymann spricht! Auf seiner vielleicht letzten Pressekonferenz schäumte der Noch-Intendant des Berliner Ensembles vor Wut angesichts der angeblichen Pläne seines Nachfolgers Oliver Reese, die Verträge des Großteils von Peymanns Belegschaft nicht zu verlängern, berichtet Patrick Wildermann im Tagesspiegel. Dass Peymann sich diesen Sozialgau durchaus selbst zuzuschreiben hat, erfahren wir indes auch: "Das BE war nie Mitglied im Deutschen Bühnenverein und daher nicht an den Normalvertrag Bühne gebunden, der eine Abfindung für die Schauspieler garantiert hätte. Das Haus besitzt die Struktur einer GmbH - mit Peymann als einzigem Gesellschafter. Die Verträge liefen bisher immer nach einem Jahr aus, wurden aber meistens verlängert ... Dass Reese wegen der bisherigen, von Peymann verantworteten Vertragsform niemandem kündigen muss, sondern die Verträge auslaufen lassen kann, findet Peymann empörend, ja zynisch. Reese habe vielleicht das Recht auf seiner Seite, nicht aber die Moral. Auf die Frage, ob er die Folgen des GmbH-Modells denn nicht hätte absehen können, entgegnet der Intendant: 'Ich war naiv'."

In der Welt kommt Mathias Heine eigentlich gut gelaunt von Peymanns Auftritt, schließlich sind viele böse Invektiven abgefallen. In der SZ mutet Peter Laudenbach Peymanns Abschiedswut eher komisch an.

Im Streit um das Berliner Staatsballett zeigt sich für Astrid Kaminski und Elena Philipp von Zeit Online einmal mehr die Dringlichkeit der Frage, wie es in der Hauptstadt mit dem Ballett weitergehen soll. "Eine zeitgenössischere Ausrichtung entspräche eher der Berliner Tanzszene, die als Freie Szene weltweit derzeit großen Zulauf erfährt und eine der agilsten Szenen überhaupt ist. Das bedeutete aber die Abwicklung des Staatsballetts in seiner jetzigen Form und würde das große balletttreue Publikum, das kürzlich für eine Malakhov-Gala im Admiralspalast Höchstpreise geboten hat, leer ausgehen lassen. Für richtungsweisende, nachhaltige Entscheidungen braucht es daher einen längeren Atem - und neue Ideen." Im Print der Zeit stellt sich Christine Lemke-Matwey im Streit um die Personalie Sasha Waltz auf die Seite des Staatsballetts: Sie fürchtet eine Schleifung der Hochkultur durch den Berliner Senat.


Bellinis Norma an der Royal Opera London. Foto: Bill Cooper.

Àlex Ollés Londoner Inszenierung von Vincenzo Bellinis "Norma" findet Reinhard J. Brembeck zwar etwas schmucklos,  bewundert jedoch das phänomenale Dirigat Antonio Pappanos: "Die Übergänge sind von einer untergründigen psychologischen Raffinesse. Genau diese Übergänge stellt Pappano in den Mittelpunkt. Er lädt sie mit einer unerfüllbaren Sehnsucht nach dem irdischen Paradies auf, die er selbst noch den banalsten Begleitfloskeln abgewinnt. Dazu gibt Pappano, ohne Taktstock und daher umso beredt feinstufiger dirigierend, eine ganz große Ruhe, ein untrügliches Gefühl für Proportionen und manchmal auch verheerende Dramatik: Fertig ist das Wunder. Ein solcher Dirigent ist für jeden Sänger ein Gottesgeschenk."

Lorina Speder (taz) und Christiane Meixner (Tagesspiegel) annoncieren Anne Imhofs heute Abend im Hamburger Bahnhof in Berlin aufgeführte Improvisationsoper "Angst II".
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Architektur

Der erste akustische Probelauf in der Elbphilharmonie ist vollzogen und die Musiker wollen ihr neues Domizil ob des hervorragenden Klangs am liebsten jetzt schon nicht mehr verlassen, meldet Frederik Hanssen im Tagesspiegel, der auch den Rest des Gebäudes eines genaueren Blickes unterzogen hat: "Während im Inneren das Anfassen der ungewöhnlichen Wandverkleidungen ausdrücklich erlaubt sein soll - im großen Saal sind es weiße Gipsplatten mit eingefrästem Rillenprofil, im kleinen Saal wellenförmige Holzverschalungen -, ist die Außenfassade ganz auf Fernwirkung hin konzipiert: In den Fensterscheiben, die teilweise wie Blasen geformt sind, sollen sich Lichtreflexe ja nach Sonnen- und Wolkenstand ununterbrochen verändern, so dass der Eindruck einer bewegten horizontalen Wasseroberfläche entsteht."
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Stichwörter: Elbphilharmonie

Literatur

Im NZZ-Interview mit Angela Schader spricht der südafrikanische Autor Ivan Vladislavic über die politische Lage im Land, seine neuen Romane und seinen Ärger über die Gegenwartskunst: "Viele Künstler arbeiten heute mit einer Haltung, die noch über Ironie hinausgeht - sie entziehen sich und ihr Werk ganz bewusst jeglicher Festlegung. Wenn ich eine Galerie besuche, fühle ich oft genau jenes Unbehagen, das Sie ansprechen: Ist das alles nur Spiel, oder steht eine ernsthafte Intention dahinter? Wird hier ein Thema lediglich ausgebeutet oder wirklich Erkenntnis vermittelt? Ist es eine Herausforderung oder bloß ein Scherz?"

Das Zeit-Magazin bringt einen Auszug aus Matthias Brandts "Raumpatrouille". Fahrrad, Vegetarismus, Liebe zum Manufaktum: In der FAZ Kerstin Holm betrachtet Leo Tolstoi als Vordenker heutiger Hipster. Und Andreas Kilb berichtet ebenfalls in der FAZ schwitzend vom Internationalen Literaturfest in Berlin, wo Ökonomen munter plauderten und Occupy-Aktivisten den Science-Fiction-Utopien ihrer Kindheit hinterhertrauern.

Besprochen werden eine Ausstellung über Goethes Zeitschrift Kunst und Alterthum im Goethe-Haus Frankfurt (FR), Pola Oloixaracs "Kryptozän" (Freitag), Ursula Frickers "Lügen von gestern und heute" (Freitag), Nir Barams "Weltschatten" (Freitag), Giancarlo de Cataldos und Carlo Boninis Thriller "Nacht von Rom" (NZZ)   Matthew F. Jones' Thriller "Ein einziger Schuss" (Tagesspiegel), Fiston Mwanza Mujilas "Tram 83" (SZ) und Marcel Prousts "Briefe 1879-1922" (FAZ). Mehr auf Lit21, unserem Metalog zur Bücher-Blogosphäre.
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Kunst

Besprochen werden David Claerbouts Installation "Olympia", die schon mal das im Oktober eröffnete Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin anwärmt (Tagesspiegel), zwei Ausstellungen über den Rhein in der Bonner Kunsthalle und im Rheinischen Landesmuseum (FAZ) und Kai Althoffs Ausstellung "and then leave me to the common swifts" im MoMA New York (SZ).
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