Efeu - Die Kulturrundschau

Noch halbwegs bei Trost

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16.09.2016. Die SZ ist gespannt, ob die New Yorker Stadtbaukunst durch die monumentale Treppenskulptur "The Vessel" eher eine Renaissance oder eine Rosskur erfährt. Überwiegend fasziniert zeigt sich die Kritik von Rick Alversons Anti-Komödie "Enterntainment". Nach seinem Ausschluss von der Yinchaun Biennale in China beklagt Ai Weiwei die mangelnde Solidarität unter seinen Kollegen. Beim Berliner Gastspiel von Kirill Petrenko und dem Bayerischen Staatsorchester lassen sich FAZ und Tagesspiegel jeder Räum- und Zeitlichkeit entrücken.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.09.2016 finden Sie hier

Kunst

Thomas-Bernhard-Kennern ist Tintorettos "Bildnis eines weißbärtigen Mannes" aus Bernhards "Alte Meister" bestens ein Begriff. Darin geht der Musikkritiker Reger seitenweise auf die Knie vor diesem Meisterwerk. Der Berliner Kunsthistoriker Karlheinz Lüdeking sieht es in der FAZ-Reihe über schlechte Bilder guter Künstler indessen völlig anders: "Dieses stupide Abbild eines stupiden Greises mit einem lächerlichen weißen Bart soll ein erstklassiges Kunstwerk sein? Keinesfalls. Dieses biedere, schulmäßig hingepinselte Konterfei kann man noch nicht einmal 'befriedigend' nennen, denn niemand, der noch halbwegs bei Trost ist, wird vor diesem Bild Befriedigung empfinden. ... Für Tintoretto ist ein solches Bild weit unter Niveau, und es sieht ja auch tatsächlich eher aus wie eine durchschnittliche Auftragsarbeit seines Sohnes Domenico."

Nachdem Ai Weiwei aufgrund seiner politischen Einstellung von der Yinchaun Biennale in China ausgeschlossen wurde, hatte der Künstler und Architect Anish Kapoor öffentlich darüber nachgedacht, die Veranstaltung zu boykottieren, nimmt nun aber doch teil, berichtet Brigid Delaney im Guardian. Ai Weiwei hat daraufhin via Twitter die mangelnde Solidarität unter seinen Kollegen angeprangert.

Weiteres: Thomas Ribi zieht in der NZZ eine Bilanz der Manifesta. Besprochen werden Pieter van Huystees Dokumentarfilm "Hieronymus Bosch - Schöpfer der Teufel" (Artechock) und die Karl-Schenker-Schau im Museum Ludwig in Köln (SZ).
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Film



Die Kritiker freuen sich, dass mit "Entertainment" erstmalig eine der tiefschwarz-nihilistischen Anti-Komödien des Nicht-Komikers Rick Alverson ihren Weg in die hiesigen Kinos findet, denn der Regisseur zählt mit seinen gezielten Zumutungen derzeit zu den "spannendsten Protagonisten des US-Independent-Kinos", wie Oliver Kaever auf Zeit Online versichert: "Dass in seinen Filmen Comedians spielen, die absolut unwitzig sind und verstörende Dinge tun, gehört zu Alversons Konzept als Filmemacher: Er unterläuft permanent Zuschauererwartungen. Wer einen Film von ihm sieht, wird sich schnell bewusst, dass er selbst, seine Haltung dazu, inhärenter Bestandteil der Seherfahrung ist. Was willst du eigentlich von mir?, scheinen diese Filme zu fragen."

Die Geschichte von "Entertainment" basiert auf dem Leben des Bühnenkomikers Neil Hamburger, weiß Fabian Tietke in der taz. Den Film deutet er "als eine Art Sonde, mit der der Film auf das Kleinkunstgeschäft und schließlich auch auf die Unterhaltungsbranche insgesamt blickt. Für alle, die die Figur Neil Hamburger kennen, ist 'Entertainment' gelungene Metafiktion, für alle anderen eine gelungene Nichtkomödie über das Dasein als Comedian - und eine Perle des US-Indiekinos." Eine Gegenposition dazu artikuliert Nikolaus Perneczky im Perlentaucher: Dem Regisseur gelinge es nur gelegentlich, "das profunde Unbehagen zu mobilisieren, um das es ihm offensichtlich zu tun ist. Aufs Ganze besehen sind die weirden Einzelzutaten aber weitaus interessanter und allseitig anschlussfähiger als die fade Indie-Rezeptur, in die sie hier eingeknetet wurden - und aus der man sie kaum mehr herausschmecken kann."

Weiteres: Dennis Pohl plaudert für die Spex mit Fatih Akin über dessen Verfilmung von Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" (hier unsere Filmkritik). An dessen Drehbuch mitgearbeitet hat der Regisseur und Funktionär Hark Bohm, mit dem Bianca Mewes vom Blog Duscope spazieren gegangen ist. Für das Blog Jugend ohne Film haben sich Fabian Tietke und Ralph Eue mit Ben Gibson, dem neuen Direktor der Berliner Filmhochschule dffb unterhalten. Für den Tagesspiegel hat sich Christiane Peitz mit Oliver Stone getroffen. Ralf Schenk schreibt in der Berliner Zeitung zum Tod des DDR-Kinderfilmregisseurs Rolf Losansky. In der Welt schreibt Hanns-Georg Rodek zum Tod des Starlets Ann Smyrner.

Besprochen werden Serpil Turhans Porträtfilm "Rudolf Thome - Überall Blumen" (Cargo, Perlentaucher, Filmgazette, epdFilm), James DeMonacos Science-Fiction-Film "Purge 3: Election Year" (critic.de), Karoline Herfurths romantische Komödie "SMS für dich" (Tagesspiegel), das Biopic "My First Lady" über die Liebesgeschichte zwischen Michelle und Barack Obama (ZeitOnline), Jacob Bergers Verfilmung von  Jacques Chessex' Roman "Un juif pour l'exemple" (NZZ) und Jann Kesslers Doku "Multiple Schicksale - Vom Kampf um den eigenen Körper" (Artechock, SZ).
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Literatur

Anlässlich der Verfilmung von Wolfgang Herrndorfs "Tschick" hat Karoline Laarmann in ihrem Blog ein altes Interview mit dem Autor transkribiert und online gestellt.

Besprochen werden unter anderem Donald Ray Pollocks Noir-Roman "Die himmlische Tafel" (SZ) und Nir Barams "Weltschatten" (SZ). Mehr auf Lit21, unserem literarischen Metablog.
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Architektur

In New York wurden Thomas Heatherwicks Entwürfe für die Treppenskulptur "The Vessel" präsentiert, die künftig über dem von Milliardär Stephen M. Ross zu einem neuen Manhattaner Zentrum ausgebauten Hudson Yards thronen soll. Gerhard Matzig bringt in der SZ Hintergründe zu den Plänen des mit 2500 Stufen diverse New Yorker Fitness-Studios in Existenznot bringenden Ungetüms: Schon alleine, weil er der Stadt seinen Stempel aufdrücken wolle, habe Ross eine Ausschreibung von vornherein ausgeschlossen. "Das Prozedere, das mitten in der Stadt etwas hervorbringen soll, was mit 'öffentlicher Raum' trotz seiner Parkanlagen nicht ganz korrekt beschrieben ist, erinnert an die Renaissance. Damals wurden die europäischen Städte von Königen und Kirchenfürsten nach Belieben, allerdings auch nach vorhandenem Kunstsinn gestaltet. Es bleibt abzuwarten, ob die Stadtbaukunst in New York nun eine Renaissance oder doch nur eine Art Rosskur erfährt. Jedenfalls: Die Manhattan-Ananas ist die Antwort auf Michelangelos David in Florenz. Größer ist sie ja." Mehr dazu bei ArchDaily, Dezeen und Architectural Digest.

Weiteres: Straßburg schlägt die deutsche Gründerzeitarchitektur des Place de la Republique der UNESCO als Weltkulturerbe vor, berichtet Joseph Hanimann in der SZ. In der FAZ gratuliert Niklas Maak dem Architekten Hans Kollhoff zum Siebzigsten.
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Bühne

Besprochen wird Anne Imhofs in Berlin gezeigte Oper "Angst II" (FAZ).

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Stichwörter: Imhof, Anne

Musik

Kirill Petrenko hat mit seinem Bayerischen Staatsorchester ein Gastspiel in Berlin gegeben, dessen Philharmoniker auch deshalb besonders aufmerksam im Publikum saßen, weil sie sich Petrenko für 2019 als Nachfolger von Simon Rattle erkoren haben. Und "gleich zu Beginn mit György Ligetis 'Lontano' für großes Orchester gelingt Petrenko eine berührende Konzentrationsleistung, bei der er mit zarter Zeichengebung Kontakt zu einer Musik aufnimmt, die jeder Zeitlichkeit entrückt scheint", schwärmt ein beeindruckter Ulrich Amling im Tagesspiegel von dieser Darbietung.

Auch Eleonore Büning von der FAZ saß zumindest körperlich im Publikum - geistig wurde sie von dem Ligeti-Konzert bald in andere Sphären entrückt, gesteht sie: "Schwebende Klangflächen, in denen legatissimo und molto lento gewebte Einzeltöne zusammenfließen: Wer spielt diesen ätzend hohen Hornissenton? Flöte oder Trompete und Geige? Und was bringt grollend den Boden zum Beben: Kontrafagott? Tuba? Das Symphonieorchester, mit seinen vielen Farben, den spitzen, kalten, warmen, süßen, starken, beteiligt sich an diesem kanonischen Gewirk. Jeder ist Solist. Das breitet sich aus im Raum und definiert eine unsichtbare Architektur: ein Gebäude aus Klängen, aus heller Nähe und dunkler Ferne, ein Haus im Haus. Man schließt die Augen und glaubt, sie zu sehen."

Weiteres: Für die taz spricht Julian Weber mit Richard Barrat über dessen Soloprojekt Crooked Man, auf dessen Debütplatte der Kritiker mitunter "ultraenergische Musik, bei der Hihats wie Engel singen," hört. Moritz Weber berichtet in der NZZ von der Saisoneröffnung in der Tonhalle Zürich mit Auftritten des Schlagzeugers Martin Grubinger und dem Tonhalle-Orchester. Im Tagesspiegel porträtiert Nana Heymann die Berliner Indieband Von wegen Lisbeth. Ein episches Interview mit Bee Gee Barry Gibb hat Christoph Dallach für das ZeitMagazin geführt.

Besprochen werden Ron Howards neuer Beatles-Dokumentarfilm (FR, Tagesspiegel), Mykki Biancos neues Album (Spex), das neue Album von Nick Cave und den Bad Seeds (The Quietus, NZZ), der Berliner Auftritt von Justin Bieber (Berliner Zeitung, Tagesspiegel, SZ, Welt), der Saisonauftakt der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter Alben von Preoccupations und Against Me (ZeitOnline).
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