19.09.2016. Nur durch den Uterus der Finsternis kamen die Zuschauer bei der Ruhrtriennale in Susanne Kennedys "Medea.Matrix". Die SZ windet sich noch immer in Wehenschmerzen, die taz vermisst echte Gefühle. Die NZZ erlebt in Zürich den Schauspieler Bernd Grawert als großen Sprech-Kannibalen. Wenigstens im Black Cinema selbst gibt es jetzt ein etwas repräsentative Vielfalt, freut sich der Standard beim Filmfestival in Toronto. Im Merkur-Blog spricht César Aira über sein Schreiben. Die Welt beobachtet Rudolf Thome beim Schneeglöckchenverpflanzen.
Bühne, 19.09.2016
Hohepriesterin der Kunst-Messe: Birgit Minichmayr in Medea.Matrix. Foto: Markus Selg / Ruhrtriennale Mit ihren Schauspiel-Installationen "Fegefeuer in Ingolstadt" und "Warum läuft Herr R. Amok?" hat
Susanne Kennedy, die ab 2017 an Dercons Volksbühne inszenieren wird, für Aufsehen bei der Kritik gesorgt - ihre
bei der Ruhrtriennale gezeigte "Medea.Matrix" fällt jetzt allerdings durch: Der Weg, den das Publikum beim Betreten der Vorstellung durch einen "
Uterus der Finsternis" gehen muss, ende "im Kunstgewerblichen",
seufzt Christine Dössel in der
SZ. Der Abend stelle ein "Spiel mit Frauenbildern und Muttermythen" in Aussicht, münde aber bloß in einen "ziemlich ursuppigen, angeberischen, zunehmend
Wehen verursachenden '
Medea'-
Murks aus raunendem, assoziativ zusammengesampeltem Text- und Bildmaterial. Vielfach projizierte Urzeit- und Urwaldbilder. Dazu Bibeltexte,
Hehres von Nietzsche, Horkheimer, Adorno, zwischendurch ein bisschen Biologieunterricht und Banales aus der
Bravo."
Dorothea Marcus
attestiert in der
taz immerhin eine "stimmige Bildergewaltigkeit", ging aber dennoch verärgert nach Hause angesichts dieser "
Anhäufung schwülstiger Klischees, die schon lange nicht mehr aufgedeckt werden müssen. Ärgerlich ist vor allem, dass hier an keiner Stelle gewagt wird, Gefühle oder Selbsterfahrenes ins Spiel zu bringen, dass er geradezu
zwanghaft zitiert, aber niemals etwas an sich heranlässt." Nur die bis zur Selbstverleugnung zurückgenommene
Birgit Minichmayr hat Sascha Westphal in der
Nachtkritik imponiert: "Sie ist die Hohepriesterin dieser Kunst-Messe, die vollkommen überladen ist und doch einer bizarren Form von Askese frönt."
"Bist Du wahnsinnig?": Zeit der Kannibalem am Theater Neumarkt. Foto: Judith Schlosser?Tollen Theaterstoff
sieht Daniele Muscionico in der
NZZ in der schwarzen
Consultant-Groteske um drei Super-Frequent-Flyer "Zeit der Kannibalen", die
Peter Kastenmüller für das Zürcher Theater Neumarkt adaptiert hat. Groß fand er auch den Schauspieler
Bernd Grawert: "Grawert zeigt, was Sprechkultur und Sprachkultur sein kann: die Inkorporation von Sound,
ein körperlicher Liebesakt mit dem Textkörper, eine Entäußerung in fremdartiger Schönheit. Grawert ist Sprache, isst Sprache, kaut sie, verdaut sie,
ein Sprech-Kannibale der höheren Art."
Weiteres: Als "solides Handwerk im allerbesten Sinne"
lobt Christian Wildhagen
Simon Stones Inszeneriung von
Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" am Theater Basel. Im
Tagesspiegel spricht Joachim Huber mit
Peter Simonischek. Ansonsten allgemeine, große Trauer: Nachrufe auf
Edward Albee schreiben Willi Winkler (
SZ), Katrin Bettina Müller (
taz), Judith von Sternburg (
FR) und Jordan Mejias (
FAZ). Und Hubert Spiegel (
FAZ), Christiane Peitz (
Tagesspiegel), Regine Sylvester (
Berliner Zeitung) und Daland Segler (
FR) schreiben zum Tod von Schauspieler
Hilmar Thate.
Besprochen werden
Karin Beiers "Hysteria" nach Bunuel am Hamburger Schauspielhaus (
nachtkritik), die
Pina-
Bausch-Ausstellung im
Gropiusbau in Berlin (
Tagesspiegel), die Uraufführung von
Ferdinand Schmalz' "Der thermale Widerstand" am Zürcher Schauspielhaus in der Inszenierung von
Barbara Falter (
nachtkritik),
Volker Brauns "Die Griechen" am Berliner Ensemble (
nachtkritik,
FR),
Simon Stones Inszenierung von
Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" in Basel (
SZ),
Roger Vontobels "Gilgamesh"-Inszenierung, mit dem das Düsseldorfer Schauspielhaus die Intendanz von
Wilfried Schulz eröffnet (
nachtkritik,
FAZ,
mehr dazu im Efeu vom Samstag) und
Sebastian Nüblings Verquickung von
Elfriede Jelineks "Wut" und
Simon Stephens' "Rage" am Hamburger Thalia (
nachtkritik,
Welt, Irene Bazinger bezeugt in der
FAZ eine "schweißtreibende, rhythmisch-gymnastische Inszenierung").
Musik, 19.09.2016
Nana Heymann von
ZeitOnline porträtiert die Berliner Nachwuchsband
Von Wegen Lisbeth.
Skug plaudert mit
Konstantin Wecker.
Besprochen werden eine Berliner Konzertaufführung von
Sergei Eisensteins "Iwan der Schreckliche" (
Tagesspiegel,
NMZ),
Julius Eastmans "Femenine" (
Pitchfork) und das neue Album von
How To Dress Well (
Spex).
Kunst, 19.09.2016
Während Fatih Akins Verfilmung von
Wolfgang Herrndorfs "Tschick" angelaufen ist, kann man immer noch im
Literaturhaus München eine Ausstellung mit Malerei und Zeichnungen des verstorbenen Autors sehen,
ruft Antje Stahl im
Art Magazin in Erinnerung. Wen diese Bilder nicht begeistern, der ist
ein Schwein, meint sie: "Das ist jetzt vielleicht keine elegante Überleitung. Aber Schweine gibt es im künstlerischen Werk des Schriftstellers wirklich sehr viele. Auf einem Bild etwa verschwindet ein rosa Schwein unter dem Rock einer Frau. Sie sitzt auf einem Gras bewachsenen Felsen, lehnt mit dem Rücken gegen einen Baum und macht mit ihrem grünen Filzhut offensichtlich eine
Verschnaufwanderpause. Unter ihr im Tal breitet sich ein grünes Flussbett aus. Und sie wirft mit dem Schwein zwischen ihren Beinen den Kopf so in den Nacken als erlebe sie gleich einen ganz tollen und
entspannenden Orgasmus."
Besprochen werden
Amelie von Wulffens Ausstellung in der
Galerie Barbara Weiss in Berlin (
taz),
Adam Jeppesens Fotoausstellung "Out of Camp" im
C/O Berlin (
Tagesspiegel),
Christian Jankowskis Ausstellung "Die Legende des Künstlers und andere Baustellen" im Berliner
Haus am Lützowplatz (
Tagesspiegel) und
Fiona Tans "Geografie der Zeit" im
MMK Frankfurt (
taz).
Literatur, 19.09.2016
Für das
Merkur-Blog haben Ekkehard Knörer und Samir Sellami César Aira
interviewt, der sehr ausführlich über sein Schreiben spricht: "Ich fange mit einer Idee, einem Paradox, etwas
Borgesianischem an:
einer irrationalen Logik oder etwas Seltsamen. Aber das ist natürlich erst ein Anfang und es stellt sich die Frage: Was mache ich jetzt? Denn mit der Idee kann ich etwas Witziges oder etwas Lyrisches machen, aber ich brauche etwas anderes, etwas Persönliches. Wenn ich bloß auf den Witz, auf das intellektuelle Spiel eingehe, habe ich das Gefühl, dass ich ein
Kreuzworträtsel mache: ohne eigenes Interesse. Ich brauche also beides: das intellektuelle Spiel und das Persönliche. Es ist ein Ausbalancieren zwischen dem schlichten Kreuzworträtsel und dem
Sentimentalen,
Pathetischen und Autobiografischen, das ich für sich genommen ja nicht so gerne mag.
In der
taz schreibt Jens Uthoff zum Abschluss des Internationalen Literaturfestivals in Berlin. Für die
Berliner Zeitung porträtiert Cornelia Geißler
Judith Kerr. Der dänische
Lyriker Yahya Hassan ist wegen Körperverletzung zu einer Haftstrafe verurteilt worden, meldet Matthias Hannemann in der
FAZ.
Besprochen werde
Gaito Gasdanows "Die Rückkehr des Buddha" (
SZ),
Christian Krachts "Die Toten" (
Jungle World),
Thomas Melles "Die Welt im Rücken" (
Tagesspiegel) sowie
Francois Durpaires und
Farid Boudjellals Comic "Die Präsidentin" (
Tagesspiegel).
Film, 19.09.2016
Barry Jenkins Film "Moonlight", adaptiert von Alvin McCraneys Theaterstück "In Moonlight Black Boys Look Blue"Beim
Filmfestival in Toronto haben Dominik Kamilzadeh im
Standard vor allem die Filme schwarzer Regisseure
beeindruckt, neben
Raoul Pecks Dokumentarfilm "I Am Not Your Negro" und
Nate Parkers Sklavereidrama "Birth of a Nation" besonders
Barry Jenkins' Coming-of-Age-Drama "Moonlight" über einen sensiblen Jungen, der sich gegen seine übermaskulinen Altersgenossen behaupten muss: "Jenkins greift ein
Repräsentationsdilemma auf, das gerade für die afroamerikanische Community eminent politisch ist. Doch 'Moonlight' ist kein Themenfilm, sondern genau das Gegenteil. Jenkins interessiert sich für Chirons Gefühlslagen, in denen subjektives Empfinden im Vordergrund steht, das Drängen eines Verlangens und der Sehnsucht, das er visuell souverän umzusetzen versteht. 'Moonlight' arbeitet damit auch gegen die blinden Flecken an, auf die 'I Am Not Your Negro' aufmerksam macht - den Mangel an repräsentativer Vielfalt, selbst im
Black Cinema."
In der
FAZ hebt Bert Rebhandl in seiner Toronto-Bilanz
Kenneth Lonergans Anmazon-Produktion "Manchester by the Sea" mit
Casey Affleck hervor: "Wenn nicht alles täuscht, kann man in 'Manchester by the Sea' auch schon ein Beispiel für einen Typus Spielfilm erkennen, der
an der Grenze zur Serie die Verdienste der in den 'writer's rooms' geschaffenen Erzählkultur für das Kino neu erschließt."
Szene aus Rudolf Thomes "Berlin Chamissoplatz".
Für die
Welt besucht Hanns-Georg Rodek den Regisseur
Rudolf Thome auf seinem Bauernhof in Niendorf (wo es kräftiger nach Schweinezucht riecht, als Serpil Turhans Filmporträt "Überall Blumen" vermuten lässt): "Ein Filmleben lang haben sich Thome und seine Figuren
auf ihre Inseln zurückgezogen, um sich selbst zu vergewissern. Es war
ein Kräftetanken, keine Resignation. Dies jedoch ist ein trauriger Moment, die Zwangspensionierung
eines Kinomonomanen, der das Gefühl hat, langsam aus dem Gedächtnis des Kinos zu verschwinden. Dem das Teichanlegen und das Schneeglöckchenverpflanzen bleiben.
Der Winter kommt."
Weiteres: Bei den
Emmys hat die
HBO-Serie "Game of Thrones" schon wieder groß abgeräumt,
berichtet unter anderem der
Guardian, demzufolge Moderator
Jimmy Kimmel den so
erklärte: "Television has the ability to make us
laugh and cry and, during certain key parts of
Game of Thrones,
masturbate."
Für die
SZ plaudert Johan Schloemann mit
John Cleese, der sich als
Brexit-Befürworter outet: "Kulturen sind einfach unterschiedlich, und das sollte auch so bleiben."
Besprochen werden
Bernd Michael Lades "Das Geständnis" (
FR) und
Oliver Stones Film über
Edward Snowden (
ZeitOnline).