Efeu - Die Kulturrundschau

Choreografie des eigentlichen Nichtstuns

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23.09.2016. Wehmütig, aber glücklich kommen die Kritiker aus Christoph Marthalers "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter", das die letzte Castorf-Saison an der Berliner Volksbühne einläutet. Die SZ ist gespannt auf die neben dem Heizkraftwerk Charlottenburg entstehende Werkbundstadt. Antoine Fuquas multiethnisches Westernspektakel "Die glorreichen Sieben" spaltet die Kritik. Und die NZZ beobachtet besorgt den Besucherrückgang bei Frankreichs Museen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.09.2016 finden Sie hier

Bühne


Musikerhumor: Christoph Marthalers "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter" an der Volksbühne (Foto: Walter Mair)

Christoph Marthaler bestreitet den Auftakt der letzten Castorf-Saison an der Volksbühne Berlin mit "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter", einem fernen Echo seines ersten, vor 23 Jahren am Haus inszenierten Stücks, des DDR-Abgesangs "Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!". Die Kritiker haben Freude an diesem Abend, der auch einen wehmütigen Abgesang auf die Ära Castorf darstellt, bevor Chris Dercon das Haus in einem Jahr übernimmt. Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung wähnt sich da im Museum: Lauter Exponate auf der Bühne! Tazlerin Katrina Bettina Müller sieht gar "eine Parodie auf die Verschränkung der Genres, Kunst, Theater und Tanz (...), wie sie zu Dercons Konzept gehören. Aber was für eine sanfte, federleichte Parodie ist das geworden, was für eine milde Melancholie waltet in allen Dingen. ... All diese Bilder von Trauer, Vergänglichkeit, von der Altersschwäche der Utopien, sind so genussvoll mottenzerfressen und mit dem Stoizismus der Clownerie inszeniert, dass man dauernd lachen muss. Vergänglichkeit und das Kriseln der Utopien waren Marthalers Thema schon seit jeher."

Auch Dirk Pilz (NZZ) meint einen Seitenhieb auf die drohende Entwicklung der Volksbühne herauszuhören: "Wenn zu Beginn Marc Bodnar auf Rollwagen Kisten hereinfährt, die Schauspieler aus Luftpolsterfolie wickelt und wie Statuen aufstellt, wenn Irm Hermann den Satz ruft: 'Ich hasse Wanderausstellungen!' - dann ist das ein mit grimmigem Gelächter genommenes Statement zu Dercon, der im Verdacht steht, die Volksbühne zum Museum fertigverpackter Kunstprodukte umzuwandeln."

Rüdger Schaper vom Tagesspiegel hat insbesondere am weitgehend schweigsamen Cast große Freude: "Sie existieren. Rasieren sich die Beine oder bohren ein Klavier auf, in dem eine kaputte Geige steckt und ein Würstchen mit Senf. Musikerhumor. In dieser zart gesponnenen Choreografie des eigentlichen Nichtstuns und der stilisierten Langeweile hob sich anfangs die Zeit als solche auf und nun auch so viel Volksbühnengeschichte."

FAZler Hubert Spiegel erlebte "ein wahres Theaterfest als Anfang vom Ende, keinen theatralischen Abschiedsfestakt." "Man tritt heraus, man ist selig" seufzt Hannah Lühmann in der Welt, und auch Peter Laudenbach von der SZ verließ das Haus high auf Wolke 7 nach dieser "besten legalen Glücksdroge, die derzeit zu haben ist. Wie schade - und was für eine Schande -, dass die Berliner Kulturpolitik das Theater, an dem solche Wunderwerke gedeihen, entsorgt."

Besprochen werden außerdem das beim Tanztreffen der Jugend in Berlin gezeigte Stück "course of life" des Duos The Two (taz), Anno Schreiers Oper "Hamlet" im Theater an der Wien (NZZ), Peter Lunds Inszenierung von Ralph Benatzkys Hollywood-Satire "Axel an der Himmelstür" an der Wiener Volksoper (Welt) und der Saisonauftakt der Oper Wuppertal mit einer von vier Regisseuren bestrittenen Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" (FAZ).
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Architektur

Neben dem Heizkraftwerk Charlottenburg in Berlin soll mit der Werkbundstadt in den kommenden Jahren ein völlig neues, von zahlreichen Architekten gestaltetes Quartier mit rund 1100 Wohnungen aus dem Boden gestampft werden, berichtet Jens Bisky in der SZ. "Das Vorhaben passt zu Berlin und zum Geist der Stunde. Man experimentiert mit dem Vokabular der Urbanität, ohne mit Nostalgie zu langweilen oder mit Avantgardismus zu ermüden. ... [Es] herrscht eine stilistische Vielfalt, wie man sie in klassischen Siedlungen, in Gated Communities oder in den in Berlin so beliebten historisierenden Gebäudezusammenballungen nicht findet, wie sie die Townhouses nur als Karikatur bieten. Grundrisse, Größen, Höhen sind verschieden, die Architekten haben ihre Eigenarten, Markenzeichen, Marotten beibehalten."

Beim SWR diskutieren Brigitte Schulte-Fortkamp, Thomas Kusitzky und Arno Lederer zum Thema "Die Stadt und der Klang: Verändert Architektur unser Hören?".
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Film


Mehr als ein Hauch von Westernkulissenstadtshow: Manuel Garcia-Rulfo und Chris Pratt in "Die glorreichen Sieben"

Neu im Kino ist dieser Woche auch Antoine Fuquas Westernremake "Die glorreichen Sieben". Karsten Munt von critic.de sieht das Westernkino von der (von "True Detective"-Drehbuchautor Nic Pizzolatto verantworteten) Präzision dieses Films "in eine neue Ära geballert." Denn "Fuqua zieht die Fäden der Genreklischees straff und lässt sie zu einem Showdown zusammenlaufen, der die nostalgische Western-Arithmetik mit dem tödlichen Algorithmus der Moderne konfrontiert."

Fuqua macht aus der heiklen Vorlage ein multiethnisches Spektakel, beobachtet Drehli Robnik von der Filmgazette, der den Film ansonsten locker aus der Hüfte heraus bespricht: "Mehr als ein Hauch von Westernkulissenstadtshow. Geht aber eh okay." David Assmann zeigt sich im Tagesspiegel wenig überzeugt: "Ein actionlastiger, stargespickter und ansonsten öder Western", der mit der Vorlage seines Erachtens nicht mehr viel am Cowboyhut hat. "In Hollywood [gilt] derzeit offenbar nur eines: Hauptsache, das neue große Ding hat irgendwo in der Filmgeschichte einen erfolgreichen Namensvetter."

Weiteres: Das deutsche Kino erhält derzeit von Regisseurinnen die meisten Impulse, schreibt Claudia Lenssen in epdFilm. Geri Krebs berichtet in der NZZ vom Filmfestival in San Sebastián. Für die Zeit spricht Katja Nicodemus mit Oliver Stone über dessen neuen Film "Snowden" (besprochen in der FAZ, der Filmgazette und bei uns) und über die aktuelle politische Situation in den USA.

Besprochen werden Lucie Borleteaus "Alice und das Meer" (FR, Filmgazette), Michael Madsens "The Visit" (Artechock), Mohamed Ben Attias "Hedis Hochzeit" (FAZ) und Anne Zohra Berracheds Schwangerschaftsdrama "24 Wochen" (Welt, SZ, unsere Kritik hier).
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Literatur

In der Presse berichtet Thomas Kramar vom "philosophisch-literarischen Vorabend", mit dem Michael Köhlmeier und Konrad Paul Liessmann das Philosophicum Lech eröffneten. Der Bayerische Rundfunk bringt in seinem Nachtstudio drei Essays von Teju Cole zum Nachhören.

Besprochen wird unter anderem Paula Fürstenbergs Debüt "Familie der geflügelten Tiger" (ZeitOnline). Mehr in Lit21, unserem Metablog zur literarischen Blogosphäre.
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Musik

Besprochen werden das Album "Welt in Klammern" von All Diese Gewalt (Spex), die Ausstellung "Björk Digital" im Somerset House in London (Tagesspiegel), das von Jonas Engelmann herausgegebende Buch "Damaged Goods - 150 Einträge in die Punk-Geschichte" (taz), Stian Westerhus' Album "Amputation" (taz), Jim Krofts "Journeys #3" (taz) und ein Konzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Kirill Petrenko (FR).
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Kunst


Ernst Ludwig Kirchner "Potsdamer Platz", 1914 (© bpk / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jörg P. Anders)

"Was hätte aus ihm und dem Expressionismus werden können, wäre nicht der Bruch durch das 'Dritte Reich' eingetreten?", fragt sich Nicola Kühn (Tagesspiegel) bei der Ausstellung "Hieroglyphen" mit Bildern Ernst Ludwig Kirchners im Hamburger Bahnhof. "Die nun ausgebreitete Kirchner-Suite der Nationalgalerie führt von heiteren Urlaubsbildern aus Fehmarn über hektisch gezackte Großstadtszenen und melancholische Porträts zu den flächigen Stillleben der Spätzeit, in denen die Suche nach einer neuen Form, einer Fortführung des Expressionismus mit anderen Mitteln, greifbar wird. Die Entwicklungskurve knickt bei allen Avantgardekünstlern, die Zäsur von 1933 schlägt sich auf Kunst und Leben nieder, bei Kirchner besonders tragisch." (Eine weitere Besprechung gibt es im Tagesspiegel.)

Frankreichs Museen haben in diesem Jahr einen dramatischen Besucherrückgang erlebt, meldet Marc Zitzmann in der NZZ und fürchtet für einige Häuser verheerende Konsequenzen: "Wie andere Kulturinstitutionen auch müssen Frankreichs Museen seit Jahren den Gürtel enger schnallen. Viele haben keine Marge mehr und müssten, falls die Erträge dauerhaft sinken, an die Substanz gehen: das Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm ausdünnen, die ohnehin niedrigen Ankaufsbudgets kürzen, auf Bauarbeiten verzichten, die Eintrittspreise erhöhen, Personal abbauen." Es gibt jedoch auch gute Nachrichten: "Provinzstädte, die Touristen als 'sicher' einstufen, verzeichnen sogar Zuwächse."

Für die FAZ trifft sich Gina Thomas mit Edmund de Waal, der nach seinem Bestseller "Der Hase mit den Bernsteinaugen" nun ein Buch über Porzellan geschrieben hat.

Besprochen werden die Ausstellung "Fremde Götter" im Wiener Leopoldmuseum (Presse), Gordon Parks' Fotoausstellung im C/O Berlin (critic.de) und die Ausstellung "Grisaille" von Gert und Uwe Tobias in der Graphischen Sammlung München (FAZ).
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Design

Designer haben heute keine radikalen Ideen mehr, behaupten die amerikanischen Kuratoren der Istanbul Design Biennale 2016, Beatriz Colomina und Mark Wigley, im Interview mit Dezeen. "Man muss sich nur die meisten Design-Ausstellungen und Biennalen ansehen, meint Wigley. 'Sie gleichen Verkaufsschauen', sagt er. 'Biennalen versichern der Welt heute nur noch, dass alles okay ist und es immer weiter Design gibt, aber sie laden nicht mehr zum Denken ein.' Als Antwort hat das Ehepaar die Istanbul Design Biennale, die nächsten Monat startet, als 'einen Angriff auf gutes Design' geplant. Sie wollen die Arbeit von Wissenschaftlern, Historikern, Archäologen und Künstlern präsentieren um herauszufinden, ob Design als Industrie nicht ehrgeiziger sein könnte."
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