Efeu - Die Kulturrundschau

Die mörderischen Engel, die Nachtfalter, die Orchideen

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24.09.2016. Die NZZ bewundert die prächtigen Frisuren auf den Frauenbildern Itô Shinsuis. Die Welt irrt durch eine jede Erklärung verweigernde Kai-Althoff-Ausstellung im Moma. Die FAZ feiert die Schauspielerin Ariane Labed als neue Charlotte Rampling. Feudalismus im Theater? In der SZ weist der Münchner Intendant Sebastian Huber alle Vorwürfe zurück und empfiehlt den Ensemble-Schauspielern: Seid froh, dass ihr nicht als Freie arbeiten müsst. Die NZZ rollt für ihren Architekturschwerpunkt ins neue Glass Art Museum in Toyama.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.09.2016 finden Sie hier

Kunst

Itō Shinsui: Itō Shinsui: Haare, Farbholzdruck, Japan 1952. (Bild: Courtesy Taiyo no Hikari Foundation, Japan)
Die Frisur war in Japan lange mehr als einfach eine Haartracht: sie gab Auskunft über Alter, sozialen Stand, Status, erklärt Philipp Meier in einem wunderbaren NZZ-Artikel anlässlich einer Ausstellung des japanischen Künstlers Itô Shinsui im Museum Rietberg. Und darum spielen Haare bei Shinsui, der sich "der Darstellung schöner Frauen" widmete, eine so große Rolle: "In diesem traditionellen Genre dreht sich eigentlich alles um das weibliche Kopfhaar. In einer Kultur, die den Körper unter Stoffbahnen weitgehend zum Verschwinden zu bringen tendierte, galt das Haar lange als das wichtigste Attribut von Weiblichkeit. In seinem Tiefschwarz ist es das markanteste Bildelement in japanischen Frauendarstellungen. Es rahmt das Weiß des Gesichts und kontrastiert mit dem Rot der Lippen. Es hat die Farbe der Tusche und korrespondiert mit dem Schwarz von Inschrift und Kalligrafie. Allein in den wunderbaren Farbholzschnitten Itō Shinsuis, wie sie jetzt im Museum Rietberg gezeigt werden, gilt neben den Stoffmustern der Kimonos oft die ganze Aufmerksamkeit des Meisters der Gestaltung der Haare."

Keine Erklärung, keine Schilder. Hannes Stein irrt leicht verstört durch die Kai-Althoff-Ausstellung im Moma und ist mit seiner Verwirrung nicht allein, erzählt er in der Welt: "Walter Benjamin sprach davon, dass sich in den Blicken der Besucher einer Ausstellung häufig Enttäuschung darüber spiegle, dass dort nur Bilder hängen. In den Blicken der Besucher dieser Ausstellung spiegelt sich vor allem eines: Verwirrung. Sie hätten gern einen Menschen, der ihnen erklärt, was etwa die Stoffpuppe da hinten zu bedeuten hat. Oder warum auf dieser Glasplatte da vorn ein Männchen in meditierender Haltung sitzt, auf das verschiedene Wollfäden zulaufen. Aber Kai Althoff will das nicht."

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Christiane Meixner von ihrem Treffen mit Bonaventure Ndikung, der in Berlin unter prekären Bedingungen den Projektraum Savvy Contemporary betreibt.

Besprochen werden eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin zur Kulturgeschichte des Golems (taz, Tagesspiegel), die Ausstellung "Kommen und Gehen" im Museum Giersch in Frankfurt (FR), die Ernst-Ludwig-Kirchner-Schau im Hamburger Bahnhof in Berlin (Berliner Zeitung) und Halil Altinderes Ausstellung "Space Refugee" im Neuen Berliner Kunstverein (FAZ).
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Film


Weltklasse: Die Schauspielerin Ariane Labed in "Alice und das Meer".

"Unter den Neuentdeckungen im europäischen Kino der letzten Jahre ist die französisch-griechische Schauspielerin Ariane Labed eine der erstaunlichsten", stellt FAZler Andreas Kilb in einem als Besprechung von Lucie Borleteaus "Alice und das Meer" getarnten Liebesbrief fest: "Wenn man sie spielen sieht, fragt man sich, wie lang es noch dauert, bis ihr jemand die Art von Rollen schreibt, mit denen Charlotte Rampling damals berühmt wurde, die mörderischen Engel, die Nachtfalter, die Orchideen. ... Vielleicht braucht auch Ariane Labed einen Regisseur wie Rohmer, damit sie sich endlich auf dem weiten Ozean des Weltkinos einschiffen kann. Weltklasse ist sie schon jetzt."

Weiteres: In der SZ gratuliert David Steinitz Uschi Obermaier zum Siebzigsten. Hier eine Szene aus Rudolf Thomes "Rote Sonne":



Besprochen werden Oliver Stones "Snowden" (Freitag, unsere Kritik hier), Mohamed Ben Attias "Hedis Welt" (Tagesspiegel), die US-Komödie "Bad Moms" (epdFilm, SZ) und Antoine Fuquas Remake von "Die glorreichen Sieben" (FAZ, weitere Kritiken im gestrigen Efeu).
Archiv: Film

Literatur

Die großen zeithistorischen Stoffe  - Nazizeit, DDR und Wende - sind für die Literatur erschöpft. Die Autoren und Leser suchen eine neue Authentizität des Selbsterlebten, meint Richard Kämmerlings in der Welt, der Benjamin Stuckrad-Barres "Panikherz" und Thomas Melles Buchpreiskandidaten "Die Welt im Rücken" als Beispiele nimmt. "'Je weiter ich mich der Gegenwart nähere, desto schwieriger wird es, von diesen Dingen zu erzählen', so schreibt Thomas Melle einmal und erläutert: 'Knausgard, unser aller Pin-und-Pop-up-Boy, dem ich im Übrigen kein einziges Wort glaube, meint, es dauere zehn Jahre, bis man über Erlebtes schreiben kann.' Interessant, dass ausgerechnet Melle seinem Kollegen die Authentizitätsbehauptung nicht abnimmt." Zuvor veröffentlichte Tell einen thematisch verwandten Essay von Samuel Hamen.

Das Vorhaben der Robert-Bosch-Stiftung, den an deutschsprachige Autoren mit Migrationshintergrund verliehenen  Adelbert-von-Chamisso-Preis nach 2017 nicht mehr zu vergeben, da migrantisch geprägte Schriftsteller im Betrieb etabliert seien, stößt weiterhin auf Entsetzen. In der FR berichtet der Schriftsteller Artur Becker, Preisträger aus dem Jahr 2009, von einem "bitteren Nachgeschmack" dieser Meldung": "Nach 32 Jahren hat es sich also ausgespielt, die Migrationsautoren haben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mit ihren Büchern alles, was sie nur stehlen konnten - Sprache, Identität usw. -, zurückgegeben."

Auch Tazler Jörg Sundermeier ist erbost: Mit ihrer Begründung würdige die Stiftung bisherige Preisträger herab und insinuiere, dass ihre literarischen Leistungen in anderen Preiszusammenhängen bislang nicht würdig gewesen seien. Und damit sei "der Preis nachhaltig beschädigt, da er laut Stiftung ein Hätschelpreis für arme Autorenküken gewesen ist. So zeigt sich, dass die Bosch-Stiftung nie verstanden hat, um wessen Integration es eigentlich ging: Es ging immer darum, Deutsch endlich in einer weltoffenen Literatur ankommen zu lassen." Vielleicht ist das ja auch einfach passiert?

Weiteres: Paul Jandl besucht für die Welt die Autorin Terezia Mora und spricht mit ihr über die Fremdenfeindlichkeit in Ungarn und ihren neuen Erzählband. Die Schriftstellerin Cornelia Travnicek berichtet in der taz von ihrem Besuch beim Internationalen Jingdu Jurten-Forum für Poesie in Westchina. Auf Tell unterzieht Sieglinde Geisel Paul McVeighs "Guter Junge" ihrem berüchtigten Page-99-Test. In der Welt schreibt Christoph Stölzl eine Hymne auf das von Reinhard Klimmt und Patrick Rössler herausgegebene Kompendium zu Taschenbuchcovern der 50er.

Besprochen werden unter anderem John le Carrés Autobiografie "Der Taubentunnel" (Perlentaucher), Lauren Groffs "Licht und Zorn" (taz), Friedrich Anis "Nackter Mann, der brennt" (FR), John Williams' "Augustus" (SZ, FAZ), der zweite Band zu Edward Timms Studie über Karl Kraus (FAZ) und Joanne K. Rowlings Fortsetzung der "Harry Potter"-Reihe mit dem heute auf Deutsch veröffentlichten Theaterstück "Harry Potter und das verwunschene Kind" (FAZ). Mehr auf Lit21, unserem Metablog zur literarischen Blogosphäre.

EinsLive bringt außerdem den ersten von zwei Teilen einer Hörspielbearbeitung von Philipp Winklers für den Deutschen Buchpreis nominierten Debütroman "Hool".
Archiv: Literatur

Bühne

In der gärenden Debatte um mehr Mitbestimmungsrecht der Ensembles und deren prinzipielle Rolle an den Stadt- und Staatstheatern meldet sich in der SZ Sebastian Huber, stellvertretender Intendant am Münchner Residenztheater, zu Wort. Feudalistische Zustände? Unsinn, meint er, verglichen mit Freien gehts den fest angestellten Schauspielern doch gut, behauptet er mit Verweis auf die Studie "Faire Arbeitsbedingungen in den darstellenden Künsten und der Musik?!". Und auch beim Mitspracherecht seien deutsche Schauspieler ganz weit vorn, verglichen mit Theatern im Rest Europas: "Ausländische Regisseure sind häufig verwundert (und erschrecken mitunter) über die Autonomie und den selbstverständlichen Anspruch an Mitsprache, die deutsche Schauspieler in den künstlerischen Prozess zu tragen gewohnt sind. Ihr Ethos, ihre Talente, ihre Bereitschaft tragen das Theater. Die materielle Basis dafür muss immer wieder neu geschaffen werden. Letztlich geht es um den Preis, den eine Gesellschaft bereit ist, für künstlerische Arbeit zu entrichten. Der wird nicht zwischen Intendanten und Schauspielern ausgehandelt."

Dirk Pilz schreibt in der NZZ über die letzte Saison des dauerschimpfenden Claus Peymann am Berliner Ensemble. So sehr im der auf die Nerven geht, mit seinen höchsten Ansprüchen an andere, die er selbst nicht erfüllen kann, so gut hat ihm die Uraufführung von Volker Brauns Stück "Die Griechen" gefallen, das Manfred Karge gekürzt und inszeniert hat: "Aber auch in Karges konzentrierter Strichfassung bleibt dies ein scharfes Stück politische Literatur, das etwas Seltenes vermag: den hohen Ton mit harten Wahrheiten vereinen, den Kalauer mit den Katastrophen, den Einspruch wider die Gegenwart mit der Erinnerung an ihre Herkunft. Die linke Hand dieses Textes winkt zu Elfriede Jelinek hinüber, die rechte zu Aischylos, Euripides." Zynisch findet Sophie Diesselhorst dagegen in der nachtkritik die Inszenierung.

Weiteres: Die FAZ dokumentiert Peter-André Alts Laudatio auf den pensionierten FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier, der vor wenigen Tagen mit dem Deutschen Sprachpreis ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Ulrich Rasches "überwältigende" Inszenierung der "Räuber" am Münchner Residenztheater (nachtkritik), Thom Luz' "poetisch-musikalischer Theaterabend" nach Max Frisch am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik), Stefan Bachmanns Inszenierung des "Hamlet" am Kölner Schauspiel (nachtkritik), die Uraufführung von Joshua Sobols Schauspiel "Blutgeld - Adenauers Weg" an den Schauspielbühnen in Stuttgart (nachtkritik) und Ivo van Hoves Ruhrtriennale-Inszenierung von Louis Couperus' "Die Dinge, die vorübergehen" (FAZ, Deutschlandfunk).
Archiv: Bühne

Architektur


Ein Blick in den Lichthof von Kengo Kumas Glass Art Museum in Toyoma. Foto: Kengo Kuma

Die NZZ hat heute einen Architekturschwerpunkt. Paul Andreas stellt zwei neue Museumsbauten in Japan vor: das vom späteren Pritzkerpreisträger Shigeru Ban erbaute Oita Prefectural Art Museum (Bilder bei Dezeen) und das von Kengo Kuma entworfene, mit seinen Rolltreppen an ein Kaufhaus erinnerndes Glass Art Museum in Toyama, das ihn besonders mit der geschickten Einsetzung seines Kunstlichts beeindruckt hat. Etwa im fünften Stock, "wo der Architekt den 'Glass Art Garden' des bekannten US-Glaskünstlers Dale Chihuly mit viel Kunstlicht und absorbierendem Schwarz als Hintergrund in eine surreal illuminierte Traumlandschaft verwandelt hat. Alle weiteren Galerieräume, in denen die seit 1963 zunächst als Schausammlung für die lokale Glasindustrie zusammengetragene und dann sukzessive zur städtischen Glaskunst-Sammlung erweiterte Kollektion, aber auch Wechselausstellungen präsentiert werden, verteilen sich auf die darunterliegenden drei Etagen."

Außerdem in der NZZ: Jürgen Tietz berichtet über den Museumsboom in China, der vor allem die kulturelle Identität sichern soll - und das nicht nur in den Metropolen, wie "das zauberhafte kleine Papiermuseum in der Provinz Yunnan" zeigt, so Tietz: "Im Dorf Xinzhuang wird seit Jahrhunderten die Kunst der Papierproduktion gepflegt und von Generation zu Generation weitergereicht." Im modernen Kunstmuseum in Europa, meint Vittorio Magnago Lampugnani, ist die Kunst nur noch Nebensache, es ist heute vor allem eine Spielwiese der Architekten - von Gehry bis Zumthor: "Es dient in erster Linie der autoreferenziellen Darstellung eines neuen, anderen Stils. Die gleiche Selbstverliebtheit, die gleiche Zudringlichkeit, vor allem die gleiche Gleichgültigkeit gegenüber der tieferen Problematik der Bauaufgabe sind lediglich anders eingekleidet." Roman Hollenstein beklagt den äußerst schroffen Erweiterungsbau des spätklassizistischen Zürcher Landesmuseums: "Vom einstmals zum Platzspitz hin offenen Schlosshof blickt man nun auf eine ebenso enigmatische wie maßstabslose Betonskulptur." Und Adi Kälin freut sich, dass Santiago Calatrava in Zürich ein Geschäftshaus für die Versicherung Axa Winterthur bauen wird.

Die Werkbundstadt, die bis 2020 als von zahlreichen Architekten in gemeinsamer Absprache entworfenes Quartier in Berlin-Charlottenburg entstehen soll, trifft auch auf Michael Mönningers Interesse. Für ihn ist dieses Projekt "gleichermaßen interessant wie tendenziell illusorisch", schreibt er in der FAZ. Insbesondere spannend ist seiner Ansicht nach Arno Lederers Entwurf der für gemeinschaftliche Nutzungen vorgesehenen "hängenden Dachgärten". Mönninger sieht darin die Möglichkeit zur "Initialzündung für einen vertikalen Urbanismus, der den Bürgern die Lufthoheit über ihre Städte erschließt. Gerade in Berlin gibt es das endlose Elend der Dachlandschaften, die quadratkilometerweise ungenutzt vor sich hin dämmern; sie werden von kurzsichtigen Bezirksverwaltungen unter Denkmal- und Milieuschutz gestellt, um allen Lippenbekenntnisse zur weltoffenen Hauptstadt zum Trotz die Unterbringung von Neubürgern zu bremsen." Mehr zur Werkbundstadt im gestrigen Efeu.
Archiv: Architektur

Musik

In Stuttgart hat das neue Orchester des SWRs sein erstes Konzert nach seiner umstrittenen Fusion gegeben. Michael Stallknecht von der SZ ist vom Ergebnis noch nicht überzeugt: "Besonders homogen klingt das neue Orchester nicht, das Klangbild ist auffallend neutral. Zwar spielen die einzelnen Orchestergruppen äußerst präzise. Doch es mangelt an der Abstimmung, Streicher und Bläser scheinen noch kaum aufeinander zu hören. Wichtiger als die Präzision ist in einem Orchester das Vertrauen zu den Kollegen und in ein gemeinsames Klangideal. Das wächst über die Jahre. In diesem Orchester aber können sich die Musiker nur auf Dirigent Eötvös verlassen, der deshalb übergenau taktiert. Aber noch atmen sie nicht miteinander." Hier eine Aufnahme.
  
Julian Weber hebt im taz-Gespräch mit Devendra Banhart die Sanftheit hervor, die das neue Album "Ape in Black Marple" des Singer-Songwriters austrahlt. Der sieht das etwas anders: "Verglichen mit dem, was ich für sanft halte, ist mein neues Album reinstes Berghain." Sein guter Vorsatz daher: "Musik komponieren, die pure Nachhaltigkeit ist und bar jeder Aggression. Sanftheit ist ein relativer Begriff. Für mich klingt 'Ape in Pink Marble' wie Industrial-Noise."

Weiteres: In der Spex schreibt Holger Hiller über Aspekte der Melancholie in David Bowies Spätwerk. Michael Marek zeichnet im Freitag ein Stimmungsbild von der Stadt Seattle, die noch immer vom Nirvana-Mythos zehrt (welcher wiederum heute vor 25 Jahren mit der Veröffentlichung des Durchbruchalbums "Nevermind" begründet wurde). Für die SZ trifft sich Juliane Liebert mit dem Organiste Cameron Carpenter. Julia Spinola gratuliert in der NZZ dem Schweizer Dirigenten Charles Dutoit zum Achtzigsten. In der FAZ resümiert Isabel Herzfeld das Musikfest Erzgebirge.

Besprochen werden das Album "Weekend Love" der kalifornischen Band Monotales (NZZ), das Album "I Had a Dream That You Were Mine" von Hamilton Leithauser und Rostam Batmanglij (Pitchfork), Mykki Blancos "Mykki" (Pitchfork), Ray Charles' "The Atlantic Years: In Mono" (The Quietus), Susanne Regina Meures' Kinodokumentarfilm "Raving Iran" (Jungle World) und ein Konzert von Freakwater (Tagesspiegel).
Archiv: Musik