Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht schön genug für Hollywood

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30.09.2016. Ausgerechnet analoge Wärme findet die taz auf dem Berliner Maschinenmusik-Festival "Wir sind die Roboter". Der Tagesspiegel lässt sich dagegen vom liebeskranken Roboter Bon Iver zu Tränen rühren. Alles in allem ziemlich retro finden die Kritiker Katie Mitchells Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Schatten (Eurydike sagt)" an der Berliner Schaubühne. Norman Manea schildert in der Presse seine Exilerfahrung. Und die FR lernt auf der neuen Städel-Website den kunstpädagogischen Mehrwert effizient genutzter Museumswände schätzen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.09.2016 finden Sie hier

Kunst


Virtuell rekonstruiert: Blick ins erste Städel Museum im Palais an der Neuen Mainzer Straße von 1833 (Foto: Städel Museum)

Mit einer neuen App und einer eigens eingerichteten Website kann man jetzt durch das Städel im Laufe der Zeit lustwandeln, berichtet Monika Gemmer in der FR. Diese Zeitreise gestatte auch "eine Reise durch die Geschichte der Kunstbetrachtung. Die so genannte Petersburger Hängung, bei der die Räume von Bildern geradezu tapeziert sind, zieht sich durch alle drei historischen Standorte. Was aus heutiger Sicht wie eine willkürliche, allenfalls von Bildgrößen und -formaten diktierte Anordnung aussieht, die jeden Winkel der Wand ausnutzen will, galt bis ins beginnende 20. Jahrhundert als 'Königsweg' der Kunstvermittlung. Bei dieser barocken Hängung seien die Gemälde an der mittleren Raumachse ausgerichtet, erläutert Städel-Vizechef Sander. 'Sie bilden ein achsensymmetrisches Muster, das sich über die Werke legt. Gemälde, die spiegelbildlich positioniert waren, bildeten Pendants und schulten das vergleichende Sehen.'" In der FAZ sprechen Rose-Maria Gropp und Jürgen Kaube mit Philipp Demandt, dem neuen Direktor des Städels, mehr bei 9punkt.

Besprochen wird die Hergé-Ausstellung im Grand Palais (FAZ) und die Ausstellung "Inszeniert!" in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München mit Highlights aus der Sammlung Goetz (NZZ).
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Film

Besprochen werden Todd Phillips' Buddy-Komödie "War Dogs" (Tagesspiegel, Presse, Standard), die "Nemo"-Sequel "Findet Dorie" (Welt, Tages-Anzeiger, Standard), der Erwachsenen-Animationsfilm "Sausage Party" von Seth Rogen (Jungle World) und François Ozons "Frantz" (SZ, unsere Kritik hier).
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Literatur

Im Interview mit Norbert Mayer (Presse) spricht der Schriftsteller Norman Manea über seinen Essayband "Wir sind alle im Exil" und seine eigene Exilerfahrung: "Als ich 1986 Rumänien verlassen habe, hat man mir einen Pass gegeben. Aber ich verspürte zugleich das Gefühl, dass man mir die Zunge abgeschnitten hatte. Zuvor durfte ich nicht sagen, was ich dachte, weil das KP-Regime es verbot, dann gab es die Freiheit, aber ich hatte nicht die Sprache, das im Exil auszudrücken. Das war am Anfang frustrierend. Ich fühlte mich völlig verlassen, verloren, war ein unbekannter rumänischer Autor. Ich war nicht schön genug für Hollywood, was also sollte ich tun?" Manea hat jedoch Glück: "Ich bin kein Optimist. Das ist ein großer Vorteil. Pessimisten können sich zumindest positiv überraschen lassen."

In der FAZ referiert Tilmann Lahme die Geschichte der Mann-Villa in Los Angeles, die die Bundesregierung nun erwerben will, um ihren Abriss zu verhindern. In der SZ verabschiedet sich Lothar Müller von Michael Knoche, der als Direktor der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar in den Ruhestand geht.

Besprochen werden unter anderem Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" (Jungle World), Bruce Springsteens Autobiografie (Tages-Anzeiger) und Henning Mankells postum veröffentlichter Roman "Die schwedischen Gummistiefel" (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf:

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Design

Für die taz besucht Markus Weckesser die Willy Fleckhaus gewidmete Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst in Köln.


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Bühne


Wie üblich mit viel Videotechnik: "Schatten (Eurydike sagt)" (Foto: Gianmarco Bresadola)

An der Berliner Schaubühne hat Katie Mitchell das Stück "Schatten (Eurydike sagt)" von Elfriede Jelinek inszeniert. Die Kritikerinnen bleiben jedoch deutlich unterwältigt. "Die Konflikte und Rollenbilder, die hier zu sehen sind, sind ziemlich retro", merkt Mounia Meiborg in der SZ an. Dafür verantwortlich macht sie Mitchells narrative Anreicherung von Jelineks abstrakt gehaltener Vorlage: "Alles Sperrige und Unappetitliche ist eliminiert. Aus der Dauerschleife wird ein ästhetisiertes Drama um die leidende Frau," womit sich Mitchell, die auch hier wieder, wie üblich, mit viel Videotechnik hantiert, eine handfeste Preisgabe leistet, wie die Kritikerin meint: Die Regisseurin, "die sich als Feministin versteht, bestätigt ein altes patriarchales Gesetz: Die leidende Frau ist immer noch die beste."

Tazlerin Barbara Behrendt sah eine "individualpsychologischen Fallstudie einer depressiven Frau" - und das vor allem auf dem Bildschirm, denn Mitchells Videostrategien laufen dem Geschehen auf der Bühne endgültig den Rang ab: "Auf der Bühne [gibt es] nichts, wodurch man eine zusätzliche Perspektive auf den Abend gewönne. Mitchells Regiehandschrift ist wie eine Folie, die sie über den Stoff stülpt - kein Mehrwert, nirgends. ... Die schlichte lineare Abfolge, in die Mitchell die überbordende, immer ins Gesellschaftskritische ausgreifende Gedankenflut der Jelinek einpresst und zu einer Film-Story und düsteren Psycho­studie verengt, lässt den Abend eindimensional und monoton erscheinen." Auch Dirk Pilz von der Berliner Zeitung winkt ab: "Alles wirkt wie in drollig naiven Realismus gewickelt... Leere Betriebsamkeit, sonst nichts. Ist es das, was dieser Abend will: die Leere ausstellen?"

Nur noch genervt ist Christiane Peitz vom Berliner Theaterkampf, nachdem Protagonisten des Castorf-Lagers nun eine "wahre Volksbühne" nach Vorbild eines Wanderzirkus gefordert haben (siehe Efeu von gestern): Die Auseinandersetzungen nehmen "kein Ende", schreibt sie im Tagesspiegel. "Die Zentrifugalkräfte sorgen für Wirbelstürme, aggressive Attacken, kleine und große Fluchten und noch größeren Unsinn. Da wird Dercon unterstellt, dass er nur noch das internationale Publikum im Visier habe - weshalb er zum Totengräber des deutschsprachigen Sprechtheaters dämonisiert wird. Und da gießt Noch-Kulturstaatssekretär Tim Renner unbedacht Öl ins Feuer, wenn er Dercon im taz-Interview mit der Falschaussage verteidigt, der Museumsmacher habe bereits vor der Volksbühne mit Christoph Schlingensief gearbeitet. Dumm gelaufen." Dazu passend kommt diese dpa-Meldung: Herbert Fritsch werde nach Castorfs Weggang von der Volksbühne an die Schaubühne wechseln.

Weiteres: Die Opernwelt hat die Ergebnisse ihrer Kritikerumfrage veröffentlicht: Die Oper Stuttgart ist das Opernhaus des Jahres, Barrie Kosky der Regisseur des Jahres - Gratulation.

Besprochen wird Brandt Brauer Fricks und Martin Butlers Oper "Gianni" an der Deutschen Oper in Berlin (Berliner Zeitung) und Herbert Fritschs "Freischütz" am Zürcher Opernhaus (Welt).
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Architektur

Für den Tagesspiegel bespricht Rolf Brockschmidt die Ausstellung "Die Ruinen von Kočo - Spuren von Holzarchitektur der alten Seidenstraße" im Museum für Asiatische Kunst in Berlin.
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Musik

Was richtet der Erfolg nur an? Auch Justin Vernon, der Mann hinter dem Indie-Projekt Bon Iver, zählt jetzt zu den Musikern, die aus einer depressionsbedingt vieljährigen Auszeit heraus zum Comeback ansetzen. Genaueres weiß Max Fellmann von der SZ, der sogar von einsamen, ratlosen Strandspaziergängen des Künstlers berichten kann. Vernons eskalierende Flirts mit der Elektronik lassen ihn allerdings zunächst um die Intaktheit seines Abspielequipments fürchten, schließlich findet er sie bloß "durchwachsen": Das Album klinge, "als würde jemand probieren, was sich mit einem Sampler so anstellen lässt. Tastend, suchend. Das Gegenteil eines beherzten Auftritts. Dann setzt Vernons Falsett ein, zum Chor verdoppelt, verdreifacht, wehmütig. Alles vertraut, für einen Augenblick - aber das Stück bricht nach einer Strophe wieder ab, zerfällt, mäandert, blutet aus. ... Das Problem ist: Wenn einer ununterbrochen Haken schlägt, werden die Haken erwartbar."

Nadine Lange vom Tagesspiegel staunt über Vernons Konzept, "einer Art futuristischem Soul-Ansatz": "Größte Innerlichkeit durch extreme Künstlichkeit. Auf die Spitze treibt er es in der Autotune-A-capella-Nummer '715 Creeks', die so klingt, als weine ein liebeskranker Roboter sich am Flussufer die Augen aus dem Blechschädel. Absolut anrührend." Und für Markus Schneider von der Berliner Zeitung ist diese Platte zweifelsohne eine der wichtigten des Jahres: "Unfassbar und großartig und schön, wie dieser Künstler den wärmsten und menschlichsten Ausdruck im Quäken des Computers findet." Guia Cortassa von The Quietus fühlt sich unterdessen an ihre Deleuze/Guattari-Lektüren erinnert. Und im New Yorker seziert Hua Hsu die neue Stimme Justin Vernons. Kurz: Das ist eine Hörprobe wert.



Von weiteren rührenden Maschinen weiß Juliane Lorenz zu berichten: In Berlin findet derzeit nämlich das Maschinenmusik-Festival "Wir sind die Roboter" statt, weshalb sich die taz-Autorin in die Bastelwerkstatt der Macher begeben hat. Ist mit Robotern wie aus dem Science-Fiction-Kino auf der Bühne zu rechnen? Mitnichten. "Die Musikroboter von Gamut Inc sind nicht humanoid, und auch auf ihrem Festival soll es menschenähnliche Roboter nicht zu sehen geben. Mit ihren Schrauben, wirren Kabeln und bunten Drähten geht von Robotern des Ensembles eher eine Art analoge Wärme aus. Und tatsächlich sind Maschinen näher an 'alter' Musik als an den Musikprogrammen der TechnoproduzentInnen: Die Hauptquelle ihres mal außerirdisch-sphärischen, mal harschen Surrens, Flirrens und Pfeifens ist kein Lautsprecher. Wörle und Śledziecki steuern die Instrumente per Computer; Mikrofone nehmen den Klang der Maschinen ab, anschließend wird das akustische Signal zurück in den Computer gejagt."

Weiteres: Tazler Julian Weber hört beim Meakusma-Festival nicht nur nachts die Hirsche im Wald röhren, sondern auch umwerfende Auftritte von unter anderem Hans W. Koch, Dirk Specht und Markus Schmickler. In der taz stellt Lorina Speder Patrick Wagners neue Band Gewalt vor. Immer mehr große Orchester - und jetzt auch die Münchner Philharmoniker - gründen eigene CD-Labels, schreibt Michael Stallknecht in der SZ. Sven Goldmann und Michael Rosentritt plaudern für den Tagesspiegel mit Maschine von den Puhdys. In der NZZ berichtet Thomas Schacher vom Festival Alte Musik Zürich. Und ein kleiner pophistorischer Leckerbissen: Im Tagesspiegel erinnern sich Olaf Kretschmann und Marco Birkner daran, wie sie Ende der 80er unter abenteuerlichen Bedingungen Electric Beat Crew auf die Beine stellten und damit die erste HipHop-Band der DDR. Hier eine Aufnahme, produziert und veröffentlicht vom Staatslabel Amiga:



Besprochen werden eine Aufführung von Beethovens "Missa Solemnis" durch das Rundfunksinfonieorchester unter Marek Janowski (Tagesspiegel), Nikolas Jaars neues Album "Sirens" (Pitchfork), das neue Album von Michael Wollny und Vincent Peirani (Tagesspiegel), ein Strauss- und Mahler-Konzert des Orchesters Junge Sinfonie Berlin (Tagesspiegel) und der Dokumentarfilm "Raving Iran" (ZeitOnline, FAZ).
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