Efeu - Die Kulturrundschau

Man stirbt irgendwann

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2016. In der NZZ überlegen Raoul Schrott und Gerd Folkers, was sich Naturwissenschaftler und Künstler heute zu sagen haben. Die taz erforscht, wie schwer es Schriftsteller heute haben. Die NYRB stellt den Fotografen Ruddy Roye vor und seine Bilder des schwarzen Protests. In der Berliner Zeitung gibt Manuela Kay Tipps fürs kommende Pornfilmfestival. Die Zeit fordert vom Theater Mut zu echter Brisanz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.10.2016 finden Sie hier

Kunst


Ruddy Roye, Activist, New York City Pride Parade, New York, NY, June 26, 2016. Bild: Ruddy Roye/Stephen Kasher Gallery

Hier fordert nichts Mitleid: Im Blog der New York Review of Books stellt Imani Perry die Serie "When Living Is a Protest" des 22-jährigen Fotografen Radcliffe "Ruddy" Roye vor, die schwarze Macht, schwarze Schönheit und schwarzen Protest feiert: "The word 'protest' suggests familiar tropes of civil rights-era photography: firehoses and dogs, marchers and signs. The contemporary scenes Roye chooses to photograph rarely resemble these conventions. The variation of his images captures community: his subjects are young and old, taut and infirm, in sharp and soft focus, solitary and in communion. There is an elderly woman with braces on her arms, aided by a younger man in the thickly swirling snow: vulnerable intimacy in the maelstrom."

Birgit Rieger schreibt im Tagesspiegel zur Eröffnung des neuen Kindl-Kunstzentrums in Berlin.

Besprochen werden Johannes Hailes im Deutschland der 60er Jahre entstandene Fotografien in der ifa-Galerie in Berlin (Tagesspiegel), Hanne van der Woudes Ausstellung im Fotografie Forum in Frankfurt (FR) und die Ausstellung "Friedrich Overbeck in Wien" im Ostholstein-Museum in Eutin (FAZ).
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Literatur

In der NZZ überlegen der Schriftsteller Raoul Schrott und der Pharmakologe Gerd Folkers im Gespräch, wie Naturwissenschaftler Künstlern heute noch ihre Arbeit erklären können. Fruchtbar ist dieser Dialog nicht nur für Künstler - "Mir steht aber immer das Beispiel des romantischen Dichters Samuel Coleridge vor Augen. Er ging regelmäßig zu den Abenden der Königlichen Geologischen Gesellschaft, um 'seinen Vorrat an Metaphern aufzustocken', wie er sagte. Wer würde das heute noch tun?", fragt Schrott. Sondern auch für die Wissenschaften, erklärt Folkers: "Aus der Begegnung der Chemiker mit dem Fotografen Hans Danuser zum Beispiel sind an der ETH Dissertationen hervorgegangen. Sie haben aus seinen nass entwickelten Fotografien mit Nanotechnologie das Silberkorn freigelegt und durch ein anderes Element im Periodensystem ersetzt. Es entstand ein völlig neues Bild. Die Massenware wurde zum Unikat."

"In der Türkei sind Romanautoren öffentliche Personen", erklärt die türkische Schriftstellerin Elif Shafak im Interview mit der Literarischen Welt. Da kann es gut passieren, dass man auf offener Straße für eine Romanfigur beschimpft wird: "Seit den späten osmanischen Zeiten sieht man Romanciers als öffentliche Figuren. Und es gibt die subtile Erwartung, dass Romanciers Männer sein sollten. Die Türkei ist ein patriarchalisches, sexistisches und homophobes Land. Und die Literaturwelt ist nicht anders. Wenn eine Frau etwas Herausforderndes sagt, kritisiert man sie in einer erniedrigenden Sprache."

In der FAZ rümpft der Literaturhistoriker Tilmann Lahme, der selbst gerade an einer Geschichte des S.Fischer Verlags schreibt, die Nase über Jan-Pieter Barbians kürzlich in der SZ veröffentlichte Darstellung der "Arisierung" des Verlags im "Dritten Reich": Nichts neues hier, "die Informationen, die Barbian präsentiert, sind allesamt bekannt."

Die taz gönnt sich zum Wochenende anlässlich der Buchmesse einen großen Literaturschwerpunkt: Dirk Knipphals blättert erst in der Literaturgeschichte nach, wie Schriftsteller ihren Schriftsteller-Werdegang in ihren Texten verarbeiten, um sich dann damit zu befassen, wie man heutzutage wirklich Schriftsteller wird und es nach Möglichkeit auch bleibt. Es ist in gewisser Weise einfacher geworden, meint er, weil man sich viel länger ausprobieren kann: "Früher muss ein unglaublicher Druck auf ihnen gelastet haben, als ob man durch sie in einen anderen Seinszustand gerät. Wer erfolgreich debütierte, für den ergaben alle vorangegangenen Selbstzweifel, alle Außenseitergefühle mit einem Mal einen Sinn: Man war eben Schriftsteller, Künstler und wurde dann von allen Menschen anders behandelt als zuvor. Und wer erfolglos debütierte, war gescheiterter Künstler. Die Heftigkeit, mit der man im Leben scheitert, hat vielleicht sowieso insgesamt abgenommen."

Außerdem: Felix Zimmermann fragt bei Suhrkamp nach, wie der Verlag an Elena Ferrantes großen Bestseller gekommen ist: Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte demnach wohl eine innige Liebesbekundung des Programmleiters Frank Wegner gespielt haben, denn "der Verlag hat nicht die höchste Summe geboten; offenbar stimmte der Ton des love letters." Stefanie Unsleber unterhält sich mit der Schriftstellerin Katja Lange-Müller über die Liebe, das Schreiben und Pausen. Annabelle Seubert unterhält sich mit Peter Stamm über dessen ersten Roman und die Schriftstellerei als Beruf. Klaus Raab, Jens Uthoff und Annabelle Seubert porträtieren Thomas Melle, Bernd Cailloux und Katja Köhler. Luise Strothmann besucht die "Schule des Schreibens" in Berlin.

Weiteres aus Frankfurt: In der NZZ notiert Joachim Güntner einen besorgniserregenden Trend: In Frankfurt, erklärt ihm eine Moderatorin, liefen "vermehrt übellaunige männliche Literaten herum, die es nicht für nötig hielten, ihrem Gegenüber mit Charme und guten Manieren zu begegnen". Für den Tagesspiegel besucht Gregor Dotzauer die Messeauftritte Irans, Ungarns und der Türkei. Vor Ort hat Iris Radisch für ZeitOnline ein Videointerview mit Bodo Kirchhoff geführt. Über solche von Medien ausgelobte Autorengespräche denkt in der taz Dirk Knipphals nach.

Weitere Artikel: Autor Frank Schulz blickt kurz vor seinem Sechzigsten in der Welt mit Beklommenheit auf seine "durchschnittliche deutsche Autorenexistenz". Peter Richter besucht für die SZ Don DeLillo. Die FAZ dokumentiert Reiner Stachs Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Breitbach-Preis für seine dreibändige Kafka-Biografie.

Besprochen werden unter anderem Raoul Schrotts Versepos "Erste Erde" (NZZ), Claire Vaye Watkins' Dystopie "Gold Ruhm Zitrus" (FR), Gerbrand Bakkers Tagebuch "Jasper und sein Knecht" (FR), Caroline Emckes Buch "Gegen den Hass" (NZZ) und Daniel Kehlmanns Erzählung "Du hättest gehen sollen" (Tagesspiegel, NZZ, FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf:


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Film


Szene aus "Théo et Hugo dans le même bateau". Von Olivier Ducastel & Jacques Martineau

Im Interview mit der Berliner Zeitung gibt Manuela Kay vom Kuratorium des Pornfilmfestivals, das kommende Woche in Berlin stattfindet, fröhlich Tipps für die unterschiedlichen Sexinteressen: "Die tollste schwule Sexszene, die ich seit Jahren gesehen habe, gibt es in 'Théo & Hugo', der auch auf der Berlinale lief - eine Orgie in einem Pariser Nachtclub. Heteros empfehle ich 'The Bitchhiker' über eine Motorradfahrerin, die sich in einer Garage ihren ölverschmierten Mechaniker klarmacht. Lesben sollten 'Enactone' nicht verpassen, eine Vampirgeschichte aus Berlin mit wunderbaren Darstellerinnen. Und mit 'Fuck them all' hat die bisher auf queere Fetischszenarien spezialisierte Starregisseurin Maria Beatty einen abendfüllenden Trans*porno inszeniert."

Besprochen werden der neue "Bridget Jones"-Film (Freitag) und Cecilia Verheydens "Hinter den Wolken" (Tagesspiegel).
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Musik

Für die taz spricht Diviam Hoffmann mit Carrie Brownstein von der Band Sleater-Kinney, die jetzt ein Buch über ihre Erfahrungen mit der Band veröffentlicht hat. Sarah Ulrich stellt in der taz den feministischen HipHop von Princess Nokia und Gnučči vor. Bei der Frankfurter Buchmesse ist Bruce Springsteen als Überraschungsgast aufgetaucht, berichten Gerrit Bartels (Tagesspiegel), Doris Akrap (taz) und Uwe Ebbinghaus (FAZ).

Besprochen werden Paul Simons Berliner Konzert (Berliner Zeitung, Tagesspiegel) und das neue Album von Lady Gaga (SZ).
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Architektur

Auch wenn in Aleppo noch die Waffen sprechen, finden im Hintergrund des Geschehens bereits einige Anstrengungen statt, um nach Ende der Auseinandersetzungen einen Wiederaufbau der historisch wichtigen Stadt zu gewährleisten, berichtet Sonja Zekri in der SZ. Eine zentrale Funktion nimmt dabei das "Syrian Heritage Archive Project" am Museum für Islamische Kunst in Berlin ein, das unter anderem "verblüffend präzise Aufnahmen" in eine Datenbank "einsortiert, Vorher-Nachher-Aufnahmen von zerstörten Gebäuden mit Räumen, Stockwerken, Fassaden, kostbares Rohmaterial für einen Wiederaufbau nach dem Krieg. Demnächst könnte neben der reinen Schadensbeschreibung eine kunsthistorische Beurteilung der Altstadt-Bauten hinzukommen, hofft Ballouz, auch, man glaubt es kaum, eine App, in die die Syrer ihre Fotos und Daten nur noch einspeisen müssen."
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Bühne

An der Volksbühne Berlin ist der zweite von René Polleschs auf drei Teile angelegter, mit einem unmemorierbaren Titel versehener Abschiedsinszenierung aufgeführt worden (hier der Zwischenbericht nach dem ersten Teil). Für Mounia Meiborg von der SZ fällt dieser zweite Teil gegenüber dem Einstand doch merklich ab: "Die besten Sätze hat man schon zwei Tage vorher gehört. Zu besichtigen sind große Bilder mit überdeutlicher Aussage. Zum süffigen 'Donauwalzer' vollführt Milan Peschel minutenlang ungelenke Hopser und schüttelt seinen schmächtigen Körper - eine Parodie auf das Tanztheater, das Chris Dercon unter anderem auf den Spielplan setzen will. ... Wuttke, Pütter und Peschel, die anfangs als ferngesteuerte Marionetten auftreten, kokettieren so ausdauernd mit der Sympathie des Publikums, dass es unsympathisch wird."

Irene Bazinger notiert in der FAZ kühl die "entschlossene Sinnverweigerung. Demgemäß wirft Martin Wuttke uns kühl die Schlussworte hin: 'Man stirbt irgendwann, das ist alles, und bis dahin ist die Frage, ob man ein einigermaßen geschmackvolles Theater gemacht hat.' Großer Jubel, das Publikum stimmte begeistert zu."

Wer momentan eine Oper inszeniert, in der das Meer vorkommt, und dabei keine Schlauchboote aufs Wasser setzt, setzt damit im Grunde schon ein Zeichen, stellt Volker Hagedorn in einem online nachgereichten Zeit-Artikel gallig fest: "Wer auf die tagesaktuell unsicheren Seiten unserer Welt verweist, befindet sich jedenfalls auf der sicheren Seite im Relevanz-Diskurs. ... Das Musiktheater läuft derzeit Gefahr, poetische Wege nicht recht ernst zu nehmen unter dem Druck der 'Relevanz', der hier und da schon an kulturpolitische Maßgaben im verblichenen Sozialismus erinnert. Und vielen Regisseuren, wenn sie uns denn schon dem Leiden der anderen aussetzen wollen, fehlt es an Mut zu echter, persönlicher Brisanz."
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