Efeu - Die Kulturrundschau

Kaum sichtbare Risse im Beton

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2016. Die NZZ blickt in Lissabon einem gigantischen, aber wunderschönen Haifisch ins Maul. Im Freitag fürchtet der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó, dass zu viel Tagesaktualität im Theater das System zementiert. Mit Bangen sieht die Welt neue Hoffnung für die alte Volksbühne aufkeimen. The Quietus lauscht in die Tiefen des deutschen Waldes und es schallt Ambient heraus. Dirty Laundry und Jugend ohne Film ergründen bei der Viennale die Morbidität des Films.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2016 finden Sie hier

Architektur


Und der Haifisch, der hat eine Cafeteria: Amanda Levetes MAAT in Lissabon. Foto: Al_a.

Schon seit einigen Jahren wächst Lissabon aus seiner malerischen Schwermut hinaus an den Atlantik, erst mit dem neu erschlossenen Gelände der Expo am Tejo, jetzt mit dem  Museu de Arte, Arquitetura e Tecnologia (MAAT), das am Atlantik, nahe dem Jerónimos-Kloster in Belem, in ein altes Industriemuseum zog. Roman Hollenstein ist in der NZZ hin und weg: "Gleichzeitig erweiterte die Londonerin Amanda Levete den aus dem Jahr 1908 stammenden, denkmalgeschützten Baukomplex um einen muschelartig aus den Fluten des Tejo ragenden Neubau, der zurzeit halb Lissabon in Atem hält. Zu Tausenden pilgern die Hauptstädter zum MAAT und nehmen das neue, Kunsthalle genannte Haus stolz in Besitz. Staunend spazieren sie über die Dachwölbung des sich wie ein Aussichtshügel aufbäumenden, mit weissen Kacheln verkleideten Gebäudes, das dem Tejo sein gigantisches Haifischmaul entgegenhält. Dessen Gebiss erweist sich als das Fensterband der noch nicht zugänglichen Cafeteria. Dieser Glaswand und dem schlauchartig ins Innere führenden Gang ist es zu verdanken, dass das organische Gebäude überhaupt als Architektur erkennbar ist."



Entwurf für das Museum der Moderne.

Dezeen kommt gar nicht aus seiner Begeisterung für die Kulturbauten von Herzog und de Meuron heraus. Kaum hat das Magazin die fertig gestellte Elbphilharmonie verkraftet, widmet es sich mit vielen Bildern und Links dem geplanten Museum der Moderne am Berliner Kulturforum.
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Bühne


Kórnel Mundruczós "Imitation of Life" in der Regie von Boris Nikitin am Berliner HAU

Für den Freitag spricht Agnes Szabo mit dem ungarischen Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó vom Budapester Proton Theatre, dessen "Imitation of Life" derzeit am Berliner HAU zu sehen ist. Unter anderem geht es in dem Gespräch um die Verpflichtung des Künstlers, sich mit Interventionen an der politischen Tagesaktualität zu orientieren. Mundruczó meldet Zweifel an: "Ich glaube, dass man damit das System sogar zementiert. Propagandistische Äußerungen von Künstlern schütten nur Wasser auf den Beton, auf das Fundament der Statue, gegen die wir kämpfen. Mich interessiert eher, wo wir die haarfeinen, kaum sichtbaren Risse im Beton finden, um dieses Fundament zu zersetzen. Solange man auf der Seite der Kunst steht, sollte man diese dünnen Risse suchen."

Mit der Linkspartei im neuen Berliner Senat sieht Hannah Lühmann in der Welt wieder Chancen für den Erhalt von Frank Castorfs Volksbühne in alter Form - und ist entsetzt: "Wenn Klaus Lederer jetzt Kulturstaatssekretär würde, wäre es denkbar, dass die Berufung Dercons nach Berlin zurückgenommen wird. Dass Frank Castorf noch bis 2019 bliebe. Das wäre eine Katastrophe."

Katrin Bettina Müller hat sich in der taz redlich gemüht, Stéphanie Di Giustos Biopic über die Tänzerin Loïe Fuller gut zu finden. Allein, es half nicht viel: Denn der Film "neigt zum Schwulst, schwelgt in Dekadenz und Fin de Siècle, in flüsternden Schatten, in verlassenen Schlössern und dämmernden Wiesen, über die Fullers Schülerinnen wie eine Schar antiker Mänaden wallen. Die Erzählung von der Befreiung aus den Korsetts der Kleidung, den disziplinierten Tanzformen vom Ballett, den Konventionen der Gesellschaft, sie ist zu Kitsch geworden."

Weiteres: In der Nachtkritik-Kolumne schreibt Wolfgang Behrens über die Fehlbarkeit des Kritiker und die Emanzipation des lesenden Publikums, das die Kritiken längst nicht mehr "als scharfrichterliches Urteil" auffasst.

Besprochen werden Frank Castorfs Stuttgarter Inszenierung von Charles Gounods "Faust" (die Tobias Gerber in der NZZ "fulminant geglückt" findet, Standard, SZ, online nachgereicht von der FAZ), Antú Romero Nunes' Inszenierung von "Richard III." am Hamburger Thalia-Theater (SZ, mehr dazu hier), Philipp Löhles Waffenhandelsstück "Feuerschlange" am Schauspiel Stuttgart (taz), die Ausstellung "Canova und der Tanz" im Bode-Museum Berlin (SZ) und eine halbszenische Aufführung von Samuel Barbers Oper "Vanessa" mit dem Deutschen Symphonieorchester in Berlin (FAZ).
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Literatur

Besprochen werden Ernst-Wilhelm Händlers "München" (ZeitOnline), Silke Scheuermanns "Wovon wir lebten" (FAZ) und Włodzimierz Odojewskis "Verdrehte Zeit" (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 


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Stichwörter: Händler, Ernst-Wilhelm

Film

Bei der Viennale hat sich Frank Arnold für den Standard mit Olivier Assayas über dessen neuen Film "Personal Shopper" unterhalten, in dem auch wieder Kristen Stewart mitspielt: "Amerikanische Schauspieler arbeiten gern in europäischen Filmen, weil ihr Raum im Hollywoodkino immer mehr schrumpft. Der Einfluss von Marketingabteilungen und Anwälten wird immer größer, die Schauspieler werden in Rollenkorsetts gezwängt, die es ihnen nicht erlauben, ihr Potenzial zu entfalten, während das europäische Kino ihnen das ermöglicht."Amerikanische Schauspieler arbeiten gern in europäischen Filmen, weil ihr Raum im Hollywoodkino immer mehr schrumpft. Der Einfluss von Marketingabteilungen und Anwälten wird immer größer, die Schauspieler werden in Rollenkorsetts gezwängt, die es ihnen nicht erlauben, ihr Potenzial zu entfalten, während das europäische Kino ihnen das ermöglicht. - derstandard.at/2000046614737/Oliver-Assayas-Koerpersprache-ist-essenzieller-Teil-meiner-Filme"

Bei der Viennale wurde auch eine alte, bereits etwas mitgenommene 35mm-Kopie von Jacques Rivettes Film "L'amour fou" gezeigt, was Patrick Holzapfel vom Blog Jugend ohne Film in tiefe Melancholie stürzte: "Vermehrt finden wir uns in Retrospektiven. Warum? Zum einen vielleicht, weil diese Filme seltener sind, weil sie dadurch frischer sind, weil es uns so vorkommt, als wäre es die einzige, die letzte Chance. Es gibt sicherlich etwas Auratisches an dieser Erfahrung. Wir haben das Gefühl, dass die Filme mit uns wirklich da sind, dass wir mit diesen Filmen da sind. Sie sind zu uns gekommen, wir zu ihnen. ...  Ich glaube wir gehen auch in diese Screenings, weil wir den Mumien der Leinwand gerne beim Sterben zusehen. Dem Kino, was wir noch gerade so erahnten, als es begann zu sterben."

Lukas Foerster ergänzt dazu bei aller Zustimmung in seinem eigenen Blog: "Andererseits würde ich sagen, dass 'wir' da etwas am analogen Kino entdecken, das immer schon zu ihm gehört hat, das nur früher nicht so sichtbar war, weil es die den Tod verleugnenden digitalen Bilder noch nicht als allgegenwärtigen Vergleich gab: die ihm inhärente Morbidität. Kino war immer schon Schwund, Verschleiß, hatte immer schon einen Hang zum Verrotten und Vermodern."

Weiteres: Manuel Schubert resümiert in der taz begeistert das (von Perlentaucher-Filmkritiker Jochen Werner co-kuratierte) Pornfilmfestival in Berlin, das mit seinen Schwerpunkten zu Themen wie "Sex im Alter", HIV und dem BRD-Softsexkino der siebziger Jahre so vielfältig war wie nie zuvor und dabei "eine unbändige Lust am Experimentieren mit den Genres und Formen" an den Tag legte. In der taz wirft Toby Ashraf einen Blick ins queere Programm des Berliner Festivals Afrikamera 2016.

Besprochen werden Natalie Portmanns Verfilmung von Amos Oz' Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" (SZ) und Simon Verhoevens Flüchtlingskomödie "Willkommen bei den Hartmanns" mit Eric Kabongo (Tagesspiegel).
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Kunst


Darf nicht fehlen: Diego Rivera, Río Juchitán, 1953-1955. Museo Nacional de Arte, INBA

Sehr viel mehr als eine Demonstration guten Willens ist die Ausstellung im Grand Palais in Paris über mexikanische Kunst aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts leider nicht geworden, ärgert sich in der FAZ Annabelle Hirsch - zwar seien die einzelnen Werke beileibe nicht uninteressant oder gar schlecht, doch insgesamt ergebe die Ausstellung lediglich einen Kessel Buntes, wo doch kuratorisches Raffinement gefragt gewesen wäre: "Es wird alles ein bisschen angerissen, aber nichts wirklich vertieft. Was umso bedauerlicher ist, als das Mexiko des beginnenden Jahrhunderts ein enorm spannender Ort ist ... Dieser lange Bilderfluss aber liest sich wie ein Wikipedia-Eintrag über mexikanische Kunst."

Weiteres: The Big Picture bringt die besten Globe-Bilder des vergangenen Monats.

Besprochen werden die Ausstellung "Animal Lovers" im NGBK in Berlin (Tagesspiegel), Günter Blutkes Bildband "Berlin City Ost" (taz), die Ausstellung "Spektakuläres Zweites Kaiserreich, 1852-1870" im Musée d'Orsay (Tagesspiegel) und die "erlesene" Ausstellung von Hans Baldung Griens Holzschnitten im Augustinermuseum in Freiburg (FAZ).
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Musik

Bei The Quietus feiert Krautrock-Experte David Stubbs das 20-jährige Bestehen von Wolfgang Voigts Trance-Ambient-Projekt Gas, das mit verfremdeten Wagner-Samples den deutschen Wald mit der Disco verkuppelt. Eine neue (aber flugs schon wieder ausverkaufte) Box hält Rückschau auf das Schaffen von Gas. "Auch wenn Voigt Krautrock nicht explizit als Einfluss nennt, besteht eine Verbindung zwischen Gas und den großen Experimentatoren der Siebziger. Bei beiden handelt es sich um raumgreifende, fruchtbare Klangbildner, die aus den Landschaften ihres Heimatlandes schöpfen. Voigt sprach sogar einmal davon, dass Gas sich im rhythmischen Einklang befindet mit der 'tiefen Seele des deutschen Techno.' Beide neigen zur instrumentellen, elektronischen Klangerzeugung, die Bilder zeichnet, zu Loops und Wiederholungen. Musik, die zwar von Oberflächen handelt, zugleich aber tiefere Bedeutungsschichten aufweist." In dieser Hörprobe verirren wir uns mit Voigt in den dunklen Hain:



Im Welt-Interview mit Michael Pilz räumt Graham "Suggs" McPherson nach vierzig Jahren das Missverständnis aus, dass Madness eine urbritische Band sei: "Madness ist eine Londoner Band, keine englische oder britische. London ist anders als der Rest des Landes. Für London ist der Brexit ein Schock. Sie werden es nicht glauben, aber auf dem Land leben Briten, die noch nie in  ihrem Leben einen Europäer, Afrikaner oder Araber zu Gesicht bekommen haben."

Besprochen werden der zweite Teil der Werkausgabe David Bowie, der die mittleren Siebziger abdeckt (SZ), das Debüt von Voodoo Jürgens (Zeit), neue Einspielungen von Schumanns Violinkonzert (Zeit), ein Konzert von Cecilia Bartoli (Tagesspiegel) und das Buch "Futur II" der Band Ja Panik (taz).

Und Nerdcore feiert die historische GEMA/Youtube-Einigung (hier anlässlich dessen Jens Balzer knapp dazu, wie Youtube auf die Popmusik rückwirkt) mit einem großen Blumenstrauß frischer Musikvideos, unter anderem von Messer:

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